Vor 125 Jahren: Deutschland besetzt Qingdao
Der Mord an zwei deutschen Missionaren am 1. November 1897 Süden der Provinz Shandong 山东 (der Provinz, in der auch die Jiaozhou-Bucht liegt) diente der deutschen Regierung und Kaiser Wilhelm II. dann als Vorwand, um den Hafen Qingdao 青岛 in der Jiaozhou-Bucht zu besetzen (Leutner 1997, 119).
Koloniales Deutsches Reklamesammelbild um 1900, das die Besetzung Qingdaos durch deutsche Marinetruppen zeigt. (Eine kritische Analyse und Einordnung dieses Sammelbildes findet sich hier.)
Am frühen Morgen des 14. Novembers ankerten drei Schiffe der kaiserlichen Marine – S.M.S. Cormoran, S.M.S. Kaiser und S.M.S Prinzeß Wilhelm. Daraufhin gingen die deutschen Soldaten an Land und marschierten zum Exerzierplatz des nahegelegenen chinesischen Forts, wo gerade eine Abteilung chinesischer Soldaten am Trainieren war. Da deutsche Truppen bereits in der Vergangenheit zu Besuchen bei Qingdao vorbeigeschaut hatten, schöpfte der befehlshabende chinesische General vor Ort Zhang Gaoyuan 章高元 (1843-1912) keinen Verdacht und stellte sogar Pferde zum Ausreiten der Deutschen in die Umgebung zur Verfügung. An Land gegangen überreichten die deutschen Soldaten General Zhang ein Ultimatum: Alle Soldaten mussten innerhalb von drei Stunden die Lager räumen. Gleichzeitig hatten die Deutschen die Telegraphenkabel gekappt, sodass Zhang keine Rücksprache mit seinen Vorgesetzten halten konnte. Daraufhin gab Zhang den Befehl, die Lager zu räumen und die chinesischen Soldaten zogen sich zurück – gegen Mittag waren die chinesischen Militäranlagen bei Qingdao ohne Blutvergießen von Deutschland besetzt worden (Leutner 1997, 124-128).
Angesichts der militärischen Übermacht der deutschen Flotte lenkte die chinesische Regierung ein und unterzeichnete im März 1898 einen Vertrag, der die Jiaozhou-Bucht mitsamt des Hafens Qingdao für 99 Jahre an Deutschland verpachtete (Leutner 1997, 164-168).
In Deutschland entspann sich im Februar 1898 nach der Besetzung Qingdaos im Reichstag eine heftige Debatte, in der beispielsweise August Bebel, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, das deutsche Vorgehen als Bruch der „Regeln der internationalen Politik“ geißelte. Dem deutschen Beispiel folgend, begannen dann auch Frankreich, Russland und Großbritannien in den darauffolgenden Jahren weitere koloniale Handelsposten in China zu besetzen.
Auch in China rief die Besetzung Qingdaos durch deutsche Truppen lautstarke Reaktionen hervor. Kritisiert wurden zum einen der befehlshabende General vor Ort, der Qingdao kampflos den deutschen Soldaten überlassen hatte, zum anderen wurde aber auch Deutschlands Vorgehen als unzivilisiert und barbarisch kritisiert. Der bekannte chinesische Intellektuelle Yan Fu 嚴復 (1854-1921) beispielsweise schrieb am 24. November 1897 in einem Zeitungsartikel:
„Was die Tatsache angeht, dass die Deutschen den Missionarsvorfall als Vorwand nehmen, um plötzlich die Bucht von Jiaozhou zu besetzen, so verhalten sie sich dabei nicht nur unserem China gegenüber unzivilisiert und barbarisch, sondern behandeln mit ihren unzivilisierten und barbarischen Aktionen auch sich selbst so. Unser China und Deutschland sind Länder, die einen Friedensvertrag miteinander abgeschlossen haben. Shandong ist ein Ort, an dem es Beamte gibt. Angenommen die Deutschen hätten nachdem die Missionare umgebracht worden waren, dies bei der Kreisregierung beklagt: Wenn die Kreisregierung nicht gehandelt hätte, hätten die Deutschen dem Generalgouverneur [von Shandong] Bescheid geben können. Wenn der Generalgouverneur nicht gehandelt hätte, hätten die Deutschen [ihre Beschwerde] an das Außenministerium übermitteln können. Wenn das Außenministerium ebenfalls nicht gehandelt hätte, dann [erst] hätten die Deutschen einen Brief aufsetzen können, um darin [die chinesische Seite] zu informieren: „Was man an Beamten schätzt, ist, dass sie das Leben und den Besitz der Bevölkerung beschützen. Wenn [die Beamten] nun nicht handeln, dann schützen sie dadurch die Bevölkerung nicht mehr. Und wir können nicht anders als mit militärischer Stärke die Bevölkerung selbst zu schützen.“ [Wenn die Deutschen so gehandelt hätten und die chinesische Seite nicht regiert hätte,] dann hätten die Deutschen sogar [rechtmäßig] ganz Shandong besetzen können! Doch zurzeit sind die Beamten noch dabei zu ermitteln und der Kaiserpalast hat gerade erst davon erfahren. Das Gespräch ist noch nicht beendet, da folgt bereits die Peitsche: Die Deutschen nehmen unsere strategischen Punkte ein, zerstören unsere Telegrafenmasten, bedrängen die Beamten, die unser Land verteidigen, vertreiben unsere [dort] stationierten Soldaten – genauso wie man sich einem Feindesland gegenüber verhält. Wo ist ihr Verhalten – sie stützen sich auf ihre Truppen und nutzen aus, dass wir unvorbereitet sind – anders als die Raubzüge von Seeräubern oder dem Dieb, der am helllichten Tage Silber stiehlt?
