Taiwans erste Digitalministerin im Interview – Weiterführende Informationen

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Urheber*in: Andreas CichowiczTitel: „Weltspiegel: Taiwans Digitalministerin Audrey Tang im Interview mit Andreas Cichowicz“Entstehungsdatum und -ort: 08.12.2019Objektbeschreibung: VideoBildrechte: Eingebettet gemäß https://www.daserste.de/embed/agb-embedding-100.html

Einordnung: Didaktischer Hinweis: Als Material bietet der komplette Filmbeitrag einen guten, knappen Überblick zu Taiwans politischem Weg der Digitalisierung und zur digitalen Demokratie. Je nach thematischer Einbindung bieten sich für den Unterricht als O-Ton die ersten 2 Minuten zur digitalen Demokratie (Ausschnitt als Material M10.3 bereitgestellt) sowie die Veränderung der Einstellung zu China in der jungen Generation ab Minute 10 an. In den ersten zwei Minuten gibt die Ministerin z.B. Auskunft zu:

1) Was ist eine Digitale Demokratie? - die ersten 30 Sekunden;

2) Worauf bezieht sich die neue Gesellschaft – auf Transparenz oder Partizipation? – ca. 00:30 - 01:13;

3) Wie wird Digitalität in autokratischen Systemen anders benutzt und wie kann durch Digitalität die liberale Demokratie (von Populismus) repariert werden? – ca. 01:13-2:45.

Weitere Abschnitte des Interviews thematisieren in der angegebenen Reihenfolge: politischen Humor, politischen Widerstand, Maßnahmen zur Vergrößerung der Transparenz, Recht auf Internet- bzw. Breitbandzugang, ihre Sicht auf die digitale Entwicklung in der Volksrepublik, Taiwan als bestes Beispiel dafür, dass der Mensch für eine digitale Demokratie bereit ist (ca. 07:45), Chinas Desinformationskampagnen, die junge Generation Taiwans (ca. 10:05), geändertes Selbstverständnis und Verhältnis zur Bedeutung „Mainland“, Situation in Hongkong, militärische Intervention und das Ein-China-Zwei-Systeme-Narrativ (ca. 14:10).

Zum Hintergrund:

Als Tsai Ing-wen 蔡英文(1956-)2016 als Kandidatin der Demokratischen Fortschrittspartei die Wahlen gewann und ihr Amt als Präsidentin antrat, ernannte sie Audrey Tang 唐鳳 (1981- ) zur ersten Digitalministerin des Landes. Die Transgender-Frau Audrey Tang arbeitete als freie Programmiererin und Software-Entwicklerin und trat bereits vor dem Amtsantritt als Ministerin als Bürgeraktivistin auf: Sie gehörte dem Gründerteam der Bürgerbeteiligungsplattform gOv.tw (s.u.) an. Zunächst wurde sie im Oktober 2016 Ministerin ohne eigenen Geschäftsbereich. Entsprechend der 2010 beschlossenen Reorganisation der Ministerien wurde dann aber das Ministerium für Digitale Angelegenheiten (Shuwei fazhan bu 數位發展部) als Exekutivorgan der Regierung eingesetzt und die Änderung im Dezember 2021 vom Legislativyuan verabschiedet. 2022 übernahm Audrey Tang dann das neu zusammengelegte Ministerium, das durch den Anschluss der Behörde für Cybersicherheit einen erweiterten Aufgabenbereich erhielt.

Präsidentin Tsai setzte mit diesen Änderungen auf die digitale Zukunft des Landes und leitete einen gezielten Einsatz digitaler Tools zur Verbesserung der politischen Beteiligung in die Wege. Es sollte verstärkt von transparenten und frei zugänglichen Anwendungen – also Open Source (kaifang yuanshi ma 開放原始碼) – gebraucht gemacht werden. Zu den neuen Wege zur Einbeziehung der öffentlichen Meinung in den Prozess der politischen Agenda-Setzung gehör(t)en die Organisation von nationalen wie internationalen Hackathons ebenso wie das Angebot für Bürger*innen, z.B. über die Plattformen g0v.tw (steht für „Regierung der Stunde Null“) und Join 公共政策網路參與平臺 (Online-Partizipationsplattform für öffentliche Verwaltung und Politik (public policy)) gesellschaftlich und politisch teilzunehmen.

