Mein Verdacht – ein Debattenbeitrag
Im Anschluss an eine Fortbildungssitzung der China-Schul-Akademie im Frühjahr 2022, in der es unter anderem auch um die Lage der Uighur*innen in Xinjiang ging, entwickelte sich eine Diskussion, wie dieses Thema im Schulunterricht behandelt werden sollte. Ein*e Teilnehmer*in hielt im Nachgang Gedanken zur Diskussion fest und stellte uns diese zur Veröffentlichung und zur Vertiefung der Debatte zur Verfügung. Im Folgenden ist der Debattenbeitrag vom Frühjahr 2022 in Gänze zu lesen.
Im Geschichtsunterricht ist es gängige Praxis, eine Thematik aus verschiedenen Perspektiven, anhand verschiedener Quellen oder Darstellungen zu beleuchten. An diesem Grundsatz soll auch nicht gerüttelt werden; die Schüler sollen auch weiterhin Sach- und Werturteile fällen. Wenn diese nun nicht immer unbedingt dem Stand der historischen Forschung entsprechen, dann nehmen wir das in Kauf, da die Bildung einer fundierten Meinung bereits an sich eine wichtige Kompetenz ist.
Seit Längerem habe ich allerdings einen Verdacht; die Diskussion im Anschluss an eine Fortbildung zum Thema der Uiguren in Xinjiang gab nun den Anlass, diesen Verdacht in Worte zu fassen.
Als Einstieg in den Unterricht wurden Artikelüberschriften aus westlichen und chinesischen Medien zum Thema der Uiguren in Xinjiang vorgeschlagen. Die Hinzunahme chinesischer Medien geschieht dabei „im Bemühen, die Perspektive zu weiten“. Weiterhin ist die Arbeit mit verschiedenen Quellen vorgesehen, die die Schüler in Bezug zueinander setzen. Anschließend entwickeln sie fußend auf diesen Quellen einen eigenen Standpunkt. Unter den Quellen finden sich neben westlichen Quellen allerdings auch ein Newsletter der chinesischen Botschaft, der die Lager in Xinjiang mit Terrorismusprävention zu rechtfertigen sucht.
An dieser Stelle war ich ins Grübeln geraten; mehr noch, als ich es vor dem 24. Februar dieses Jahres [2022] geraten wäre – dem Tag, an dem Russland die Ukraine angriff. Der Tag hat nämlich meinen eingangs erwähnten Verdacht verstärkt, hier kommt er nun: Was, wenn wir, die wir immer jeden Standpunkt anhören wollen und uns anschließend eine fundierte Meinung bilden wollen, uns von diesem Gedanken derart beseelen ließen, dass er unseren Blick verstellt hat? Die vielzitierten „russischen Sicherheitsinteressen“ mögen per se vielleicht ein valides Argument sein, doch büßt dies Argument seine Daseinsberechtigung in dem Moment ein, in dem es als vorgeschobenes Argument entlarvt wird; dann nämlich, wenn Putin seine wahren Ziele offenbart – die Wiederherstellung des russischen Imperiums. Wir hätten womöglich stärker benennen sollen, wer hier Täter ist. Stärker benennen und entzaubern sollen, was hier Desinformation ist, auch wenn wir uns nicht 100% sicher sind, ob Putin, um beim Ukraine-Beispiel zu bleiben, nicht vielleicht doch seine an der Grenze zur Ukraine massierten Truppen wieder abzieht. Vielleicht geht es ihm ja wirklich nur um „legitime Sicherheitsinteressen“ und um nichts weiter, vielleicht sind die USA ja doch wieder allzu anti-russisch, die Macht der Gewohnheit.
Ich konnte dies nicht völlig ausschließen, und ich habe dennoch Russland im Unterricht mit mehr Nachdruck als Schuldigen, als Täter, benannt, als in der Schule vielleicht angemessen gewesen wäre (ob ich wohl den Schülern meine Position ein wenig zu sehr aufgedrängt habe?); insgeheim war mein Verdacht vorher ja auch nur das: ein Verdacht. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber wenn uns nun nurmehr übrigbleibt, Lehren zu ziehen, dann doch aber bitte umso entschlossener.
