Beschränkung des Markts durch staatliche Planung: die „Vogel-Käfig-Ökonomie“ (1982) – Weiterführende Informationen

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Urheber*in: Chen Yun 陈云Titel: Einige Probleme bei der Realisierung der vom 12. Nationalkongress der Kommunistischen Partei festgelegten strategischen Ziele (02.12.1982) 在中国共产党全国代表会议上的讲话(一九八五年九月二十三日Entstehungsdatum und -ort: 02.12.1982, PekingObjektbeschreibung: TextÜbersetzung: Thilo ScheidtRechte der Übersetzung: CC BY-SA 4.0

Einordnung: 1982 befand sich die Volksrepublik China (VR China) in der ersten Phase der Reform- und Öffnungspolitik. Nach dem Tod von Mao Zedong 毛泽东 (1893-1976) und dem anschließenden Sturz der „Viererbande“ 1976 leitete ab Ende 1978 die nun de facto von Deng Xiaoping 邓小平 (1904-1997) geführte Regierung erste Reformen zur Liberalisierung von Wirtschaft und Politik ein. In dieser Phase stand nach den durch ideologische Kampagnen geprägten Machtkämpfen der Kulturrevolution die wirtschaftliche Entwicklung des Landes im Fokus der Regierungspolitik. Chen Yun 陈云 (1905-1995), ein altgedienter Kader und politischer Weggefährte Dengs in der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), avancierte zu Beginn der 1980er Jahre zum bedeutendsten Wirtschaftspolitiker Chinas. Seine „Vogel-Käfig-Metapher“ über das Verhältnis von Markt und Plan in der Ökonomie prägte diese ersten Reformjahre und beschreibt seine Position vorsichtiger Liberalisierung. Auch wenn diese Position den vor 1978 bestimmenden maoistischen Teilen der KPCh zu weit ging, galt Chens Wirtschaftspolitik unter stärker reformorientierten Kräften wie Deng im Laufe der 1980er Jahre zunehmend als zu zurückhaltend und konservativ. Daraufhin verlor Chen ab 1983-84 an politischer Macht, während Deng eine immer umfangreichere wirtschaftliche Reformpolitik umsetzte.

Dieser Einordnungstext gibt einen Überblick über die politische Biographie von Chen Yun und ordnet den hier präsentierten Quellenausschnitt in den Kontext des Gesamttextes ein. Zudem wird ein chronologischer Überblick über die wirtschaftspolitischen Positionen von Chen Yun vor dem Hintergrund der Debatten zu Beginn der Reform- und Öffnungszeit gegeben.

Politische Biographie von Chen Yun

Nachdem Chen Yun die Schule mit 14 Jahren verlassen hatte, bildete er sich durch seine Arbeit bei einem Shanghaier Verlag sowie durch Lektüre von Zeitungen und Sachbüchern fort, da ein Universitätsstudium finanziell unmöglich war (Vogel 2005: 744). Durch seine Tätigkeit als Gewerkschaftsführer und die Organisation von Demonstrationen kam er früh mit der KPCh in Kontakt, der er schon 1925, wenige Jahre nach ihrer Gründung, beitrat (Vogel 2005: 744). Ab 1931 war Chen Mitglied des Zentralkomitees der Partei – und somit der erweiterten Parteiführung (Bartke 1990: 23).

In den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre spielte er eine führende Rolle in der chinesischen Wirtschaftspolitik (Bachman 1985: 149). Dies spiegelt sich auch in den politischen Ämtern wider, die Chen zu dieser Zeit ausübte: Von 1945 bis 1969 war er Mitglied des Politbüros, ab 1956 sogar im Ständigen Ausschuss des Politbüros (Bartke 1990: 24). Daneben bekleidete er ebenfalls zwischen 1956 und 1969 das Amt des Vizevorsitzenden des Zentralkomitees der KPCh (Bartke 1990: 24).

Vor allem in den ersten Jahren nach Gründung der VR China bis 1952 war Chen der oberste Entscheidungsträger für die chinesische Wirtschaft, bevor er wegen Reformideen zum ersten Mal mit Mao Zedong und den Anhängern einer radikalen Planwirtschaft in Konflikt geriet. (Die politische Rolle Chens in der frühen VR China (1949-1962) beschreibt detailliert: Bachman 1985, 27-78.) Denn Chen plädierte schon 1956 für die Nutzung des Markts als Ergänzung zur Planwirtschaft (Bachman 1985: 27).