In einem Interview, das im Dezember 2019 unter der Leitung von Andreas Cichowicz geführt und in der Fernsehsendung Weltspiegel (ARD) ausgestrahlt wurde, sprach die Digitalministerin über ihre Vision einer digitalen Demokratie. Sie betonte die neuen Möglichkeiten der Inklusion und setzte diese digitale Demokratieform dem Ansatz der Cyber-Souveränität der Volksrepublik gegenüber. Ihr zufolge „versucht die Volksrepublik China, eine neue Norm für den Cyberspace zu schaffen, wodurch dieser nicht länger ein Raum für freie Meinungsäußerung ist.“ (Cichowicz 08.12.2019, 6:45-7:06). Taiwans Regierung geht einen anderen Weg und schreibt vor dem Hintergrund der fortschreitenden Entwicklung der Volksrepublik hin zu einem autoritären Backlash die eigene Geschichte weiter. Das Ziel von Audrey Tang ist es, eine digitale, inklusive und transparente Demokratie zu gestalten. Allerdings versteht Tang Taiwan nicht als ein feststehendes Modell, das einfach kopiert werden kann. Sie sieht den Ansatz eher als Verkörperung der Idee, dass neue und bessere Ansätze, die gemeinschaftlich entwickelt wurden, fortlaufend alte, überholte Modelle ersetzen sollten, die ihren Zweck überdauert haben (Hierlemann und Roch 04.12.2020).

Die Entwicklung Taiwans zu einer digitalen Demokratie setzt ein deutliches Statement gegenüber der Regierung in Beijing, die politischen Ursprünge gehen aber auf soziale Bewegungen zurück, die nicht Top-Down initiiert waren, sondern von Teilen der Bevölkerung gestartet wurden, also Bottom-up (Thornton 15.05.2022, 5). Der steigende Unmut unter den Studierenden angesichts der Intransparenz der politischen Entscheidungsfindung im Parlament unter der Präsidentschaft von Ma Ying-jeou 馬英九, (*1950-, KMT, 2008-2016) führte 2012 zur Gründung der Plattform g0v.tw durch eine Gruppe von Aktivist*innen. Auch die damals noch als Aktivistin arbeitende Audrey Tang war von der Initiative begeistert und schloss sich ihr an. In Interviews zeigt Tang sich überzeugt davon, dass der Nutzen des Digitalen in einer Verkehrung des Informationsflusses liegt, Menschen erhalten Zugang zu Informationen und verschiedenen Meinungen, können aber gleichfalls ihre eigenen Positionen untereinander austauschen. Die digitale Demokratie sei anders als die analoge Demokratie, die auf den Austausch in kleinen Räumen beschränkt bleibe (Cichowicz 08.12.2019, 0:00 bis 01:09). Jenseits der beschränkten Möglichkeiten einer Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen erhofft sich Audrey Tang durch eine breite Beteiligung von Bürger*innen in Form von digital vorgebrachten und ausgewerteten Meinungsäußerungen eine Verbesserung von sachorientierten Entscheidungen in der Politik und ein umfassenderes Abbild demokratischer Willensbekundung. Mit den digitalen Möglichkeiten der Bürger*innenbeteiligung könnte damit langfristig auch die repräsentative Demokratie zugunsten einer digitalen oder „liquid democracy“ abgelöst werden.

Marie-Josie Perkuhn, 15.02.2023.

Weiterführende Literatur

Cichowicz, Andreas. 2019. Weltspiegel: Taiwans Digitalministerin Audrey Tang im Interview mit Andreas Cichowicz | ARD Mediathek. 12. August. https://www.ardmediathek.de/video/weltspiegel/taiwans-digitalministerin-audrey-tang-im-interview-mit-andreas-cichowicz/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3dlbHRzcGllZ2VsLzVlZWNlNTk3LTAwMDUtNDkyYS04NzIxLTg1ZjViMjYxNmZjZA (zugegriffen: 26. Oktober 2023). Zitieren
Hierlemann, Dominik und Stefan Roch. 2020. *Digitale Demokratie*: Europa kann von *Taiwan* lernen. Fostering Innovation. 12. April. https://fosteringinnovation.de/digitale-demokratie-europa-kann-von-taiwan-lernen/ (zugegriffen: 30. Oktober 2023). Zitieren

Enthält eine Übersicht „Wie es funktioniert“: vergleichende Übersicht von Petitionen auf Join bzw. dem Konsultationsverfahren über vTaiwan