Kommunique zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie – Weiterführende Informationen

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UrheberTitelDatumÜbersetzungRechte der ÜbersetzungEinordnung
Urheber*in: Generalbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas 中共中央辦公廳Titel: „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ 《關於當前意識形態領域情況的通報Entstehungsdatum und -ort: 22. April 2013Übersetzer: Clemens Ruben April 2022Link zur Übersetzung: https://www.neican.org/dokument-nr-9-der-kommunistischen-partei-chinas-kommunique-zur-aktuellen-situation-im-bereich-der-ideologie/ Rechte der Übersetzung: Clemens Ruben hat der Verwendung der Übersetzung auf der Plattform der China-Schul-Akademie und im Unterricht zugestimmt.

Einordnung: Das „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ wurde am 22. April 2013 – also wenige Monate nach dem Amtsantritt von Xi Jinping als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im November 2012 – parteiintern veröffentlicht. Es wurde dann im August 2013 im monatlich erscheinenden, in New York publizierten chinesischsprachigen Magazin Mingjing 明镜 (wörtlich: „Der Spiegel“) veröffentlicht. Da es das neunte Kommuniqué (tongbao 通報) im Jahr 2012 war, wurde und wird es – gerade auch in englischsprachigen Medien – als „Dokument Nr. 9“ bezeichnet.

Zum Inhalt

Das „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ umfasst drei Abschnitte: Einen einführenden Teil, in dem von der 2012 neu angetretenen Partei- und Staatsspitze vorangebrachte Maßnahmen wie zum Beispiel die Korruptionsbekämpfung, Wirtschaftswachstum und eine Verbesserung der Lebensbedingungen genannt und positiv bewertet werden. Der zweite und längste Abschnitt nennt und erläutert sieben „Beachtenswerte Probleme im Bereich der Ideologie“ aus Sicht der Kommunistischen Partei. Dabei handelt es sich um ausländische Werte oder Konzepte, die die KPCh als Gefahr für ihre Herrschaft betrachtet:

  1. Liberale Demokratie und damit einhergehende Konzepte wie Gewaltenteilung, ein Mehrparteiensystem, ein allgemeines Wahlrecht, die Unabhängigkeit der Justiz und ein Militär, das der Regierung oder einem Parlament untersteht.
  2. Universelle Werte wie die Menschenrechte, Freiheit oder Demokratie. Diesen setzt die KPCh ihre Grundwerte des Sozialismus entgegen, die teils ähnliche Werte umfassen, aber von der KPCh anders definiert werden.
  3. Die Idee einer Zivilgesellschaft, in der die Rechte des*der Einzelnen geschützt werden durch engagierte Bürger*innen. Die KPCh sieht dies als Gefahr für ihre lokalen Parteiorganisationen.
  4. Der Neoliberalismus, der alle Macht dem Markt zuschreibt und indem beispielsweise für die Privatisierung aller Staatsbetriebe anstatt Kontrolle durch Partei und Regierung plädiert.
  5. Pressefreiheit, damit einhergehend auch die Medien als vierte Gewalt, die Partei und Regierung kontrolliert, statt Kontrolle (und Zensur) der Medien durch die Partei.
  6. Historischer Nihilismus, das heißt negative Darstellungen der Rolle der KPCh in der chinesischen Geschichte – zum Beispiel eine negative oder von der offiziellen Linie abweichende Bewertung von Mao Zedong.
  7. Ein Infragestellung der Reform- und Öffnungspolitik, bei der marktwirtschaftliche Elemente eingeführt wurden, und stattdessen Forderungen zur Rückkehr zu „echtem“ Sozialismus. (Auch diese Stimmen beschädigen die Legitimität der KPCh, da ihr hier vorgeworfen wird, den Sozialismus und gesellschaftliche Gerechtigkeit aufgegeben zu haben.)

Diese sieben Gedanken sind aus Sicht der KPCh gefährlich, da sie ihre Legitimität untergraben und zu einer Revolution beziehungsweise Protesten führen können. Das Dokument nennt außerdem, dass diese Gedanken im Internet, in gedruckten Publikationen und im Hochschulunterricht verbreitet werden. Weitere problematische Akteure und Aktionen aus Sicht der KPCh sind offene Briefe, die sich für Menschenrechte oder Reformen einsetzen (wie die Charta 08); Diskussionen im Internet zu Themen, die die Partei schlecht aussehen lassen (beispielsweise Korruption); ausländische staatliche Institutionen, Medien und Nichtregierungsorganisationen, die diese Gedanken angeblich in China verbreiten; kritische Publikationen im In- und Ausland sowie Proteste in den autonomen Regionen Tibet oder Xinjiang.