Zum Bruch mit der Parteiführung kam es dann Ende der 1950er Jahre im Kontext des sich entwickelnden „Großen Sprung nach vorn“. Chen hielt diesen für falsch, übte aber keine direkte Kritik (Bachman 1985: 69).Nachdem sich das Scheitern des „Großen Sprungs“ abzeichnete, fungierte Chen ab 1960 als Krisenmanager und versuchte, die sich in einer katastrophalen Lage befindliche chinesische Wirtschaft wieder zu stabilisieren(Bachman 1985: 28). Doch schon 1962 wurde Chen im Rahmen einer weiteren von Mao und anderen Parteilinken initiierten Ideologisierung der chinesischen Politik aus jeglicher politischen Gestaltungsposition entfernt (Bachman 1985: 78). Von nun an war Chen bis 1978 politisch tot. Abgesehen von öffentlicher Kritik (z.B. auf Wandzeitungen) überstand er die Kulturrevolution jedoch relativ unbeschadet, wohl auch, weil Chen den Machtanspruch Maos nie infrage stellte (Bachman 1985: 79).

Erst 1978, mit dem Beginn der Ära Deng Xiaoping und der Reform- und Öffnungspolitik, kehrte Chen auf die politische Bühne zurück (Bachman 1985: 80). Innerhalb kürzester Zeit erlangte er ähnlich großen Einfluss wie in den 1950er Jahren und galt als „wirtschaftlich erfahrenster, respektiertester Spitzenpolitiker“ (Coase 2013: 87) sowie als „Chinas berühmtester Wirtschaftsexperte“ (Yue 2018: 145). Auch seine vormaligen Ämter in der Partei erlangte er wieder und wurde zudem 1979 Vorsitzender der auf Initiative von Li Xiannian 李先念 (1909-1992) (Guo 2015: 174) und Chen Yun selbst neu geschaffenen Staatlichen Finanz- und Wirtschaftskommission (Bartke 1990: 24; Bachman 1985: 83). Chens erneuter rasanter Aufstieg ist zum einen auf den neuen Fokus der KPCh auf Wirtschaftspolitik (Bachman 1985: 28), zum anderen auf seine Loyalität zu Deng Xiaoping als neuem Machthaber in der KPCh ab 1978 zurückzuführen (Bachman 1985: 82). Chen hatte Deng zuvor im von ca. 1976 bis 1978 dauernden Machtkampf mit Hua Guofeng 华国锋 (1921-2008) nach dem Ende der Kulturrevolution unterstützt (Guo 2015: 140; Yue 2018: 145). Außerdem beriefen sich Reformer auf Chens Ideen aus den 1950er Jahren (Bachman 1985: 28), weshalb es aus Sicht Dengs nicht nur wegen Chens Expertise, sondern auch aus machttaktischen Gründen sinnvoll erschien, Chen auf höchster Ebene einzubinden. Im Rahmen der „kollektiven Führung“ als bewusstes Gegenmodell zur vorherigen Alleinherrschaft Maos, entschied sich Deng 1978, Chen erneut zum einflussreichen Regierungsmitglied zu erheben (Yue 2018: 145).

Aus der Zeit dieses zweiten Höhepunkts seiner Karriere stammt der Text über die ökonomische „Vogel-Käfig-Metapher“. In dieser Zeit zwischen 1978 und 1982 war Chen maßgeblich für die Wirtschaftspolitik der VR China verantwortlich. Doch schon ab 1983-1984, begann sein erneuter politischer Abstieg. Dieser ging einher mit zunehmend divergierenden Ansichten zwischen Chen und Deng und einem damit zerrütteten Verhältnis zwischen den beiden, aber auch zwischen Chen und weiteren Regierungspolitikern. Nachdem Chen schon 1982 als stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees und Vorsitzender der Staatlichen Finanz- und Wirtschaftskommission abgelöst worden war, verlor er 1987 auch seine Mitgliedschaften im Politbüro und in dessen Ständigen Ausschuss (Bartke 1990: 24). In der Folge verschwand Chen Yun für seine letzten Lebensjahre in der politischen Bedeutungslosigkeit.

