Lohnkurven in Ost- und Südostasien im Vergleich, 1990-2022 – Weiterführende Informationen

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Urheber*in: Tweet/X.com-Post Susan Lund, Daten Haver Analytics nach The EconomistTitel: Global firms are eyeing Asian alternatives to Chinese manufacturingEntstehungsdatum: 2023Quelle: https://x.com/SusanLund_DC/status/1629156817019326465Einordnung: Die chinesische Wirtschaft galt lange als „Werkbank der Welt“ und entsprechend ist der Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auch im langfristigen internationalen Vergleich groß (Naughton 2018: 165-168). 2012 betrug der Anteil der Industrie am chinesischen BIP 45,42%, 2022 noch immer 39,92% (Statista 2024). Seit den 80er- und vor allem 90er-Jahren nutzten internationale Firmen das große Arbeitskräftepotential in der VR China, welches deutlich günstiger als in den Industriestaaten produzieren konnte. Die Produkte wurden anschließend auf die Weltmärkte exportiert. Die Grafik des Materials von Haver Analytics zeigt, dass die Arbeitskosten in der verarbeitenden Industrie von 1990 bis in die frühen 2000er-Jahre in der VR China zumindest im landesweiten Schnitt kompetitiv mit den südostasiatischen Staaten waren, welche sich wirtschaftlich und politisch in der ASEAN (engl.: Association of Southeast Asian Nations) zusammengeschlossen haben. Diese Aussage ist generell in allen Bereichen der chinesischen Volkswirtschaft gültig. Wenn man noch weiter bis zum Beginn der Öffnung der VR China nach außen im Jahr 1978 zurückgeht, so betrug das jährliche pro Kopf-Einkommen nur 3% eines Arbeiters in den USA (1.004 USD/Jahr), während 2010 bereits wie im Material ähnlichen Löhne wie in den Philippinen und Thailand und signifikant höhere als in Indien gezahlt wurden (5.487 USD/Jahr; Li et al. 2012).

Was die verarbeitende Industrie im Material im Speziellen angeht, so kippte die relative Parität zwischen der VR China und den ASEAN-Staaten jedoch in den 2010er-Jahren. Die Arbeitskosten in der VR China liegen inzwischen mehr als 3,5 mal höher. Im neuen Jahrtausend stiegen die Löhne in der VR China im Schnitt im zweistelligen Bereich pro Jahr, wenn zuletzt auch etwas langsamer (für einen Vergleich verschiedener Industrien siehe China Briefing 2023). In den küstennahen Provinzen, in denen der Großteil ausländischer Investitionen in der VR China getätigt wurden, ist die Lohnentwicklung im Allgemeinen noch dynamischer (Li et al. 2012: 62).

Gründe für den Lohnanstieg hat das Strukturwandelmodell von Lewis herausgearbeitet (Lewis 1954), dessen Anwendung auch für die VR China untersucht wurde (Rozelle et al. 2020). In der frühen Phase von Reform und Öffnung war das Arbeitskräftepotential in der VR China fast unbegrenzt. Viele ehemalige Bäuerinnen und Bauern strömten in die Städte und fanden erfolgreich Arbeit. Sie verdienten zwar besser als auf dem Land, aber die Löhne stiegen nur langsam an. Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre schrumpfte das (fast) unbegrenzte Arbeitskräfteangebot in China jedoch (verstärkt durch den Bevölkerungsrückgang durch die Ein-Kind-Politik) und die Löhne begannen stark zu steigen, da Arbeiter ihre neuen Verhandlungsmöglichkeiten für sich nutzten. Auch das Ausbildungsniveau der Bevölkerung (vor allem der Anteil der Studienabschlüsse) stieg an, sodass weniger Arbeiter zur Verfügung standen. Weiterhin trat 2008 ein neues Arbeitsvertragsgesetzes in Kraft, welches irreguläre Beschäftigung eindämmen sollte (Gallagher et al. 2015). Zwar konnte die VR China nach Standards der Welthandelsorganisation dadurch zu einem Land mit oberen mittleren Einkommen (2023: 4.466 und 13.845 USD jährliches Einkommen pro Kopf) aufsteigen, aber es wird ebenso deutlich: die industrielle Struktur musste beginnen sich weg von der lohnintensiven Produktion zu wandeln (siehe Folge-Materialien).

Weiter interessant zu beobachten sein wird die Reaktion multinationaler Konzerne (MNK) auf diese Lohnentwicklungen. In der britischen Zeitschrift Economist wurde 2023 der Begriff Altasia geprägt, gemeint ist eine alternative asiatische Zuliefererkette ohne die Volksrepublik China (The Economist 2023b). Diese Gruppe schließt weit entwickelte Volkswirtschaften wie Japan und Südkorea ebenso ein wie die o.g. lohnintensiven ASEAN-Staaten. Der Grafik ist zu entnehmen, dass das Arbeitskräftepotential in den Altasia-Staaten höher ist als in der VR China, die Zahl der Hochschulabsolventen leicht höher, die Lohnkosten reichen von weit niedriger bis weit höher und die Gesamt-Exporte von Altasia in die USA übertreffen die chinesischen ebenfalls bereits (ebd.). Welche Industriezweige sich möglicherweise verlagern wird eine relevante Frage sein; ebenso wie sich der chinesische Markt in der Bedeutung als Konsum-Absatzmarkt für MNK verändert.

Zwar ist die VR China mit knapp über 8 USD Stundenlohn (2022) in der Industrie noch wesentlich günstiger als beispielsweise Deutschland (41,60 USD/Stunde) oder die USA (40,23 USD/Stunde) (International Labour Organization 2024). Doch wird auch bereits die Frage gestellt, ob eine Produktion in der VR China nicht nur im Vergleich zu Südostasien, sondern auch im Vergleich zu den Heimatmärkten noch sinnvoll ist: „To be sure, a gap remains, but critically it is no longer sufficient to extend the production location trends of the past. Consider that American workers still boast higher rates of productivity than their Chinese counterparts, enough perhaps to erase the shrunken labor cost gap completely“ (Forbes 2023). Dies ist auch im Zuge des US-chinesischen Handelskonfliktes in Zukunft von Relevanz, aber auch vor dem Hintergrund technologischer Entwicklungen wie autonomer Fabriken, Robotik etc.

Sascha Zhivkov, 12.08.2024

Verwendete Literatur