Im dritten Teil schließt das „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ von 2013 daher mit vier Aufträgen an die Führungskader im ganzen Land: Diese sollen die ideologische Arbeit ernst nehmen; sich in ideologischen Fragen an die offizielle Parteilinie halten; die Kontrolle der Medien voranbringen sowie die Kontrolle von Internet und Ideologie in ihrem Bereich stärker beachten.

Der Sinologie Daniel Lesse ordnet das Dokument Nr. 9 ein: "Zensurbestrebungen und Warnungen vor westlicher Subversion als solche stellten kein Novum in der Parteirhetorik dar. Nur zwei Jahre zuvor [2011] hatte etwa der damalige Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses Wu Bangguo, ein enger Gefolgsmann des einstigen Generalsekretärs Jiang Zemin, fünf Themen definiert, die in der Volksrepublik keine Umsetzung erfahren dürften: wechselnde Regierungsparteien, eine Pluralisierung der Führungsideologie, Gewaltenteilung und ein Zwei-Kammern-System, der Aufbau föderaler Strukturen sowie schließlich Privatisierungen. Das Dokument Nr. 9 aber kündigte einen grundsätzlicheren Wandel der politischen Kultur und Weltwahrnehmung an. […] Westliche Werte wurden zum Feindbild stilisiert, die den Fortbestand der Parteiherrschaft im Kern zu zersetzen drohten. Mit einer Zangenbewegung aus ideologischer Erziehung sowie Angsterzeugung durch unkalkulierbare Kampagnen sollten diese Aushöhlungsbestrebungen dauerhaft abgewehrt werden." (Leese und Shi 2023, 20f)

Die Frage der Authentizität

Da das Dokument nicht von staatlichen Stellen oder Parteiorganen veröffentlicht wurde, sondern an ausländische Medien geleakt wurde, stellt sich beim „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ die Frage der Authentizität. Alles deutet jedoch daraufhin, dass es sich hierbei um ein authentisches parteiinternes Dokument handelt, das von der Parteiführung um Xi Jinping vorangetrieben oder zumindest gutgeheißen wurde (Buckley 2013).

Das Dokument wurde laut ausländischen Medienberichten von der chinesischen Journialistin Gao Yu 高瑜 (1944- ) geleakt. 2015 wurde die Journalistin dann in der Volksrepublik China von einem Gericht dafür verurteilt, im Jahr 2013 ein parteiinternes Dokument an ausländische Medien weitergereicht zu haben (Chin 2015; Buckley 2015).

Bereits vor dem Leak des Dokumentes und der Veröffentlichung in der in New York publizierten chinesischsprachigen Magazin Mingjing 明镜 gab es jedoch bereits Berichte in chinesischen und ausländischen Medien, dass das „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ parteiintern verbreitet worden war. Auf lokaler Ebene wurden in der Volksrepublik China Berichte über Parteikader, die das Dokument studierten, veröffentlicht, wodurch einige der Inhalte an die Öffentlichkeit gelangten (J.M. 2013; Wu 2013).

Ausblick

Das parteiintern „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ bietet eine wichtige Innenperspektive der kommunistischen Partei unter Xi Jinping und ihren Blick auf die eigene Legitimität sowie den Umgang mit Kritik und den Außenbeziehungen. Knapp zehn Jahre (Stand: Dezember 2022) nach der Veröffentlichung des Dokuments wirkt es in vielen Bereichen wie eine Blaupause für die folgenden zehn Jahre seit 2013 unter Partei- und Staatschef Xi Jinping. Gegen Kritiker*innen, die demokratische oder rechtsstaatliche Reformen in der Volksrepublik forderten und fordern (wie z.B. Liu Xiaobo) oder sich wie die Protestierenden in Hongkong für Bürgerrechte einsetzen wird unter Xi hart vorgegangen. Auch zivilgesellschaftliches Engagement abseits von staatlichen Institutionen wurde erschwert, so wurde beispielsweise die Arbeit von Menschenrechtsanwälten stark erschwert (Yang 2020). An der Peking Universität wurde eine marxistische Studiengruppe aufgelöst, nachdem die Studierenden Arbeiter*innen bei einem Streik unterstützt hatten (Baptista 2019). Auch die Arbeit von chinesischen Journalist*innen hat sich laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen seit dem Amtsantritt von Xi stark verschlechtert (Reporter ohne Grenzen 2021). Die Zensur von Beiträgen im Internet wurde ebenfalls ausgebaut (Creemers 2015). Reformen der Staatsunternehmen seit Xis Amtsantritt sollen diese vor allem effizienter und größer werden lassen, sie werden von staatlicher Seite jedoch weiterhin bevorzugt, während Teile der Privatwirtschaft wie Internet- oder Bildungsfirmen nun stärker von der KPCh kontrolliert werden (Heide 2019). Auch gegen Geschichtsdarstellungen, die nicht dem offiziellen Narrativ der Partei entsprechen, wird unter Xi härter vorgegangen (Strittmatter 2016; Wemheuer 2021).

