„Fragen zum Nachdenken für Vierzehnjährige“– Antworten aus dem Buch „Am Fuße des Kavulungan: eine philosophische Reise“ – Weiterführende Informationen

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AutorTitelEntstehungsdatum und -ortObjektbeschreibungRechteEinordnung
Urheber*in: Lung Ying-tai Titel: Am Fuße des Kavulungan – Eine philosophische Reise; Abschnitte 32, 33 (Auszüge)Entstehungsdatum und -ort: Dt. Übersetzung 2023Objektbeschreibung: TextRechte: Abdruck der Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Drachenhaus VerlagsEinordnung:

Zur Aufgabenstellung:

Die Aufgabenstellung beinhaltet die Vorgabe, dass die Schüler*innen eine Schriftstelleridentität annehmen. Den Schüler*innen soll deutlich werden, dass als Ausgangspunkt hier ein Fragebogen in einem Roman, keine tatsächlich durchgeführte Umfrage unter 14-jährigen Taiwanes*innen zugrunde liegt. Zudem soll der Blick von möglichen eigenen Antworten hingewendet werden zu allgemeineren Antworten („deutsche Schüler*innen“). Wenn diese Aufgabenstellung zu komplex erscheint, könnte die Aufgabenstellung auch lauten: Beantworten Sie die im Roman-Fragebogen enthaltenen Fragen aus Ihrer eigenen Perspektive. Diskutieren Sie Ihre Antworten in der Gruppe.

Über die Autorin:

Lung Ying-tai (Pinyin Long Yingtai 龍應台) wurde 1956 auf Taiwan als Kind von Eltern geboren, die mit der Kuomintang vom Festland nach Taiwan geflüchtet waren. Ein älterer Bruder blieb auf dem Festland und ein erstes Wiedersehen war erst nach mehr als drei Jahrzehnten möglich. Während viele andere Festland-Flüchtlinge unter sich lebten, wuchs Lung in Dörfern in Zentral- und Südtaiwan auf, deren Bewohner*innen Taiwanisch (福建話, Fujian-Dialekt) und also nicht Hochchinesisch wie sie selbst sprachen. Ihr von den Eltern geförderter Bildungsweg mündete in einem Promotionsaufenthalt an der Kansas State University (Promotion in amerikanischer Literatur) und späterer Arbeit als Hochschullehrerin in Hongkong, Heidelberg und Taiwan. Von 1999 bis 2014 arbeitete sie zunächst als Leiterin des Kulturbüros in Taipeh und später als Taiwans erste Kulturministerin (2012 – 2014) im von ihr neu aufgebauten Kultusministerium. Parallel zu Ausbildung und ersten beruflichen Schritten verfasste sie zahlreiche literarische Werke, von denen vor allem die frühe Essaysammlung „The Wild Fire Collection“ (Wildes Feuer -Sammlung, Yehuo ji 野火集), erschienen 1985 während der heißen Phase des Demokratisierungsprozesses, mit ihrer politisch zu dieser Zeit sehr mutigen Gesellschaftskritik über die Grenzen Taiwans hinaus bekannt wurde. „Big River, Big Sea: Untold Stories of 1949“ (Großer Fluß, Großes Meer, Dajiang dahai yijiusijiu 大江大海一九四九) wurde 2009 im Jahr des 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China veröffentlicht. Kurz nach dem Erscheinen dieses Titels in Taiwan und Hongkong verbannte die VR China Lungs Werke.

Fokussiert auf den Nordosten der VR China und die Fluchtbewegungen in Richtung Taiwan wendet sich das Buch „Big River, Big Sea“ dem Leid derjenigen zu, die vor und nach dem Sieg der Kommunistischen Partei im chinesischen Bürgerkrieg zu Opfern der Umwälzungen wurden, die der Machtwechsel mit sich brachte.

Als politische Figur ist Lung in Taiwan und international bis heute nicht unumstritten. So wurde ihr aus der VR China nach ihren Äußerungen zu den Protesten in Hongkong 2019 vorgeworfen, die Gewalttätigkeit der Protestierenden zu ignorieren. Ihre Plädoyers für eine friedliche Lösung des Konflikts in der Taiwan-Straße hingegen verärgern Fürsprecher der Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan, die eine klare Opposition gegenüber der Kommunistischen Partei und eine Verurteilung der Drohgebärden der Regierung in Beijing fordern. Bei rezenten Lesungen der 2023 ins Deutsche übersetzten Fassung ihres 2020 auf Chinesisch erschienenen Buches „Am Fuße des Kavulungan“ präsentierte die Autorin zuletzt zahlreiche Bilder und Erlebnisberichte, die ihr eigenes Erleben neben das der im Buch beschriebenen Schriftstellerin stellen. (CATS - Centre for Asian and Transcultural Studies 30.10.2023)

Über das Buch „Am Fuße des Kavulungan – Eine philosophische Reise“ (Dawushan xia 大武山下)