Diesen Verdacht habe ich allerdings nicht zuerst bei Putin geschöpft, sondern beim Thema der Uiguren, das ich unterrichtet habe. Ich habe damals – im Fernunterricht – ein Propagandavideo der China Daily gezeigt („Two tales, one Xinjiang“) und die Schüler gefragt, was wohl die Message des Videos sei und warum ich sie das schauen lasse. Einige erkannten zielsicher, dass ich sie für die Gefahren chinesischer Propagandavideos sensibilisieren wolle. Ein nicht unerheblicher Teil aber ging der Propaganda auf den Leim, und das, wo ich zuvor im Laufe des Schuljahres oft genug gemahnt hatte, vor Fake News und Desinformation sollte man besser auf der Hut sein. Die Antworten waren sinngemäß: man solle nicht alles glauben, was man in den Medien liest (damit meinten sie alle, wohlgemerkt und gleichermaßen auch westliche Medien), man solle auch die andere Sichtweise verstehen, der Westen übe sich genauso in Propagandakampagnen wie alle anderen auch, etc. Vielleicht sind dies genuine Positionen der Schüler; vielleicht vertreten Schüler diese Positionen, weil sie nach Jahren des kritischen Gegenüberstellens gegensätzlicher Positionen in verschiedenen Unterrichtsfächern gleichsam eingelullt wurden und nun glauben, nicht zu stark für eine Seite Position zu beziehen sei das, was Lehrer hören wollen, sei das, was am wenigsten anecken und am reibungslosesten durch den Geschichts- oder Politikunterricht kommen lässt.
So wichtig ist diese Unterscheidung auch gar nicht. Denn: in jedem Falle hat es mich nachdenklich gemacht und meinen Verdacht aufkeimen lassen. In dem Moment, in dem verschiedene Positionen als gleichwertig verkauft werden oder zumindest den Schülern so erscheinen, beginnt das Problem.
An dieser Stelle rechne ich mit dem Einwand, dass im Unterricht natürlich eine entsprechende Aufarbeitung stattfindet, dass wir die Schüler doch nicht unangeleitet, ja schutzlos der chinesischen oder russischen Propaganda aussetzen, sondern dass wir Desinformation kritisch begleiten und widerlegen. Es ist doch immer besser, die Positionen jeder Partei zu kennen, nicht nur der eigenen, denn sonst kann ich mich kaum fundiert zu einem Thema äußern. Wenn ich einer Seite etwas vorwerfe – und im Falle des Ukrainekriegs oder Xinjiangs stehen bekanntermaßen durchaus nicht wenige Vorwürfe im Raum –, dann muss ich auch die Position der Gegenseite kennen. Auch dann, wenn sie nicht von Wert ist. Gerade dann.
Dieser Einwand wird immer Gültigkeit haben, ich kann ihn nicht entkräften oder gar widerlegen. Ich baue meine Argumentation auf die Sicht der Schüler auf Themen wie die genannten auf, oder genauer, ihre Sicht auf den Unterricht, der diese Themen behandelt.
Um noch genauer zu sein: Nicht aus der Sicht derjenigen Schüler, die Desinformation als solche erkennen, schaue ich darauf. Sondern aus der Sicht derjenigen Schüler, die den Unterricht vielleicht nicht mit demselben Interesse verfolgen wie ihre Mitschüler und am Ende womöglich gerade bei dem Teil nicht mehr so genau hinhören, bei dem darauf hingewiesen wird, dass eine bestimmte Position nicht haltbar ist.
Die rote Linie
Wer Hitlers Mein Kampf im Unterricht behandelt, der hat folgendes Ziel: Die Plumpheit und Unsinnigkeit der Argumentation entlarven, das Buch entzaubern. Das geschieht nicht als Teil des Unterrichts, sondern das ist der Unterricht. Hitlers Buch liegt hinter einer roten Linie, ab der es keine zwei Meinungen mehr gibt und auch verhindert werden muss, dass sich eine Schülermeinung bilden kann, die abweicht, denn hier ist die behandelte Thematik erstens zu heikel und zweitens zu aktuell; es ist hier also besonders wichtig, gewissen Ansichten entgegenzuwirken.
Der Vergleich ist mutig, ich wage ihn. Zwar sind Whitepapers der Kommunistischen Partei, eine Grußschrift des Botschafters und dergleichen nicht vom Flammenkreis umgeben, der dafür sorgt, dass sich Mein Kampf – trotz mittlerweile herausgegebener kommentierter Edition – nicht zu einer Quelle normalisieren lässt, die man für den Geschichtsunterricht heranziehen würde wie jede andere.
Im Falle der Uiguren hieße das: Chinesische Quellen, wenn auch kritisch begleitet, sollen nicht Teil der Stunde zum Thema Uiguren sein, sondern das Thema der Stunde muss „Die chinesische Desinformationskampagne zum Leid der Uiguren in Xinjiang“ lauten. Besagte Grußschrift des Botschafters soll dann auch nicht nur eine Quelle von mehreren sein, lediglich ein Aspekt (Klammer auf: von mehreren, gleichwertig anmutenden; Klammer zu) des Themas sein, der in ähnlicher Portionsgröße auf demselben Porzellan angerichtet daherkommt wie die Baidu-Review über den Garten der Xiangfei und auch diverse Artikel aus westlicher Feder. Mir drängt sich hier der Eindruck eines allzu unbekümmerten Gangs in den Bothsideism auf, bei dem die Quellenauswahl eine unheilvolle False Balance schafft.
Im Falle der Ukraine hieße das: Putins Scheinargumentation der angeblichen Naziregierung in Kiew, die entnazifiziert werden müsse, dem Absprechen einer „Tradition stabiler Staatlichkeit der Ukraine“ und dergleichen – ja, auch das Mantra der „legitimen Sicherheitsinteressen“ – dürfen nicht Teil einer Quellenauswahl sein, bei der andere Teile zum Beispiel die westliche Einschätzung zu Putins eigentlichem Ziel, der Wiederherstellung vergangener Größe und Glorie Russlands, sind. Es muss stattdessen „Die russische Desinformationskampagne und was Putin damit bezweckt“ das zentrale Thema der Stunde sein. Letztere Herangehensweise erscheint mir, seit Tatsachen geschaffen werden, immer sinnvoller; drum eingangs des Artikels der Bezug zum Ukrainekrieg. Mir wäre lieber, im Falle der Uiguren nicht zu warten, bis auch China eine Eskalationsstufe nach oben schaltet, und wir – die wir zuvor noch der Propaganda der Terrorismusprävention eine (viel zu große) Bühne bereitet haben, ohne jedoch jedes Lux und Lumen des Rampenlichts für die Demaskierung der Desinformation aufzuwenden – dann erst aufwachen und das Böse auch beim Namen nennen.
Kann diese, was es letztendlich ja bedeutet, beinahe manichäische Einteilung in diesseits und jenseits der Roten Linie dem Geschichtsunterricht angemessen sein? Übrigens ist auf universitärer Ebene unlängst ein Streit entbrannt, in dem sich auf der einen Seite die „Chinaversteher“ in der deutschen Sinologie dem Vorwurf ausgesetzt sehen, willig Selbstzensur zu üben, um nicht den Zugang zu China und somit den Zugang zur Basis all ihrer Arbeit zu verlieren. Dem gegenüber steht die Darstellung der als „Chinaversteher“ Verunglimpften, die beklagen, ein „moralische[s] Kreuzrittertum“ zwinge sie zu „moralische[m] Rigorismus“ mit dem Ergebnis einer blindmachenden Polarisierung, die die Sinologie erst wieder „seicht und letztendlich obsolet“ mache.
