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Autor | Titel | Datum | Objektbeschreibung | Inhalt | Rechte | Einordnung |
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Autor*in: Patrick Wulf | Titel: Zwangsarbeit in Xinjiang - Europäische Unternehmen profitieren von der Unterdrückung der Uigur*innen | Entstehungsdatum & -ort: September 2020 | Objektbeschreibung: Factsheet | Thema/Bildinhalt: Baumwollindustrie in Xinjiang – Zwangsarbeit; Profite europäischer Unternehmen | Bildrechte: Südwind hat die Nutzung der Materialien gestattet. | Einordnung: Zur Einordnung der Inhalte des Materialtextes werden im Folgenden Informationen zur herausgebenden Organisation Südwind e.V. sowie zum Kernthema des Factsheets bereitgestellt: den Arbeitsbedingungen, denen Uigur*innen in- und außerhalb Xinjiangs unterliegen. Ferner wird das Maß an Zwang, das mit verschiedenen Formen der Arbeit verbunden ist, beurteilt. Ausgeweitet wird dies durch einen Blick auf die Frage der Verantwortung internationaler Unternehmen („Lieferkettengesetz“ in Deutschland) und schließlich eine Übersicht über Handlungsoptionen auf verschiedenen Ebenen (Staat, Unternehmen, Privatpersonen) geboten.
Über den Herausgeber des Materials:
Die deutsche Nichtregierungsorganisation Südwind e.V. (Herausgeber des Factsheet) arbeitet Spenden-finanziert sowie mit Hilfe staatlicher Fördermitteln daran, zu weltweiter wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit beizutragen (Selbstauskunft, Vereinswebseite https://www.suedwind-institut.de/verein.html). Auf der Grundlage von Studien und Factsheets, wie dem hier in M 4.5 verwendeten, möchte die Organisation „Instrumente und Handlungsmöglichkeiten für entwicklungspolitische Organisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Politik und Unternehmen“ entwickeln.
Arbeitsbedingungen in Xinjiang – zwei Perspektiven
Die chinesische Regierung hat ihre Sicht auf die Arbeitsbedingungen in Xinjiang in einem 2020 erschienenen Weißbuch festgehalten und reagiert auf internationale Vorwürfe mit dem immer gleichen Hinweis, es handele sich dabei um Lügen. In den Vordergrund gestellt werden vielmehr die Erfolge in der Armutsminderung. Laut Regierungsangaben sind in Xinjiang die Armutsraten auch in den vormals besonders betroffenen südlichen Regionen extrem gesunken. Beschäftigungsförderung im Rahmen von Transferprogrammen ist demgemäß eines der Kernelemente der Armutsminderung (Fang und Chen 09.04.2021; The State Council 2020). Das landesweit bereits seit den 1950er Jahren durchgeführte Programm für Provinzpartnerschaften (duikou zhiyuan 对口支援), das auch in Material M 4.5 erwähnt wird, umfasst für die Autonome Region Xinjiang Kooperationen mit 19 entwickelten Küstenprovinzen und -städten.
Der Austausch besteht konkret:
Der Erfolg bzw. Schwächen des Programms werden von chinesischen Wissenschaftler*innen diskutiert, so wird z.B. angemerkt, dass das für Bau- und Infrastrukturprojekte angeworbene Kapital nicht immer so genutzt wird, dass die lokale ethnische Kultur und Lebensgrundlagen Berücksichtigung finden. Bemängelt wird ferner, dass lokale Firmen nicht einbezogen werden und damit von den Investitionen auch nicht profitieren.
Basierend auf der Analyse von online eingesehenen wissenschaftlichen Arbeiten und Regierungswebseiten in China hat der für einen konservativen amerikanischen Thinktank als Senior Fellow in China Studies arbeitende deutsche Sozialanthropologe Adrian Zenz im März 2021 einen Bericht über Arbeitsbedingungen für Uigur*innen in- und außerhalb Xinjiangs erstellt, der Teile der Arbeiten anderer nicht-chinesischer Quellen (wie z.B. (Ruser u. a. 01.03.2020) aufgreift, zugleich aber darüber hinaus geht. Ein spezifischer Bericht über die für das Factsheet relevante Situation im Baumwollsektor erschien bereits Ende 2020 (A. Zenz 2020).
Diskutiert, aber oft nicht hinreichend voneinander unterschieden werden demnach verschiedene Formen von staatlich organisiertem Arbeitskräfteeinsatz. Innerhalb Xinjiangs erfolgen Verlagerungen von Insass*innen der sog. Umerziehungseinrichtungen in (oft nahegelegene) Fabriken während der Zeit der „Ausbildung“ und auch im Anschluss daran.