Obwohl die Deutschen dem „Allgemeinprinzip“ zuwiderhandeln und das „Allgemeinrecht“ ignorieren, tun sie dies bereitwillig und dafür gibt es auch einen Grund: Nach dem sino-japanischen Krieg von 1985 trat Deutschland in die Fußstapfen Russlands und Frankreichs. Doch weil die Ausbeute, die es von uns erhielt, nicht ausreichte, machten sich die zuschauenden [anderen Kolonialmächten] über Deutschland lustig. Daraufhin wurde aus Gier Demütigung und aus Demütigung wurde Wut. Deutschlands böswillige und gewalttätige Gedanken, waren wie ein Pfeil im gespannten Bogen, nur auf einen Anlass wartend. Gerade recht kam da der Zwischenfall, bei dem die Missionare getötet wurden. Ich schätze, dass der [deutsche] Kaiser und seine Minister sicherlich hocherfreut zu einander sagten: „Unsere Chance China etwas Land abzupressen ist gekommen. Die Zeit ist reif, die Zeit ist reif! Wir dürfen [diese Chance] nicht nochmal vergehen lassen.“ Daraufhin legten sie alle Gerechtigkeit beiseite, folgten plötzlich ihren unzivilisierten Gedanken und zeigten ihr barbarisches Antlitz. Angetrieben von der Profitgier, folgten die Deutschen dem Beispiel [der anderen Kolonialmächte], obwohl dies sehr unrechtmäßig ist. Früher haben wir in China die Fremden immer als Barbaren betrachtet, doch die Fremden akzeptierten dies nicht. Wie können sie nun, da sie sich in so einer Art und Weise verhalten, selber noch diesen schlechten Ruf loswerden?“
(Übersetzung: Jonas Schmid, 07.11.2022)
夫德人借端教案突踞膠澳此不待以野蠻生番之道待吾中國直以野蠻生番之舉動自待而已矣吾之與德有和約之國也山東有官治之地也假使爲德人者當教士遇害之後控之縣府縣府不理告之督撫督撫不理達之總署總署又不理則作一書以相告曰所貴乎官司者謂其能保民之身家財產也今不理是不有其民也而吾不得不挾兵力以自保其民矣則雖踞吾山東之全地可也今官吏方在緝捕 朝廷甫及聞知談笑未畢鞭楚相隨奪我要隘毀我電線逼我守土之官逐我駐防之兵儼然以敵國相待此不過恃其一時兵力乘我不備掩而襲之其與海盜行劫清晝攫金之子又何以異哉雖然德人之背公理蔑公法忍而爲此也其亦有故矣乙未遼東之役步俄法之後塵而得吾之利益未足旁觀者又從而訕笑之於是因貪成羞因羞成憤其陰鷙橫決之思若矢在弦待激而發幸有教士被害之事度其君臣必欣欣然作色相告曰此吾索酬中國之機會至矣時哉時哉不可復失遂置一切公道於不顧忽發野蠻之心思露生番之面目利之所在雖大不義而亦蹈之昔吾中國常以夷目外人而外人不受今若此則又何以自解於惡名耶
嚴復: 駁英太晤士報論德踞胶澳事. In: Guowen bao 國聞報 24.11.1897.
Quellen
Leutner, Mechthild, ed. 1997. “Musterkolonie Kiautschou”: Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914. Eine Quellensammlung. Berlin: Akad.-Verl.
Mühlhahn, Klaus. 2000. Herrschaft und Widerstand in der “Musterkolonie” Kiautschou: Interaktionen zwischen China und Deutschland 1897 – 1914. Studien zur internationalen Geschichte. München: R. Oldenbourg.