In diese Auseinandersetzung muss und möchte (und kann) ich als kleine Lehrkraft am Gymnasium glücklicherweise nicht eintreten. Für mich bietet der Blick auf diesen auf universitärer Ebene ausgetragenen Diskurs vor allem folgenden Denkanstoß: Ist nicht dies die geeignete Plattform für die Diskussion dieses Dilemmas? Reicht es nicht, wenn sich die Studierenden dort, auf universitärer Ebene, eine differenzierte Meinung zum Thema bilden?
Vor solcherlei Zwängen wie dem Zugang zur Basis unserer Arbeit ist der schulische Geschichtsunterricht dagegen befreit. Können wir daher vielleicht doch ein wenig mehr Mut zur vereinfachenden dichotomischen Einteilung zeigen? In derart aktuellen Themen stellt eine solche Einteilung für Schüler bis maximal 18 Jahre auch eine hilfreiche Orientierung dar, auch und gerade für schwächere Schüler. Dass der Unterricht ein wenig „seichter“ wird, ist da zweitranging. Die Schüler möchten gerne wissen, was denn jetzt vom Ukrainekrieg oder den Konzentrationslagern in Xinjiang zu halten ist.
Ich möchte abschließend darauf hinweisen, dass man Themen nicht leichtfertig jenseits der postulierten roten Linie platzieren sollte. Aber, erstens, mein Eindruck, dass bei brandaktuellen Themen an der Schule ein verstärkter Fokus darauf, die Schüler von bestimmten Sichtweisen tunlichst zu überzeugen und vor bestimmten anderen abzuschirmen, durchaus sinnvoll ist; und, zweitens, mein Verdacht, dass wir unseren verstellten Blick erkennen und den Auftrag des Geschichtsunterrichts ohnehin ein Stück weit neu kalibrieren müssen – nämlich russischen und chinesischen Desinformationskampagnen entgegenzuwirken –; diesen beiden bin ich wohl anheimgefallen.
Mehr Überzeugung wagen
Ich glaube daher schon, dass wir das Böse mehr beim Namen nennen sollten, dass wir darauf achten sollten, deren Positionen niemals so zu präsentieren, dass sie als Position von Wert und nicht als Position von Unwert aufgefasst werden könnte, dass wir bei manchen Themen – die nämlich, die wir, behutsam ausgewählt, hinter der Roten Linie verorten – erheblich mehr Überzeugungsarbeit leisten und nicht „nur“ bei der Meinungsbildung anleiten.
Einige Zeilen weiter oben äußerte ich den Gedanken, ob wir nicht den Auftrag des Geschichtsunterrichts ein Stück weit neu kalibrieren sollten. Diesen möchte ich hier noch einmal kurz aufgreifen und auch damit den Artikel beschließen. Angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Desinformationskampagnen seitens Russlands und Chinas muss auch der Geschichtsunterricht reagieren – auch eingedenk des im Leitfaden Demokratiebildung des baden-württembergischen Kultusministeriums auffindbaren Lageberichts zum Zustand der Demokratie in Deutschland, die durch Populismus und Desinformation „unter Druck“ stehe und „keine Ewigkeitsgarantie“ habe.
Desinformation heißt das Spiel, das dieser Tage gespielt wird, ob wir wollen oder nicht, und zwar mit uns als Spielball. Seit dem 24. Februar [2022] sind uns die Absichten der Akteure hinter diesem Spiel auch in aller Deutlichkeit aufgezeigt worden. Wir sollten daher auch mitspielen. Die Rolle des Geschichtsunterrichts in diesem Spiel könnte aus der bewussteren Annahme der Rolle des Gatekeepers bestehen, bei den hier genannten Themen könnte man beginnen. Damit wir uns nicht versehentlich zum Handlanger der Propagandaabteilungen der Regime dieser Welt machen. Deren Arbeit ist, für meinen Geschmack, ohnehin bereits gut genug.
Diesen Beitrag zitieren
Anonym. „Mein Verdacht – ein Debattenbeitrag“. China-Schul-Akademie, 02.11.2023. www.china-schul-akademie.de/mein-verdacht-ein-debattenbeitrag/.