Dies geschieht seit etwa 2018 mit dem Ziel einer „gesellschaftlichen Resozialisierung“.
Ebenfalls innerhalb Xinjiangs werden Arbeitskräfte für Ernteeinsätze z.B. im Baumwollsektor entsendet sowie als Teil von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vom agrarischen Sektor in den tertiären Sektor abgeordnet, oft in ländliche Kleinbetriebe. Aus Xinjiang heraus erfolgen im Rahmen der oben beschriebenen Provinzpartnerschaften auf unterschiedlichen administrativen Ebenen (s. Material M 4.2 und Song u. a. 26.06.2019) Arbeitskräfte-Versendungen in andere Provinzen. Die Zielgruppen dieser letztgenannten Programme sind keine Insass*innen der „Trainingszentren“: Das Programm für Arbeitskräfte, die lokal keine Arbeit finden (rural surplus workers), besteht schon seit den frühen 2000er Jahren und schließt keine Inhaftierung in den nach 2018 entstandenen „Trainingszentren“ ein, wohl aber ggf. eine Ausbildung vor Abreise in regulären Berufsbildungszentren. Das Maß an Zwang im Sinne der Zwangsarbeit ist in diesen verschiedenen Programmtypen unterschiedlich stark ausgeprägt. Zur Beurteilung des Ausmaßes herangezogen werden können beispielsweise die Indikatoren für Zwangsarbeit des ILO-Übereinkommens 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO::P12100_ILO_CODE:C105. Allerdings muss insgesamt davon ausgegangen werden, dass die politischen Bedingungen die Möglichkeit zu einer „freien“ Entscheidung Betroffener für oder gegen die Teilnahme erheblich einschränken, wenn politisch missliebiges Verhalten zur „Umerziehung“ in „Trainingszentren“ führen kann. Parallel dazu gibt es auch Bestrebungen, die Zahl der in Xinjiang lebenden Han-Chines*innen noch weiter zu erhöhen, wofür Facharbeiter*innen aus Ostchina angeworben werden sollen. Zenz vermutet, basierend auf Publikationen von chinesischen Wissenschaftler*innen und Regierungsstellen, hinter diesen Bemühungen die Absicht, in uigurischen Siedlungsgebieten durch die erhöhte Anwesenheit von Han-Chines*innen die Dichte der Ansiedelung der uigurischen Bevölkerung zu reduzieren und damit die „soziale Stabilität“ in der Region zu verbessern (A. Zenz 2021, 10,11,15).
Produktionsbedingungen entlang der Lieferkette
Das Factsheet (Material M 4.6) untersucht die Bedingungen in der Baumwollindustrie. Durch Markennamen wie H&M, Adidas und Nike, die in die Kritik gerieten, ist davon auszugehen, dass dieser Sektor einen Lebensweltbezug für die Schüler*innen herstellt. Der Baumwollsektor in Xinjiang zeichnet sich durch einen nach wie vor hohen Einsatz von im Vergleich zu maschinellem Pflücken teurerer Handarbeit aus, wobei der Grad der Mechanisierung uneinheitlich ist: Im Süden, dem Hauptsiedlungsraum der Uigur*innen, ist er sehr niedrig, weil die Felder zu klein für den Einsatz großer Maschinen sind; auch ist nur der kleinere Anteil der Sorten, die genutzt werden, geeignet für mechanisches Pflücken. Während in der Vergangenheit jährlich eine große Zahl von für die Ernte angeworbenen Arbeitskräften aus anderen Provinzen für die Baumwollernte eingesetzt wurden, nahm deren Zahl zuletzt u.a. aufgrund des Lohngefälles sowie 2020 aufgrund der Coronakrise deutlich ab. Der Baumwollsektor ist angesichts dieser Ausgangslage besonders anfällig für ein Lohndumping, das zunehmend stark vor allem die in Xinjiang lebenden ethnischen Minderheiten betrifft, die via Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Armutsminderungsprogramme als Erntehelfer*innen herangezogen werden. (A. Zenz 2020, 3–5)