Die Ich-Erzählerin, eine erfolglose Schriftstellerin, wird von ihrem buddhistischen Meister für zwei Jahre an den Fuß des Berges Kavulungan (chin. Name Dawushan 大武山, 3.092 m) in das noch dörflich geprägte Südtaiwan geschickt, um dort zur Ruhe zu kommen und inneren Frieden zu finden. Das Buch folgt der Ich-Erzählerin auf ihren Erkundungswegen durch ihr Wohnhaus, das Dorf und die nähere Umgebung des Berges. Beschrieben wird der Alltag der „Exil“-Schriftstellerin ebenso wie der der Dorfbewohner*innen. Dabei werden Taiwans Natur, Geschichte und lokale Traditionen (vor allem religiöse und spirituelle Praktiken) in philosophisch reflektierender Sprache präsentiert. Das Buch portraitiert das Nebeneinander- bzw. Zusammenleben der verschiedenen Ethnien in der Region, zu denen mehrheitlich Min, Hakka und Paiwan zählen – der Name Kavulungan für den Berg, titelgebend für die deutsche Ausgabe, entstammt der Sprache der in der Region siedelnden, indigenen Paiwan. Ein weiterer Erzählstrang wendet sich einem vierzehnjährigen Mädchen zu, das die Ich-Erzählerin im Dorf trifft – eine Geistererscheinung, die nur sie sehen kann und die mit ihr über philosophische Fragen (den Sinn des Lebens, das Wesen der Zeit etc.) diskutiert. Die Figur des Geistermädchens übernimmt eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Zeitebenen, die die Autorin Lung im Buch miteinander verwebt. So berichtet das Geistermädchen etwa von einem Massaker der niederländischen Kolonisatoren an der indigenen Bevölkerung, das sie im Jahr 1636 „miterlebt“ hat. Zugleich ist sie Opfer eines ungeklärten Mordes, der in den 1960er Jahren geschah – im Buch wie auch in Realität, die Autorin hat hier einen echten Mordfall aufgegriffen. 

Lung Ying-tai selbst charakterisiert das Buch als eine „Geschichte über die Suche“, was sowohl die Suche der Ich-Erzählerin wie auch Suche des wandelnden Geistes nach innerer Ruhe umfasst. Gerichtet ist es explizit auch an Jugendliche. Lung verbindet das Motiv des philosophierenden Mädchens mit einer Botschaft an v.a. aus dem chinesischsprachigen Raum stammende, von patriarchalen Strukturen stark geprägte Erwachsene, den Intellekt von Jugendlichen nicht zu unterschätzen.

Obwohl nur an einer einzigen, kurzen Stelle der Konflikt zwischen Taiwan und der VR China thematisiert wird, empfindet die Autorin Lung das Buch trotzdem als politisch relevant, weil ihrer Ansicht nach die Menschen heute oft zu weit weg von der Natur leben und auch Kinder entfremdet von der Natur aufwachsen, was dann zu mangelnder Motivation führt, sich für den Klimaschutz einzusetzen. In diesem Sinne ist Lungs „nature writing“, das die Übersetzerin für die deutsche Leserschaft niedrigschwellig und unter Verzicht auf die wissenschaftlich exakten Bezeichnungen von Pflanzen und Tieren übersetzt hat, politisch motiviert, rückt aber eben Mensch und Natur eher als den aktuellen Konflikt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Lesers. Zugleich stellt sich Lung mit dem Roman (und seinem Entstehungsprozess) aber auch in die Tradition chinesischer Intellektueller, für die es neben der Schriftstellerei stets mehrere mögliche Positionen bzw. Funktionen einzunehmen gab: dem Land/Herrscher als Beamter (Kulturminister) chenshi 臣仕 / guan zu dienen; Kritik am Herrscher direkt, von außerhalb der Bürokratie oder von innen, als offizieller Zensor zu üben (der dann Gefahr lief, seinen Job zu verlieren, und so zum "reinen Beamten" qingguan 清官 wurde) oder, drittens, die eines Kritikers aus der Ferne  - nur scheinbar "schweigsamer Einzelgänger", dem die Missbräuche der Macht so zuwider sind, dass er nicht mehr bereit ist, "mit dem Schwanz im menschlichen Dreck zu wedeln", eine Metapher von Zhuangzi, dem chinesischen Philosophen, der um das 4. Jahrhundert v. Chr. lebte, aber in weiten Teilen des Buches von Lung Ying-tai noch lebendig ist. (Lung und Li 27.04.2023; 27.04.2023b; CATS - Centre for Asian and Transcultural Studies 2022)

Die deutsche Ausgabe des Romans enthält am Ende eine hilfreiches Kurzglossar. Die Übersetzerin, Monika Li, hat in Heidelberg Germanistik und Sinologie studiert und sich auf die Übersetzung taiwanesischer Literatur spezialisiert. Zu den Schimpfwörtern und deren Übersetzung erläutert sie: „Da auch im Deutschen das englische Schimpfwort „Bitch“ mittlerweile geläufig ist, habe ich mich entschieden, den Ausdruck nicht komplett einzudeutschen, insbesondere deswegen, weil „Bitch“ auch eine positive, stolze Konnotation haben kann. So auch der Ausdruck Greentea Bitch, wie eine Band aus Hong Kong heißt (siehe https://www.youtube.com/watch?v=lGAonWPCk8U). Frau Li verweist ferner darauf, dass die Grüntee-Bitch es als Internet-Slangwort bereits zu einem eigenen Chinesisch-sprachigen Wikipedia-Eintrag geschafft hat. Den Ausdruck 渣男 (zhanan, wörtl. übersetzt etwa männlicher Bodensatz, gemeint ist Mistkerl) übersetzte Frau Li mit „Wichser“, weil Mistkerl oder Dreckskerl zu sanft geklungen hätte (persönl. Austausch, Dezember 2023).