Zur Quelle

Der hier veröffentlichte Text stellt nur eine Übersetzung des letzten Abschnitts eines deutlich längeren Textes dar. Unter dem Titel „Einige Probleme bei der Realisierung der vom Zwölften Nationalkongress der Kommunistischen Partei festgelegten strategischen Ziele“ äußerte sich Chen Yun 1982 dabei zu wirtschaftlichen Planungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte, wobei auch grundsätzliche wirtschaftspolitische Positionen erkennbar sind. Die einzelnen Abschnitte des Textes werden im Folgenden kurz paraphrasiert:

  1. Das Ziel der Vervierfachung der Wirtschaftsleistung in den nächsten zwanzig Jahren (1982-2002) soll erreicht werden, indem in den ersten zehn Jahren bei geringerem Wachstum Grundlagen wie die Erhöhung der „wirtschaftlichen Effizienz“ geschaffen werden. Im zweiten Jahrzehnt kann damit das Wachstumstempo beschleunigt werden. Ohne dieses behutsame Vorgehen droht ökonomisches Chaos.
  2. Die Schaffung jener Grundlagen muss vor allem in den Bereichen Energie, Verkehr, Wissenschaft und Bildung erfolgen. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf großen Infrastrukturprojekten statt auf wenigen kleinen lokalen Projekten liegen.
  3. Die Effizienz von produzierenden Unternehmen muss in den nächsten fünf Jahren (1982-1987) durch technologische Modernisierung verbessert werden. Dadurch können die Unternehmen die Qualität ihrer Produkte erhöhen, Kosten senken, ihre Konkurrenzfähigkeit stärken und ihre Produkte flexibler an die Marktnachfrage anpassen.
  4. Der Umgang mit Zeit und Profit hat sich in den letzten Jahrzehnten schon verbessert und muss sich weiter verbessern. Die schnellste Entwicklung erzielt man, wenn man sich an einen gesetzten Plan hält.

Die genaue Entstehung des Quellentexts zur „Vogel-Käfig-Ökonomie“ ist unklar. In einer Fußnote des chinesischen Quellenbandes heißt es, dass er bei einem Treffen der Shanghaier Delegation des Nationalen Volkskongresses entstand (Chen Yun 1995: 318). Ob es sich allerdings um einen vorformulierten Redebeitrag, eine freie Rede Chens, Äußerungen im Rahmen einer Diskussion oder Sonstiges handelt und von wem letztendlich diese schriftliche Fassung stammt kann nicht abschließend festgestellt werden.

Die Shanghaier Delegation ist eine von insgesamt 34 Regionaldelegationen des Nationalen Volkskongresses (Heilmann 2016: 114). Anders als bei den Plenarsitzungen des Nationalen Volkskongresses in Beijing kommt es bei den Treffen dieser Delegationen manchmal auch zu kontroverseren Diskussionen oder Kritik an der Regierungsarbeit (Heilmann 2016: 115). Die sehr vorsichtigen kritischen Töne in den Verlautbarungen Chens sind demnach in diesem kleineren Rahmen üblicher und erwartbarer als auf großen öffentlichen Konferenzen, Kongressen oder Parteitagen.

Wirtschaftspolitische Positionen und Maßnahmen von Chen Yun

Chens Wirtschaftspolitik in den frühen 1980er Jahren steht unter dem Eindruck der gescheiterten Bestrebungen von Hua Guofeng Ende der 1970er Jahre zu einer schnellen Industrialisierung Chinas. Dieses Programm basierte zum einen ähnlich wie der „Große Sprung nach vorn“ auf wirtschaftlicher Dezentralisierung (Sung 1987: 37). Andererseits führte mangelnde staatliche Kontrolle über Investments und Importe 1979 und 1980 zu einem extremen Staats- und Handelsdefizit (Sung 1987: 37). Ähnlich wie nach dem „Großen Sprung nach vorn“ war Chen Yun daher zunächst als Krisenmanager gefragt, um ein ökonomisches Gleichgewicht wiederherzustellen und staatliche Kontrolle auszubauen (Sung 1987: 38).

Dieses Gleichgewicht erwirkte er durch den Stopp der hohen Investitionen in die Schwerindustrie (Bachman 1985: 83; Deng 1981: 10). Die Importe stabilisierten sich daraufhin zwischen 1980 und 1983. In dieser Zeit wurde auch eine relativ ausgeglichene Handelsbilanz erreicht (Chen 1992: 63). Das geringere Kapital für die Schwerindustrie führte zu einer Senkung der Wachstumsziele (Bachman 1985: 153), für Chen Yun stand stattdessen die „Leichtindustrie“ für die Produktion von Konsumgütern und vor allem die Landwirtschaft für die Nahrungsmittelversorgung im Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung (Bachman 1985: 83, 154; Deng 1981: 10).