Die Textilindustrie ist aber – wie die mediale Diskussion z.B. um die Rolle der Volkswagen AG zeigt, vgl. Material M 3 – nicht der einzige Sektor, für den sich die Frage nach den Produktionsbedingungen in Xinjiang stellt. Auch der Technologiesektor und die Automobilbranche sowie die Lebensmittelbranche sind betroffen und dies wirft die Fragen nach der individuellen Verantwortung jedes/jeder Einzelnen als Konsument*in auf. Verschiedene Zählungen kommen auf unterschiedlich viele Unternehmen bzw. Produkte, die unter dem Verdacht stehen, unter nach internationalen Standards nicht akzeptablen Bedingungen unter Einbezug von uigurischen Arbeitskräften produziert worden zu sein. Die australische Forschungseinrichtung Australian Strategic Policy Institute ASPI beispielsweise verweist auf der Grundlage einer Befragung auf 82 international bekannte Marken, die besonders von verschiedenen Formen der vermuteten Zwangsarbeit in- und außerhalb Xinjiangs betroffen sind, darunter Apple, BMW, Gap, Huawei, Nike, Samsung, Sony und Volkswagen. (Ruser u. a. 01.03.2020; Batke und Ohlberg 19.02.2020)
Handlungsoptionen
Eine finale Beurteilung der tatsächlichen Situation entlang der Lieferkette wird erheblich erschwert, solange Inspektionen vor Ort eingeschränkt oder gar nicht möglich sind. Die Better Cotton Initiative BCI (Sitz: Genf; Mitglieder: viele große Unternehmen wie adidas, H&M, IKEA sowie Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam) beispielsweise sah sich 2020 nicht mehr in der Lage, die Produktionsbedingungen in Xinjiang zu evaluieren und Produkte aus der Region zu lizensieren. Wie politisch aufgeladen die Situation ist, zeigt allerdings, dass entsprechende Informationen über das Aussetzen der BCI-Aktivitäten in Xinjiang auf der Webseite des Unternehmens in der Folge unter Vermeidung der Erwähnung von Xinjiang ersetzt wurden durch Hinweise auf die Einrichtung einer Task Force zu Zwangsarbeit und menschenwürdige Arbeit: Task Force on Forced Labour and Decent Work - Better Cotton Initiative. (Abdulla 30.03.2020; Glover 21.05.2021)
Das Europäische Parlament hat Ende 2020 eine (von ihrem Charakter her nicht rechtsverbindliche) Entschließung verabschiedet, in der Zwangsarbeit einschließlich der Arbeitskräftetransferprogramme in Xinjiang problematisiert werden. (Europäisches Parlament 17.12.2020) Die USA haben in Xinjiang agierende Baumwoll- und Textilproduzenten 2020 und 2021 auf schwarze Listen gesetzt und damit den Handel mit diesen Unternehmen für US-Firmen unter Strafandrohung unterbunden. Ähnlich gingen 2021 parallel Großbritannien und Kanada vor. (Blinken 22.03.2021) Dem standen besonders zu Beginn der Sanktionen Konsument*innenproteste in China gegenüber, die sich in Internetdebatten und Protestaktionen vor Geschäften derjenigen Marken äußerten, die offiziell die Einhaltung der Sanktionen gelobt hatten. Nachfolgend wurde – neben Sanktionen gegenüber Einzelpersonen und Institutionen in der EU und in Deutschland – ein neues Gesetz erlassen, das diejenigen Firmen und Organisationen u.a. durch Konfiszierung von Eigentum in der VR China oder den Ausschluss vom Wirtschaftsleben in China sanktioniert, die amerikanische und europäische Sanktionen mitgestalten oder umsetzen. (Wurzel 25.03.2021; X. Liu und Chen 10.06.2021)
Auf rechtlicher Ebene hat die deutsche Regierung mit dem „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (am 25. Juni 2021 via Bundesrat gebilligt) ähnlich wie z.B. Frankreich im Jahr 2017 einen Ansatz gewählt, der nicht unumstritten ist. Zugleich ist das Gesetz aber ein erster Versuch, die Verantwortung von (zunächst mal nur großen) Unternehmen für die Achtung der Menschenrechte im Herstellungsprozess ihrer Produkte sowie Sanktionen bei Verstößen rechtlich festzulegen.
Einige der Herausforderungen, die für die Wirtschaft gesehen werden:
Hinsichtlich des Nutzens der Gesetzgebung wird hinterfragt, ob
(zusammengestallt nach (Franke 2021; Herzog 17.06.2021; Vapaux 17.06.2021, 5; 27 f.; Ankenbrand 13.01.2021, vgl. Material M3)
Verwendete Literatur
Eine gute und aktuelle Zusammenstellung (Stand: Sommer 2021) mit Einschätzungen zu den verschiedenen Berichten, die von A. Zenz im Kontext der Xinjiang-Politik der VR China erstellt wurden und die in dieser Einordnung herangezogen werden, enthält der Wikipedia-Artikel zu Adrian Zenz. („Adrian Zenz“ 14.07.2021) |