[Stefanie Elbern], [18.12.2023]

Weiterführende Literatur

Dieckmann, Cornelius. 2023. Lung Ying-Tais Roman „Am Fuße des Kavulungan“: Was ich 1636 in Taiwan sah. Der Tagesspiegel Online, 16. Juni. https://www.tagesspiegel.de/kultur/lung-ying-tais-roman-am-fusse-des-kavulungan-was-ich-1636-in-taiwan-sah-9779930.html (zugegriffen: 17. November 2023). Zitieren

In der Aufnahme berichtet Long Yingtai (in englischer Sprache) von ihrer Jugend als Kind einer vom Festland geflohenen Familie in Taiwan, die geprägt war vom Sonderstatus als “Zugezogene” (in ihren eigenen Worten: “Diaspora”), ohne soziales Netzwerk und mit Bildung als einziger Chance für den sozialen Aufstieg. Dies bildet den Hintergrund für ihre Ausführungen zur Entstehungsphase des Buches Big River, Big Sea und die anschließende Lesung von Ausschnitten aus daraus.  

JAPAN CONNECT. 2023. Lesemonat Mai I 7 tolle Bücher und 1 Flop (viel Taiwan; Indien, Vietnam, China, Frankreich). https://www.youtube.com/watch?v=BIXuFaq7zws (zugegriffen: 20. Dezember 2023). Zitieren

Das Video von Fabienne Uji-Hofer erhält ab Minute 49:06 eine Rezension des Buches Am Fuße des Kavulungan - eine philosophische Reise von Lung Ying-tai. Die Rezension fällt eher negativ aus, wobei die Autorin innerhalb ihrer Kritik eine diskussionswürdige Meinung darüber zum Ausdruck bringt, wie Literatur zu sein hat. Ein wesentlicher Punkt der Kritik bezieht sich nämlich auf die Han-zentristische Haltung der Autorin gegenüber den taiwanesischen Ureinwohner*innen, die die Renzensentin aus den Beschreibungen des Buches ableitet - die Rezensentin hingegen hätte sich als Ansatz des Buches gewünscht, dass im Roman ein anderes Bild von der indigenen Bevölkerung gezeichnet wird und gezeigt wird, dass ein harmonisches Miteinander der Ethnien möglich ist: “Literatur und Realität sind nicht ganz das selbe und wenn man die 1:1 übernimmt, dann gräbt man da eine Kerbe ein. Man hat in der Literatur die Möglichkeit, Leute zu sensibilisieren, um zu helfen, damit sich unsere Realität dann wandeln wird und das hätte ich mir von der Autorin gewünscht.”

Nichtsdestotrotz enthält die Rezension diskussionswürdige Punkte und die Frage, wie Minderheitenangehörige im Buch beschrieben werden, kann mit Schüler*innen, die das ganze Buch gelesen haben, diskutiert werden.

Li, Xuetao, Hrsg. 2021. Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache. De Gruyter. doi:10.1515/9783598441370, https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783598441370/html (zugegriffen: 14. Dezember 2023). Zitieren

Auf S. 404 und 405 findet sich eine kurze Liste mit deutschen Übersetzungen u.a. von Long Yingtais Essays.

Lung, Ying-tai. 2023. Am Fuße des Kavulungan - Eine philosophische Reise. Übers. von Monika Li. Literatur. Esslingen: Drachenhaus Verlag. Zitieren
Titel auf der Titelseite: Am Fusse des Kavulungan
Lung Ying-tai und Li Monika. 2023. Literatur über Taiwan: Am Fuße des Kavulungan (I) - Rti Interviewt von Romig Tatjana. 27. April. https://de.rti.org.tw/radio/programMessagePlayer/programId/2014/id/106956 (zugegriffen: 17. November 2023). Zitieren
Lung Ying-tai und Li Monika. 2023. Literatur über Taiwan: Am Fuße des Kavulungan (II) - Rti Interviewt von Romig Tatjana. 27. April. https://de.rti.org.tw/radio/programMessagePlayer/programId/2014/id/106990 (zugegriffen: 17. November 2023). Zitieren
O A. 2023. 绿茶婊. In: 維基百科,自由的百科全書. Wikipedia, the free encyclopedia. 12. Juni. https://zh.wikipedia.org/w/index.php?title=%E7%BB%BF%E8%8C%B6%E5%A9%8A&oldid=80019651 (zugegriffen: 20. Dezember 2023). Zitieren