Um ein wirtschaftliches Gleichgewicht herzustellen, ist nach Chen Yun zentrale staatliche Planung unerlässlich (Coase 2013: 88). Doch selbst Chen als „beharrlicher Verfechter der zentralen Planung“ (Coase 2013: 87) erkannte, dass ein zentraler Plan nicht alle Details abdecken kann und diese Lücken durch den Markt und Privatsektor gefüllt werden müssen (Coase 2013: 88). Als Beispiel für diese Lücken – den Freiraum für den Vogel in seinem Käfig – nennt Chen konkrete Unternehmensplanungen: Dort unterstützt Chen eine Rationalisierung der Planungsprozesse ähnlich wie bei kapitalistischen Unternehmen. So sollen Unternehmen beispielsweise ihre Produktion an der Nachfrage auf dem Markt ausrichten (Bachman 1985: 152). Allerdings spricht er sich gegen die „alte chinesische Planung“ aus, die statt auf Marktnachfrage ausschließlich auf Produktionssteigerung ausgerichtet war (Bachman 1985: 152). Auf höherer Ebene sei jedoch vor allem in der Landwirtschaft zur Sicherung der Nahrungsmittelproduktion zentrale Planung weiterhin notwendig (Bachman 1985: 152; Zhu und Zou 1982: 17). Auch in Chens Plan zu einer behutsamen Entwicklung der Wirtschaft nimmt die Landwirtschaft die Hauptrolle ein. Deren Entwicklung müsse zuerst erfolgen, erst dann könne man sich planmäßig auf die anderen Sektoren konzentrieren (Zhu und Zou 1982: 18-19).

Dieses Ideal der streng geplanten, schrittweisen und geordneten Wirtschaftsentwicklung zeigt sich auch in Chens Präferenz für lokale Experimente vor der Einführung von landesweiten Reformen (Bachman 1985: 84). Diese vorsichtige Reformpolitik geht mit seiner Skepsis gegenüber zu engen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland einher. So lehnt Chen Yun sowohl Kredite aus dem Ausland als auch Sonderwirtschaftszonen nicht grundsätzlich ab, ist aber aus Angst, die Kontrolle über Wirtschaft und Reformen zu verlieren, eher kritisch eingestellt (Bachman 1985: 155-156; Coase 2013: 100). Diese Angst vor Kontrollverlust wird in der Vogel-Käfig-Metapher durch die Befürchtung ausgedrückt, der Vogel fliege ohne Käfig einfach davon.

Bedeutung der Vogel-Käfig Metapher

Anfang der 1980er Jahre errichten die wirtschaftspolitischen Positionen von Chen Yun das Niveau einer Kampagne innerhalb der wirtschaftlichen Verwaltung Chinas (Sung 1987: 39). Seine Schriften aus der Zeit von 1949 bis 1956 wurden 1982 vom Zentralkomitee der KPCh erneut veröffentlicht und die genaue Ausarbeitung von Chens Ideen, maßgeblich unterstützt von Deng Liqun (Deng 1981; Sung 1987: 39), standen 1982 im Mittelpunkt der Debatte um die Reformpolitik (Sung 1987: 39). Die Vogel-Käfig-Metapher war zumindest im Anfangsstadium der Wirtschaftsreformen innerhalb der chinesischen Regierung maßgebend (Coase 2013: 88).

Die Debatte während der Reformpolitik und vor allem die kontroversen Diskussionen zwischen Chen Yun und Deng Xiaoping schufen in 1980er Jahren eine vergleichsweise tolerante politische Atmosphäre (Coase 2013: 96). Als Beispiel kann hier die Sonderwirtschaftszone Shenzhen 深圳 dienen, zu der beide konträre Meinungen hatten. Chen trug dieses Experiment trotz seiner Bedenken mit und gab einige Jahre später selbst zu, dass die Sonderwirtschaftszone letztendlich doch ein Erfolg gewesen sei (Coase 2013: 96). Diese Art verständnisvoller Diskussion stand im Gegensatz zu den zuvor extrem ideologisierten Debatten während der Mao-Ära und symbolisiert den Beginn des gesellschaftlich und politisch wohl liberalsten Jahrzehnts in der bisherigen Geschichte der VR China.

