Wie funktioniert taiwanesische Bürger*innenbeteiligung online? – Weiterführende Informationen

Link zum Material: https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-taiwan-m10-4

AutorTitelEntstehungsdatum und -ortObjektbeschreibungRechteEinordnung
Urheber*in: Roch, Stefan, Charlotte Freihse, und Bruno KaufmannTitel: „Shortcut 8 - Vorreiter digitaler Bürgerbeteiligung Taiwans Join platform und vTaiwan“ – Abbildung „Wie es funktioniert“Entstehungsdatum und -ort: September 2022Objektbeschreibung: GraphikRechte: Verwendung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Autor*innen

Einordnung: Das Material enthält zwei konkrete Beispiele für die in Taiwan geschaffenen Möglichkeiten politischer Online-Partizipation. Drei spezifische Ausformungen des Angebots (Join, gOv.tw und vTaiwan) werden hier im Folgenden näher vorgestellt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Herangehensweise abzubilden.

Join

Die Plattform Join 公共政策 網路 參與平臺 (wörtl.: Online-Partizipationsplattform für öffentliche Verwaltung und Politik (public policy)) wurde 2018 nach einem längeren parlamentarischen Beratungsprozess von der Regierung eingesetzt und bietet den Bürger*innen die Möglichkeit zur öffentlichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Regierungsebenen. Dazu ermöglicht sie die Teilhabe über eine Webanwendung. Eingerichtet wurde das Instrument vom Nationalen Entwicklungsrat, Guojia Fazhan Weiyuanhui 國家發展委員會 https://www.ndc.gov.tw/en/. (Deutsche Welle 28.07.2023) Die Plattform wird alle 10 Minuten automatisch aktualisiert. Auf Join können Bürger*innen in acht Interessensgebieten (lingyu 領域) bestehende Politiken diskutieren, sich über aktuelle Politikentwürfe informieren und diese „überwachen“ sowie neue Politiken durch Petitionen vorschlagen, die von Regierungsstellen beantwortet werden müssen, wenn sie von 5.000 oder mehr Personen unterstützt werden. Auch ermöglicht die Plattform, den Leitenden von Regierungsbehörden direkt Feedback zu geben. Bis Mitte 2022 wurden knapp 14.000 Diskussionsthemen eingereicht und 289 Vorschläge überschritten die Schwelle von 5.000 Unterstützenden, die eine Reaktion von Regierungsbehörden erforderlich macht. (Ho 2022, 7) Die Beteiligungszahlen für die Diskussionen sind vergleichsweise hoch: Knapp die Hälfte der Bevölkerung Taiwans war bereits auf der Onlineplattform aktiv. (Hierlemann und Roch 04.12.2020)

Der technische und zeitliche Ablauf des Verfahrens ist auf der folgenden Folie dokumentiert:

Eines der beiden in Material 10.5 verarbeiteten Beispiele einer Petition auf der Plattform Join steht exemplarisch Initiativen, bei denen die Beteiligungsrate nicht sehr hoch ist, trotz des politisch sehr relevanten Themas der Militärausgaben fanden sich nicht genügend Mitdiskutierende, die das Anliegen unterstützten. Das zweite Beispiel (Tierschutz) konnte hingegen ausreichend Beteiligte gewinnen. Während also einerseits davon auszugehen ist, dass die Verfahrensweise auf der Plattform -auch durch den Ausschluss online nicht versierter Bürger*innen noch nicht optimal ausgestaltet ist und nicht alle Bürger*innen bei allen Themen zur Teilhabe am politischen Prozess bewegt werden können, ermöglichen Plattform wie Join zugleich einen offenen, demokratischen und strukturierten Austausch über gesellschaftliche Anliegen. Gegenüber den im Folgenden beschriebenen zivilgesellschaftlichen Initiativen hat sich die Plattform Join aufgrund der institutionellen Verortung im Verantwortungsbereich des Staatsapparats in der Praxis als der verlässlichere Weg erwiesen, um tatsächlich Regierungsstellen zu erreichen (Horton 21.08.2018).