Anmerkungen zur Übersetzung

Die deutsche Übersetzung des „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ stammt von Clemens Rubens. Clemens Rubens hat in Berlin und Beijing Sinologie studiert und analysiert Politik und Wirtschaft der Volksrepublik China. Auf Twitter ist er unter @chinaimbiss zu finden.

Folgende Anmerkungen zur Übersetzung stammen von Clemens Rubens:

  • Worte in eckigen Klammer wurden zum besseren Verständnis hinzugefügt.
  • Begriffe wie „unsere“ oder „unser Land“ im Originaltext wurden in „China“ umgewandelt.
Daniel Leese, Professor für Sinologie an der Universität Freiburg, übersetzt den Titel des Dokumentes mit "Bericht über die gegenwärtige Situation im Bereich der Ideologie" (Leese und Shi 2023, 19).

Zwei englische Übersetzung des „Dokuments Nummer 9“ sind verfügbar unter: https://www.chinafile.com/document-9-chinafile-translation und

https://digichina.stanford.edu/work/communique-on-the-current-state-of-the-ideological-sphere-document-no-9/

(China-Schul-Akademie, 30.12.2022)

Verwendete Literatur

Baptista, Eduardo. 2019. ‘Deers’ vs. ‘Horses’: Old and new Marxist groups wage ideological battle at Peking University. The China Project. 9. Januar. https://thechinaproject.com/2019/01/09/old-and-new-marxist-groups-wage-ideological-battle-at-peking-university/ (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren
Buckley, Chris. 2013. China Takes Aim at Western Ideas. The New York Times, 19. August, Abschn. World. https://www.nytimes.com/2013/08/20/world/asia/chinas-new-leadership-takes-hard-line-in-secret-memo.html (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren
Buckley, Chris. 2015. Chinese Journalist Sentenced to 7 Years on Charges of Leaking State Secrets. The New York Times, 17. April, Abschn. World. https://www.nytimes.com/2015/04/17/world/asia/china-journalist-gao-yu-gets-7-year-sentence.html (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren
Chin, Josh. 2015. China Sentences 71-Year-Old Journalist to 7 Years. Wall Street Journal, 17. April, Abschn. World. https://www.wsj.com/articles/china-sentences-71-year-old-journalist-to-jail-1429254633 (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren
Creemers, Rogier. 2015. The Pivot in Chinese Cybergovernance. Integrating Internet Control in Xi Jinping’s China. China Perspectives 2015, Nr. 2015/4 (1. Dezember): 5–13. http://doi.org/10.4000/chinaperspectives.6835, http://journals.openedition.org/chinaperspectives/6835 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
Heide, Dana. 2019. Kritik der Europäer: Wie China seine 167.000 Staatsunternehmen bevorzugt. Handelsblatt. 24. September. https://www.handelsblatt.com/politik/international/kritik-der-europaeer-wie-china-seine-167-000-staatsunternehmen-bevorzugt/25048036.html (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren
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吴雨. 2013. 主旋律升级:“五不搞”后迎来“七不讲”?. DW.COM. 10. Mai. https://www.dw.com/zh/%E4%B8%BB%E6%97%8B%E5%BE%8B%E5%8D%87%E7%BA%A7%E4%BA%94%E4%B8%8D%E6%90%9E%E5%90%8E%E8%BF%8E%E6%9D%A5%E4%B8%83%E4%B8%8D%E8%AE%B2/a-16802727 (zugegriffen: 31. Dezember 2022). Zitieren