Debatte zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik

Die chinesische Reform- und Öffnungspolitik geschah nicht auf Anordnung einzelner Personen, sondern entwickelte sich zu Beginn der 1980er Jahre inmitten heftiger Debatten (Sung 1987: 29). In diesen Kontroversen innerhalb der politischen Führung der VR China lassen sich jedoch nicht einfach zwei Seiten wie „alte Konservative“ und „junge Reformer“ gegenüberstellen (wie beispielsweise Sung (1987: 31) dies tut), da jede einzelne Person in verschiedenen politischen Fragen ihre eigene Position vertrat und sich allenfalls Tendenzen der Gruppenbildung erkennen lassen.

In der Wirtschaftspolitik, die Chens Hauptaugenmerk darstellte, reichte ein breites Meinungsspektrum von radikalen Positionen der „Viererbande“ von 1976, die jeglichen Markt ablehnte, bis zu sehr weitgehenden marktwirtschaftlichen Reformen, für die beispielsweise Hu Yaobang 胡耀邦 (1915-1989) eintrat (Bartke 1990: 64). Hu stieg 1981 zum Vorsitzenden des Zentralkomitees auf (Bartke 1990: 64; Sung 1987: 31-32). Hauptverantwortlich für die chinesische Wirtschaftspolitik nach 1978 waren – neben Chen Yun – Deng Xiaoping und Zhao Ziyang 赵紫阳 (1919-2005), letzterer war ab 1980 Premierminister (Guo 2015: 394; Bachman 1985: 149). Die zentrale politische Beziehung jener Zeit bestand dabei zwischen Chen Yun und Deng Xiaoping (Fewsmith 1994: 10). Die häufig vereinfachte Darstellung von Chen als konservativem Hardliner und Deng als progressivem Reformer wird der tatsächlichen Debatte jedoch nicht gerecht (Coase 2013: 95).

Stattdessen finden sich gerade bis 1982, dem Jahr der Entstehung des Quellentexts, einige gemeinsame wirtschaftspolitische Ansichten der Beiden. So hatten sowohl Deng als auch Zhao noch 1980 Chen zugestimmt, dass eine Verlangsamung der Reformen nötig sei, um Zeit für Experimente und Anpassungen zu gewinnen (Sung 1987: 39). Die Forderung Chens nach einem langsameren Reformtempo wird im ersten, nicht direkt übersetzten, Teil des Quellentexts besonders deutlich. Chen und Deng sind schon Anfang der 1960er Jahre gemeinsam gegen maoistische Wirtschaftspolitik eingetreten (Yue 2018: 146), auch zu Beginn der 1980er Jahre stimmten sie überein, dass der Markt eine gewisse Rolle in der Wirtschaftsordnung spielen und zum Beispiel den Plan bei der Verteilung von Waren unterstützen muss (Bachman 1985: 152, 162). Auch in der Öffnung der chinesischen Wirtschaft gegenüber dem Ausland waren sich beide Politiker grundsätzlich einig (Bachman 1985: 162).

Die Differenzen lassen sich mit einer Gegenüberstellung der Vogel-Käfig-Metapher mit der berühmten Tiermetapher Dengs darstellen: „Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse“ (Franz 2008). Hier zeigt sich exemplarisch Dengs Rolle als pragmatischer Politiker im Gegensatz zum Wirtschaftstheoretiker Chen. Für Deng steht die politische Machterhaltung der KPCh an oberster Stelle, die Gestalt des Wirtschaftssystems ist diesem Ziel untergeordnet (Yue 2018: 148). Deng, dem nachgesagt wurde, sich nicht gerne mit abstrakten Theorien beschäftigten zu wollen und der nach eigenen Angaben nie das Kapital von Marx gelesen hatte (Fewsmith 1994: 12, 17), legte keinen großen Wert auf die Frage nach Sozialismus oder Kapitalismus und wäre auch für viel weitgehendere marktwirtschaftliche Reformen offen gewesen, solange sie dem Machterhalt der Partei dienten (Yue 2018: 148). Damit widersprach Deng der starren Begrenzung des Markts, wie sie der Käfig in Chens Metapher verkörpert. Im Vergleich betonte Chen beim Verhältnis von Markt und Plan den Plan deutlich stärker (Bachman 1985: 162).

Neben der Rolle des Markts und später auch dem Tempo der Reformen (Coase 2013: 264) ergaben sich Differenzen bei der Frage nach Zentralisierung oder Dezentralisierung der Wirtschaftsordnung. Dengs Reformen bedeuteten eher eine Dezentralisierung der Wirtschaft, ähnlich wie die marktwirtschaftlichen Reformen, die Zhao Ziyang Ende der 1970er Jahre schon als Parteisekretär in Sichuan (Bartke 1990: 316) durchgeführt hatte und die die zentrale Planung dort geschwächt hatten (Sung 1987: 29). Diese Tendenzen waren unvereinbar mit Chens Forderungen nach einer Zentralisierung der Wirtschaftsordnung. Daneben zeigte sich Deng bei den Staatsausgaben weniger konservativ als Chen, der extrem darauf achtete, Haushaltsdefizite zu vermeiden (Bachman 1985: 153). Als Beispiel für unterschiedliche Ansichten zur wirtschaftlichen Öffnung Chinas zum Ausland kann die Sonderwirtschaftszone Shenzhen nahe Hongkong dienen. Während Deng dieses Experiment mit mehr Begeisterung unterstützte als jeder andere chinesische Spitzenpolitiker (Coase 2013: 99), war Chen wohl gerade in den ersten Jahren der Sonderwirtschaftszone sehr kritisch, hat niemals eine Sonderwirtschaftszone besucht und hegte nach Einschätzung von Zhao Ziyang noch lange Zweifel am Projekt der Sonderwirtschaftszonen (Zhao 2009: 101).

Weitere Entwicklung ab 1983

Die wirtschaftliche Situation Chinas stand zu Beginn der Reformpolitik vor ähnlichen Problemen wie kurz nach Gründung der VR China beziehungsweise nach dem „Großen Sprung“ (Bachman 1985: 85). Gerade zu dieser Zeit war der politische Einfluss Chens als Krisenmanager am größten. Nach der gescheiterten schnellen Industrialisierung durch Hua Guofeng Ende der 1970er Jahre kam Chen zwar wieder die Aufgabe zu, die Wirtschaft aus der Krise zu führen und Schaden zu begrenzen. Doch seine konservative Wirtschaftspolitik des Gleichgewichts und der strengen zentralen Planung („readjustment“) war nur so lange gefragt, wie dieser krisenhafte Zustand anhielt (Bachman 1985: 162). Sobald diese akute Krise überwunden war, schien Chens Krisenbewältigung für die Wirtschaftsentwicklung nicht mehr so geeignet wie eine zukunftsorientierte Reformpolitik, die die Wirtschaftsordnung fundamental änderte (Bachman 1985: 162).

Der etwas kritische, mahnende Tonfall des Quellentextes aus dem Dezember 1982 lässt diese aufkommenden Kontroversen zu Beginn des erneuten politischen Abstiegs von Chen Yun anklingen. Nur drei Jahre später sprach Chen nach einer deutlichen Ausweitung der Reformen auf der Nationalen Delegiertenkonferenz im Stil eines Oppositionspolitikers wirtschaftliche Probleme, aber auch Fehlentwicklungen innerhalb der KPCh an.

Denn ab 1983 hatten Deng Xiaoping, Zhao Ziyang und Hu Yaobang eine stärkere Liberalisierung durchgesetzt als von Chen Yun befürwortet (Sung 1987: 41-43). Diese deutliche Abweichung von Chens Theorien zeigte sich zum Beispiel in der durch Hu Yaobang vorangetriebenen Reduktion verbindlicher Planung, die für Chen als „Käfig“ für den Vogel immer noch unverzichtbar war (Sung 1987: 40). Spätestens ab 1984 setzten sich die stärker reformorientierten Kräfte unter Deng Xiaoping letztlich durch, der „Vogel“ erhielt mehr Freiheit als Chen Yun vorgesehen hatte (Brodsgaard 2017: 70-71). Die Importe stiegen, wie Chen befürchtet hatte, bis 1989 rasant an und die Handelsbilanz rutschte tief ins Minus (Chen 1992: 63). Langfristig jedoch entwickelte sie sich durch die Reform- und Öffnungspolitik ebenso wie die Wirtschaftsleitung positiv. Auch wenn Chens Vorstellungen von Staat und Wirtschaft im Nachhinein zu restriktiv für die Entfaltung einer wirklich „freien“ Marktwirtshaft waren, so haben sie doch geholfen, „die Präsenz des Markts und des privaten Sektors im chinesischen ökonomischen Denken zu legitimieren“ (Coase 2013: 89).

Verwendete Literatur

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