gOv.tw und vTaiwan

Die Gründung der Plattform gOv.tw wird von den beteiligten Entwicklern als eine direkte Folge des wachsenden Unmutes über intransparentes Regierungshandeln und intransparente Entscheidungsfindung im Parlament besonders im Kontext des 2010 von der VR China und Taiwan verabschiedeten Wirtschaftsabkommen ECFA dargestellt (Rahmenabkommen über Wirtschaftliche Zusammenarbeit 海峽兩岸經濟合作架構協議 engl.: Economic Cooperation Framework Agreement). (Bundeszentrale für politische Bildung 24.06.2020). Nach Einschätzung des Mitbegründers der Plattform, Kao Chia-Liang (高嘉良), fehlte bei der politischen Debatte über ein geplantes, das ECFA begleitendes Dienstleistungsabkommen 2012/2013 die Erörterung der konkreten Auswirkungen des Abkommens auf die Politik und Wirtschaft Taiwans. (Deutsche Welle 28.07.2023, ab 21:59 Reform und Öffnung der VR China und Sonnenblumenbewegung, ab 28:00-35:10 Kao Chia-Liang/g0v.org). Eine Gruppe von Hackern formierte sich als g0v, entwickelte eine interaktive Webseite zur Darstellung des Finanzaushaltes der Republik China (Taiwan), die auf Daten des staatlichen Statistikamtes beruhten und stellte während der öffentlichen Proteste der Sonnenblumenbewegung 2014 die Online-Infrastruktur für die Protestierenden zur Verfügung. (Ho 2022, 4; Thornton 15.05.2022, 5). Der Name der Bewegung, g0v, wird mit einer „Null“ geschrieben und steht für 零時政府“ (lingshi zhengfu), also „Regierung der Stunde Null“. Mit Hilfe der Webseite sollten nach dem open data- Prinzip alle einzelnen Haushaltsposten visualisiert werden (https://budget.g0v.tw/budget). Auf der g0v.tw-Seite werden seitdem die einzelnen Budgetposten in Kreisen dargestellt und wenn man diese auswählt, zeigen sich weitere Einzelheiten. Ein Feature ist z.B. das Farbschema, das den Zuwachs oder die Verringerung eines Budgetpostens angibt. Verschiedene Grün-Töne weisen auf einen Zuwachs hin, wobei ein starkes Grün einen Zuwachs von über 25 Prozent angibt, während ein Farbspektrum von Rosa bis Pink die Verringerung in gleichen Skalenschritten angibt. Die folgende Folie zeigt beispielhaft eine Darstellung zur Visualisierung des Regierungsbudgets:Für die Entwickler stand die Zugänglichkeit zu anschaulichen Informationen im Vordergrund, um Mitbürger*innen zu befähigen und zu animieren, aktiv an der politischen Debatte teilzunehmen. Die Webseite wird bis heute fortlaufend weiterentwickelt. Mittlerweile kann man die vergangenen Jahre darstellen und Entwicklungen über die einzelnen Haushaltsposten nicht nur synchron, sondern auch diachron vergleichen.

Die Community ist auch in anderen Bereichen aktiv. Die wachsende Gemeinschaft veranstaltet alle zwei Monate nationale „hackathons“ und entwickelte z.B. ein Creative Commons Lexikon (Moedict), mit dem ein in Teilen fehlerhaftes Lexikon des Bildungsministeriums verbessert werden konnte. Ebenso erfolgreich verliefen Bemühungen um eine größere Transparenz bei der Wahlkampffinanzierung. Während seit 2004 ein nationales Gesetz die Einsichtnahme in Kampagnenfinanzierung ermöglichte, war selbige auf eine vor-Ort-Einsicht im Kontroll-Yuan beschränkt. Wiederholte Kampagnen von g0v führten schließlich 2018 zu einer Gesetzesänderung, die seither eine digitale Präsentation und Sichtung der Finanzierungsmodalitäten von Wahlkampfkampagnen ermöglicht. (Ho 2022, 6,7)

vTaiwan.tw — 數位經濟法規線上諮詢 ist ein von g0v.taiwan entwickeltes Produkt und somit ebenfalls eine gemeinsame Anstrengung von Regierung und Zivilgesellschaft. (Kolding und Xu 2018, ab 2:03) Das Projekt wird auf der projekteigenen Webseite wie folgt vorgestellt: „vTaiwan wurde 2014 ins Leben gerufen und ist ein dezentraler, offener Konsultationsprozess, der Online- und Offline-Interaktionen kombiniert und Taiwans Bürger*innen und die Regierung zusammenbringt, um über nationale Themen zu beraten. Es dient als Modell für People-Public-Private Partnerships (PPPP) und bezieht Ministerien, gewählte Volksvertreter*innen, Wissenschaftler*innen, Expert*innen, Wirtschaftsführer*innen, Organisationen der Zivilgesellschaft und Bürger*innen in die Ausarbeitung digitaler Gesetze ein. Eines der vielen Instrumente, die vTaiwan einsetzt, ist Pol.is, eine digitale Plattform zur Meinungserhebung, die groß angelegte Debatten und Konsensbildung erleichtert. Dieses technische Instrument hat entscheidend dazu beigetragen, einen "groben Konsens" zu verschiedenen politischen Themen auf nationaler Ebene zu erzielen (…)“(„vTaiwan Project Page“ o. J.)

pol.is visualisiert Subthemen innerhalb einer Diskussion, um die herum sich ein Konsensus gebildet hat und erleichtert damit politischen Entscheidungsträger*innen die Analyse der öffentlichen Meinung. (Kolding und Xu 2018, ab 2:40) Um die Online-Debatten frei von Cyber-Mobbing zu halten, gibt es keine Möglichkeit zur unmittelbaren Reaktion/Kommentierung bereits veröffentlichter Einzelposts. (Horton 21.08.2018)

2020 waren 200.000 Personen über die Mailingliste des Projekts als mögliche Teilnehmende an den einzelnen Aktivitäten eingebunden. Unter den erfolgreichen Initiativen, die nahezu alle aus Themenfeldern mit Bezug zur digitalen Welt stammen, ist z.B. eine 2015 gestartete Initiative zur Regulierung des Marktzugangs des Taxiunternehmens UberX in Taiwan. Nach der Identifizierung von vier großen Interessensgruppen (Taxifahrer*innen, UberX-Fahrer*innen, UberX-Nutzer*innen und Nicht-Nutzer*innen) wurden deren jeweilige Einstellungen zur Lage erhoben. Gefordert wurden im Ergebnis eine bessere Regulierung der Aktivitäten von UberX und ein verbesserter Schutz für bereits vorhandene private und öffentliche Transportdienste. Etwa ein Jahr nach Beginn der Arbeit wurde eine neue Gesetzgebung erlassen, die die festgestellten Bedarfe unterschiedlicher Zielgruppen berücksichtigte. (Hsiao u. a. 04.07.2018, 3,4) Seit der Gründung wurden insgesamt 28 Initiativen gestartet, für das Jahr 2024 ist eine Auseinandersetzung mit KI-bezogenen Vorschriften vorgesehen, darunter die überarbeiteten "Richtlinien für den Exekutiv-Yuan und seine Behörden über die Verwendung von generativer KI" und das "KI-Grundgesetz" des Nationalen Wissenschafts- und Technologierats (NSTC). („vTaiwan Project Page“ o. J.) Zumindest partiell eingeschränkt bleibt die Wirksamkeit von vTaiwan durch die Tatsache, dass die erarbeiteten Vorschläge für den Gesetzgebungsprozess nicht bindend sind. (Horton 21.08.2018)

Josie-Marie Perkuhn, 15.12.2023.

Weiterführende Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung. 2020. Das ECFA-Abkommen zwischen Taiwan und China. bpb.de. 24. Juni. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/311995/das-ecfa-abkommen-zwischen-taiwan-und-china/ (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren
Deutsche Welle. 2023. Taiwan - Geschichten aus der digitalen Demokratie. https://www.dw.com/de/taiwan-geschichten-aus-der-digitalen-demokratie/video-66375711 (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren
Hierlemann, Dominik und Stefan Roch. 2020. *Digitale Demokratie*: Europa kann von *Taiwan* lernen. Fostering Innovation. 12. April. https://fosteringinnovation.de/digitale-demokratie-europa-kann-von-taiwan-lernen/ (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren

Enthält eine Übersicht „Wie es funktioniert“: vergleichende Übersicht von Petitionen auf Join bzw. dem Konsultationsverfahren über vTaiwan

Ho, Ming-sho. 2022. Exploring Worldwide Democratic Innovations - A case study of Taiwan. Zitieren
Horton, Chris. 2018. The simple but ingenious system Taiwan uses to crowdsource its laws. MIT Technology Review. 21. August. https://www.technologyreview.com/2018/08/21/240284/the-simple-but-ingenious-system-taiwan-uses-to-crowdsource-its-laws/ (zugegriffen: 1. Februar 2024). Zitieren
Hsiao, Yu-Tang, Shu-Yang Lin, Audrey Tang, Darshana Narayanan und Claudina Sarahe. 2018. vTaiwan: An Empirical Study of Open Consultation Process in Taiwan. https://osf.io/preprints/socarxiv/xyhft/ (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren
Kolding, Christian Svanes. 2018. Designing For Trust: vTaiwan and The Vanguards for Crowd-Sourced Democracy. https://vimeo.com/259324525 (zugegriffen: 1. Februar 2024). Zitieren

Die Kommentatorin im Film ist Christina Xu, Organisationsdesignerin und Ethnographin.

Roch, Stefan, Charlotte Freihse und Bruno Kaufmann. 2022. Shortcut 8 - Vorreiter digitaler Bürgerbeteiligung Taiwans Join platform und vTaiwan. September. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/demokratie-und-partizipation-in-europa/shortcut-archiv/shortcut-8-trailblazers-of-digital-participation-taiwans-join-platform-and-vtaiwan (zugegriffen: 31. Januar 2024). Zitieren
O A. vTaiwan project page. https://info.vtaiwan.tw/ (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren