Chinesische Rufe nach demokratischen Reformen in der Fernsehserie „Flusselegie“ (1988) – Weiterführende Informationen

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Regisseur: Xia Jun 夏骏 (1962- )Drehbuchautoren: Su Xiaokang 苏晓康 (1949- ) und Wang Luxiang 王鲁湘 (1956- )Titel: „Heshang“ 河殇 (Flusselegie)Entstehungsdatum und -ort: Beijing 1988Übersetzung: Olivia WenzelRechte der Übersetzung: CC BY-SA 4.0Einordnung:

Zur Serie
Die Serie „Flusselegie“ sprach die in den 1980er-Jahren in intellektuellen Kreisen und der Gesellschaft der Volksrepublik China kontrovers diskutierten Themen wie Traditions- und Modernisierungsvorstellungen an und übte Kritik an Chinas Politik, Geschichte und Kultur. Die Dissertation der Sinologin Christina Neder bietet den umfänglichsten deutschsprachigen Überblick über die Serie. Neder (1996, 47-48) fasst den Inhalt der Serie wie folgt zusammen: „Die sechs Folgen, die den konzeptionellen Rahmen der Fernsehserie bilden, konzentrieren sich auf sechs ‚Themen‘, die inhaltlich-logisch aufeinander aufbauen und sich jeweils assoziativ am Gelben Fluss orientieren: In der ersten Folge führt die ‚Suche nach dem Traum‘ (xunmeng), nach dem Traum nationaler und kultureller Größe, zur Erkenntnis vom Niedergang der Zivilisation. Die Ursachen des Niedergangs veranschaulicht die zweite Folge ‚Schicksal‘ (mingyun) an der selbstgewählten Isolation Chinas. In der dritten Folge, die sich auf die Situation der Intellektuellen konzentriert, wird nach den Gründen für die fehlende ‚Erleuchtung‘ (lingguang) durch wissenschaftlichen und kreativen Geist in China gefragt. Welche Folgen und Probleme dies für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas hat, zeigt die vierte Folge, die Reformen für einen Aufbruch ins ‚Neue Zeitalter‘ (xin jiyuan) propagiert. Die fünfte Folge fordert, den Kreislauf aus ‚Not und Elend‘ (youhuan) durch politische, wirtschaftliche und sozio-kulturelle Reformen zu durchbrechen, was nur erreicht werden kann, - so schließt die sechste Folge – wenn sich China an der ‚Azurblau(en)‘ (weilan se) Zivilisation, der ozeanischen Industriezivilisation des Westens, orientiert. Die jeweiligen Inhalte werden nicht durch einen stringent-geschlossenen Text vorgestellt, sondern mit historischem Material veranschaulicht oder in Gesprächsrunden mit Intellektuellen und in Interviews erläutert.“ Außerdem wechseln sich Dokumentationsaufnahmen des Gelben Flusses, Porträts historischer Persönlichkeiten und Landschaftsaufnahmen in der Serie miteinander ab, während ein Sprechtext aus dem Off die Bildsprache verdeutlicht.

Der chinesische Name der Serie setzt sich aus den Zeichen he und shang zusammen: He bedeutet Fluss und meint hier insbesondere den Gelben Fluss (Huang He 黄河). Dieser nimmt in der chinesischen Mythologie einen besonderen Stellenwert ein, da er als Wiege und Symbol der chinesischen Zivilisation gesehen und mit der Kultur und Entwicklung Chinas assoziiert wird (Yang 2008, 341-344). Die wörtliche Übersetzung für shang ist „jung sterben“, es verweist aber auch auf guoshang 国殇, „die Totenklage eines Staates“, einem der Neun Gesänge (Jiuge 九歌) aus den in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung verfassten Elegien von Chu (Chuci 楚辞) (Neder 1996, 47). Mit dieser Assoziation auf ein berühmtes Stück chinesischer Literatur und Geschichte findet automatisch ein Rückbezug auf die chinesische Kultur statt. Dieser Rückbezug im Namen drückt gleichzeitig Kritik aus: So erklärte einer der beiden Drehbuchautoren von „Flusselegie“, Su Xiaokang, dass der Name Heshang den Niedergang bzw. das zu frühe Sterben der gelben (traditionellen chinesischen) Zivilisation suggerieren soll, indem er auf ihren Stillstand und ihren Status quo als „halb tot, halb lebendig“ verweist (Neder 1996, 47–48). Die wörtliche Bedeutung von Heshang ist also eine Klage über den vorzeitigen Tod der Menschen am Fluss (Chen, Chen, und Jin, 1997, 221). In weiterer Interpretation kann Heshang auch als „Der frühe Tod des Gelben Flusses“ übersetzt werden (Roetz 2018, 19).

Der Gelbe Fluss stellt in „Flusselegie“ eine Metapher für den Zustand Chinas dar und verbildlicht die nationale Identitätskrise (R. Yang 2008, 342). Er ist ein Symbol für die scheinbar alte, stagnierende Tradition des Landes, die weggeschwemmt werden muss, damit China vorankommen kann. Die Notwendigkeit zur Veränderung und Modernisierung wird durch die Mündung des Gelben Flusses in das in der Serie für die westliche Zivilisation stehende, „azurblaue“ Meer verdeutlicht. China solle sich der westlichen Zivilisation öffnen und einen sozio-kulturellen, politischen und ökonomischen Wandel nach westlichem Vorbild vornehmen, so wie sich der Gelbe Fluss am Ende seines Laufes dem „azurblauen“ Meer öffnet.

Die Köpfe hinter „Flusselegie“
Xia Jun 夏骏 (1962- ) ist Redakteur und Regisseur von „Flusselegie“. Geboren und aufgewachsen in einer ländlichen Gegend in der Provinz Jiangsu 江苏 studierte er ab 1979 an der Rundfunk- und Fernsehanstalt in Beijing. Nach seinem Masterabschluss 1986 in moderner chinesischer Literatur an der Zentralen Akademie für Schauspiel in Beijing, die als die beste Institution für Theater-, Film- und Fernsehkunst des Landes gilt, wurde Xia Redakteur und Reporter beim staatlichen Fernsehsender CCTV (Su und Wang 1988, Einband). Viel Bildmaterial von „Flusselegie“ stammt aus einer von CCTV geplanten Dokumentation namens Great Yellow River, bei der Xia Regie führte (Chen, Chen, und Jin, 1997, 218).

Su Xiaokang 苏晓康 (1949- ) ist einer der beiden Chefautoren von „Flusselegie“. Er wurde in der Provinz Sichuan 四川 geboren und stammt aus einer Intellektuellenfamilie. Seine Jugend verbrachte er in der Provinz Henan 河南 und besuchte ein Berufskolleg Mitte der 1960er. Während der Kulturrevolution, die er auf dem Land verbrachte, schwand sein Enthusiasmus für diese und für Mao Zedong und er begann, angesichts der furchtbaren Auswirkungen für die chinesische Gesellschaft, Zweifel gegenüber der KPCh zu hegen (Neder 1996, 65–66). Er machte 1982 seinen Masterabschluss an der renommierten Peking Universität. Nach seiner Arbeit als Journalist bei Zeitungen wie der Henan Daily oder der People’s Daily in Beijing lehrte er in der Abteilung für Journalismus an der Rundfunk- und Fernsehanstalt, wo er auf Xia Jun traf (Chen, Chen, und Jin, 1997, 219).

Der zweite Chefautor, Wang Luxiang 王鲁湘 (1956- ) wurde im Kreis Shuyang 沭阳 der Provinz Jiangsu 江苏 geboren. Er hatte großes Interesse an chinesischer Geschichte und Literatur und absolvierte 1982 sein Bachelorstudium in Chinesisch. Noch während seines Masterstudiums an der Pädagogischen Universität Beijing, das er 1987 abschloss, wurde er von Xia zur Mitarbeit am Prototyp von „Flusselegie“ eingeladen (Chen, Chen, und Jin, 1997, 220).

Stellvertretend für die vielen Berater und Kommentatoren, die in „Flusselegie“ auftraten, sollen hier noch kurz Jin Guantao 金观涛 (1947- ) und seine Frau Liu Qingfeng 刘青峰 erwähnt werden. Das Paar hatte mit seiner Theorie einer „Ultrastabilität“ der traditionellen chinesischen Gesellschaft, d.h. einer feudalistischen Gesellschaftsstruktur Chinas, die sich über 2.000 Jahre nicht großartig verändert hatte, einen großen Einfluss auf die Serie (Kane 1989, 47). Jin begann 1965 an der Peking Universität Chemie zu studieren. Als ein Jahr später die Kulturrevolution ausbrach, verbrachte er durch Unterrichtsausschluss seine Zeit im Selbststudium. Obwohl er eine traditionell marxistische Bildung erfahren hatte, blieb Jin während der Kulturrevolution mehr Wissenschaftler als Kommunist (Kane 1989, 45–46). In den 1970er-Jahren interessierte sich Jin mit der Zeit nicht nur mehr für Chemie, sondern auch für Wissenschaftsgeschichte und chinesische Geschichte, welches eine Reihe von Publikationen belegen (Klose 1994, 12–13). Zusammen mit Freunden und seiner Frau Liu begann er in dieser Zeit auch, über die Zukunft Chinas und seine Rolle in ihr nachzudenken. Die Berufung als Autor*innen des „Journal of Dialectics of Nature“ (Ziran bianzhengfa tongxun 自然辩证法通讯) an der Akademie der Wissenschaften in Beijing nach dem Ende der Kulturrevolution brachte für Jin und seine Frau Liu dann die Chance, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen: Durch verschiedene Publikationen des Journals, aber auch durch ihre Mitarbeit im Redaktionsausschuss der Sachbuchreihe „Towards the Future“ (zouxiang weilai congshu 走向未来丛书), die eine Begeisterung für Buchreihen im Land auslöste, konnten Jin und Liu ihre Wünsche nach Wandel und Liberalisierung und ihre Abwendung von der marxistischen Orthodoxie ausdrücken (Chen, Chen, und Jin, 1997, 6). Der Redaktionsausschuss dieser Buchserie übte später auch großen Einfluss auf den Inhalt der Serie „Flusselegie“ aus.

Historischer Hintergrund – Die 1980er in China Von der Kulturrevolution zum „Kulturfieber“

Das chinesische Verständnis des Begriffes „Kultur“ durchlief während dem „Kulturfieber“ in den 1980er-Jahren eine Neubestimmung. Gleichzeitig wiederholte sich aber auch die Flut des Antitraditionalismus und der kulturellen Erneuerung, die bereits zuvor in den 1910er- und 1920er-Jahren die chinesische Gesellschaft eingenommen hatte (Jin Wang 1996, 52).

Während des Kulturfiebers wurden nach Neder (1996, 32–36) die Themen Kultur, Tradition und Modernisierung als zentrale Elemente der chinesischen Zivilisation diskutiert: Kultur im chinesischen Verständnis hat eine Konnotation mit jahrtausendealter Hochkultur und damit einhergehend ein stark ausgeprägtes, kulturelles und nationales „Überlegenheitsgefühl“. Chinas Hegemonialstellung in Ostasien bis ins 19. Jahrhundert ist Ausdruck dieses Verständnisses. Im 20. Jahrhundert durchlief der Kulturbegriff viele Neudefinitionen. Mao Zedong 毛泽东 (1893-1976) hatte versucht, ein neues Kulturverständnis zu errichten, die schrecklichen Ereignisse der Kulturrevolution zeigten jedoch den Widersinn einer solchen Neudefinition auf.

Tradition definiert sich im Kontext des Kulturfiebers vor allem durch ihre Abgrenzung von Moderne und ist ein wesentliches Element von Kultur. Bezogen auf die chinesische Geschichte wird sie zudem oft mit einer „feudalen Tradition“ gleichgesetzt, die der Zeit des chinesischen Kaiserreiches zugeordnet wird. Feudalismus und Konfuzianismus gelten beide als Elemente der dynastischen Gesellschaft Chinas und umspannen den chinesischen Traditionsbegriff.

Eine Modernisierung kann im chinesischen Verständnis der 1980er-Jahre nur dann erreicht werden, wenn sich die Gesellschaft von einer traditionellen zu einer modernen entwickelt und Fortschritt und Reformen betont. Diese Auffassung hängt eng zusammen mit den von Premierminister Zhou Enlai 周恩来 (1898-1976) formulierten „Vier Modernisierungen“ (si ge xiandaihua 四个现代化).

Chinesischer Film und Fernsehen in den 80er-Jahren

Der chinesische Film der 80er-Jahre war vor allem durch die Abkehr von Darstellungen sozialistischer Helden, die typisch für die filmischen Arbeiten der Kulturrevolution waren, geprägt (Neder 1996, 29). Die ersten Absolventen der Beijinger Filmakademie, die ihr Studium durch die Unruhen der Kulturrevolution unterbrechen mussten, versuchten mit ihren Verfilmungen, ihre Erfahrungen als landverschickte Jugendliche während der Kulturrevolution zu verarbeiten, wodurch ein starker Fokus auf das Landleben und die Lebensrealität der Bauern entstand (Neder 1996, 29). „Flusselegie“ lehnte sich semantisch und bildlich an einige Ausschnitte ebensolcher Filme, z.B. „Die gelbe Erde“ (Huang tudi 黄土地, 1984) von Chen Kaige 陈凯歌 (1952- ) oder „Alter Brunnen“ (Lao jing 老井, 1987) von Zhang Yimou 张艺谋 (1950- ) an (Su und Wang 1991, 274).

Das chinesische Fernsehen wiederum entwickelte sich in den 1980er-Jahren zum modernen Massenmedium. Bis 1987 gab es in China ca. 112 Mio. Haushalte mit Fernsehgerät (Lull 1991, 21). Ergebnisse einer Volksbefragung 1988 ergaben, dass es zu dieser Zeit ca. 600 Mio. Fernsehzuschauer in ganz China gab, wobei der Anteil der städtischen Bevölkerung hierbei 67% ausmachte (Neder 1996, 30). Das Fernsehen konnte, anders als Printmedien auch die analphabetische Bevölkerung, die vor allem in den ländlichen Gebieten Chinas lebte, erreichen. Die Analphabetenrate lag Anfang der 1980er-Jahre in der Volksrepublik China bei den über 15-Jährigen noch bei 34,5 % (Neder 1996, 30).

Als „Flusselegie“ im August 1988 als Wiederholung ausgestrahlt wurde, hatte die Serie sich bereits zum Straßenfeger entwickelt (Chong 1989, 52). Durch ihre große Popularität kann davon ausgegangen werden, dass sie über eine halbe Million Menschen erreichte.

Nachleben und Nachbeben: Rezeptionsgeschichte und Kritik

Nach der Ausstrahlung von „Flusselegie“ im Juni 1988 fielen die meisten Zuschauerkommentare sehr positiv aus, und viele Zuschauer wünschten sich eine Wiederholung der Serie. Die Autoren und Produzenten der Serie hatten es geschafft, theoretische Fragen der Intelligenzia mit Themen zu verknüpfen, die die einfache Bevölkerung betrafen; darunter auch heikle politische Fragen wie Inflation, Armut auf dem Land, Korruption in den Behörden und die Krise des chinesischen Bildungswesens (Su und Wang 1991, 63). Diese Popularität in Verbindung mit politischen Fragen machte „Flusselegie“ aber auch zum Gegenstand öffentlicher, politischer Debatten (Chong, 1989, 51): Trotz heftiger Kritik durch Wang Zhen 王震 (1908-1993), den damaligen Vizepräsidenten, wurde die Serie im August des gleichen Jahres noch einmal ausgestrahlt. Dies geschah nicht zuletzt durch die Fürsprache Zhao Ziyangs 赵紫阳 (1919-2005), der zu dieser Zeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) war.

Die Niederschlagung der Proteste am Tian‘anmen-Platz am 04. Juni 1989 fast genau ein Jahr nach der ersten Ausstrahlung von „Flusselegie“ hatte politische Konsequenzen für viele, die sich an der Serie beteiligt hatten oder sie anderweitig unterstützt hatten (Chong 1989, 44–51): Die KPCh warf ihnen vor, an der Provokation der Studentendemonstrationen beteiligt gewesen zu sein und verfolgte die Autoren. Im Juli 1989 wurde Wang Luxiang verhaftet, während der zweite Chefautor Su Xiaokang nach Paris floh. Regisseur Xia Jun blieb in China. Zhao Ziyang musste nach 1989 dem politischen Druck weichen und sein Amt als Generalsekretär niederlegen. Ihm wurde in einem Zeitungsartikel der Guangming Tageszeitung (Guangming ribao 光明日报) vorgeworfen, er habe „Flusselegie“ unterstützt, weil diese seine Idee eines „neuen Zeitalters“ beworben und die Umsetzung seiner radikal-liberalen Wirtschaftspolitik und politischen Reformen propagiert habe (Neder 1996, 138).

War „Flusselegie“ in seiner Produktions- und Sendungsphase noch als Kritik an der chinesischen Kultur intendiert, so revidierte der Chefautor Su nach dem Massaker am Tian’anmen-Platz die Aussage der Serie zu einer Kritik am politischen System Chinas und an der KPCh (Chong 1989, 47–48). Nach den verhängnisvollen Ereignissen im Juni 1989 wurde „Flusselegie“ verboten und von der KPCh als „antirevolutionär“ denunziert (J. Li 2017, 31).

Nachbeben: Kritik an „Flusselegie“

Nach der Veröffentlichung von “Flusselegie“ fanden zahlreiche Foren und Diskussionen zu den Inhalten der Serie statt und es erschienen viele Interviewberichte, Kolumnen und Essays mit Kritik und Bewertungen aller Art in Zeitungen, Zeitschriften und anderen Publikationen in und außerhalb der Volksrepublik China. Im Folgenden soll eine Auswahl dieser Artikel aufzeigen, wie „Flusselegie“ rezipiert und kritisiert wurde.

Die Serie wurde nach ihrer ersten Ausstrahlung im Juni vor allem positiv bewertet (Guan 1992, 29–31). Jin Guantao, Berater der Serie, in der er auch als Kommentator auftritt, hielt noch am 30. Juni 1988 ein Forum zur Diskussion von „Flusselegie“ ab, bei dem unterschiedliche Personen der Intelligenzia Chinas ihre überwiegend positiven Anmerkungen vortrugen (Jin 1992, 16–28): Sie waren der Meinung, dass „Flusselegie“ den Intellektuellen eine Plattform gegeben hatte, die es ihnen erlaubte, ihre Meinung frei zu äußern, ohne durch politische Schranken begrenzt zu werden. Gleichzeitig wurde in der Serie eine umfassende Betrachtung von Geschichte, Gesellschaft und Kultur Chinas vorgenommen und ein Umdenken über diese und die gegenwärtigen Realitäten der chinesischen Nation geboten. Diese Reihe an Forumsbeiträgen kann als Gegengewicht zu kritikbeladenen Beiträgen über „Flusselegie“ gesehen werden.

Die gestiegene Popularität der Serie führte jedoch zu zunehmender Kritik. Die KPCh stufte „Flusselegie“ als ein politisches Stück ein (Neder 1996, 121–40): Mit ihrer nach der Unterdrückung der Protestbewegung im Sommer 1989 eingeleiteten „Flusselegie-Kampagne“ versuchte sie, die Serie zu diskreditieren und so ihren eigenen, absoluten Wahrheitsanspruch zu untermauern. Der Fokus der Kritik lag vor allem auf den „unkorrekten“ Ideen und theoretischen Ansätzen einer zu idealistischen Geschichtsauffassung von „Flusselegie“ und ihrem Filmformat, bei der der Filmtext nicht als literarisch-künstlerisches Element, sondern als politische Rede angesehen wurde. Die „Flusselegie-Kampagne“, aber auch verschiedene Fernsehforen, Diskussionsrunden und Werke – wie die ab August 1989 in der Beijing Daily (Beijing ribao 北京日报) veröffentlichte Kommentarserie „Die hundert Fehler der ‚Flusselegie‘“ (‚Heshang‘ baimiu 河殇百谬, (Li 1990)) – übten scharfe Kritik an der Serie (Neder 1996, 116–20). Das Buch „Neubewertung der ‚Flusselegie‘“ (Chongping ‚Heshang‘ 重评河殇》 (Zhong 1989)) stellt hierbei eine gesammelte Veröffentlichung der Kommentarserie dar und unterstreicht den Standpunkt der KPCh zu „Flusselegie“.

Ein Kapitel in „Neubewertung der ‚Flusselegie‘“ bzw. ein Kommentar aus „Die hundert Fehler der ‚Flusselegie‘“ wurde ins Englische übersetzt und gibt einen Überblick über mehrere inhaltliche Kritikpunkte der KPCh an der Serie (Xu 1992, 6–27): Erstens seien die Inhalte von „Flusselegie“ teilweise Ergebnisse des Denkens aus intellektuellen Kreisen, das zu sehr generalisiert und systematisiert und ohne konkrete Lösungsvorschläge durch das Kommunikationsmedium Fernsehen an das Volk gerichtet und übertragen wurde. Des Weiteren sei die Denkweise dieser intellektuellen Kreise im Eurozentrismus und Geodeterminismus verwurzelt, da sich „Flusselegie“ auf die Über- und Unterlegenheit bestimmter Zivilisationen bezieht. In diesem Zusammenhang wird drittens die historische Verzerrung kritisiert, die durch die Autoren von Flusselegie vorgenommen wurde: Eine zivilisatorische Rückständigkeit des heutigen China bedeute nicht, dass die Zivilisation des traditionellen China ebenfalls rückständig gewesen sein muss. Und viertens hätten die Autoren von „Flusselegie“ es nicht geschafft, eine klare Trennlinie zwischen Wissenschaft und Politik zu ziehen, und würden stattdessen das Scheitern des Sozialismus propagieren, was dazu führt, dass die Serie als politisch-kommentarischer Film bewertet wird.

Die geballte Kritik und die politisch motivierte Verfolgung der Autoren und Produzenten von „Flusselegie“ führte dazu, dass die Serie später nur noch im Ausland diskutiert werden konnte.

Diese hier aufgeführte Polarisierung zwischen sehr positiven Einschätzungen und scharfer Kritik wandelte sich allmählich zu eher akademischen und wissenschaftlichen Studien und Analysen, zu denen im Folgenden ein Überblick zu deutsch- und englischsprachiger Literatur gegeben werden soll.

Forschungsüberblick

Ein besonderer Fokus bei diesem Forschungsüberblick zu „Flusselegie“ soll auf deutsch- und englischsprachigen Werken liegen, die einen Überblick zur Debatte liefern, und solchen, die Informationen zum sozio-historischen Hintergrund geben, sowie gängige Übersetzungen vorstellen.

Eine deutsche Übersetzung des Drehbuchs zu „Flusselegie“ ist bei Peschel (1991) zu finden. Die beiden Chefautoren der Serie, Su Xiaokang und Wang Luxiang  haben zudem eine englische Übersetzung mitsamt Handbuch für Zuschauer mit Erklärungen zu in der Serie verwendeten Texten und Bildern veröffentlicht (Su und Wang 1991).

Die vierteljährlich erscheinende, akademische Zeitschrift Chinese Sociological Review (CSR), die einen besonderen Schwerpunkt auf chinesische Gesellschaften auf dem Festland und Taiwan sowie in Hong Kong und im Ausland legt, hat eine dreiteilige Serie zu „Flusselegie“ veröffentlicht. Der erste Teil (Heft 24, Ausgabe 2) verfügt ebenfalls über eine Übersetzung des Drehbuchs ins Englische. Im zweiten Teil der Serie (Heft 24, Ausgabe 4) werden vor allem Beiträge und Kommentare behandelt, die sich hauptsächlich auf die Zeit kurz nach der Erstausstrahlung im Juni 1988 konzentrieren. Der Regisseur von „Flusselegie“, Xia Jun (1992), erklärt dort, wie Bildsprache, Toneffekte, Erzählung und Skript in der Serie verschiedene Emotionen, Gedankengänge, Fragen und Symbole vermitteln. Wang und Qiu (1992) beschreiben die Wirkung dieser bildlichen und sprachlichen Mittel auf die chinesische Zuschauerschaft sowie die Intentionen ihrer der chinesischen Intelligenzia zugehörigen Schöpfer. Mit Guan (1992) werden weitere kritische Stimmen zur Serie zusammengetragen, darunter auch solche an dem oben bereits erwähnten Generalsekretär der KPCh und Unterstützer der Serie, Zhao Ziyang (R. Jin 1992). Eine Kritik an diesen kritischen Stimmen bietet Xie (1992). Die Ausgabe endet mit einem Kommentar des Chefautors von „Flusselegie“ Su Xiaokang (1992), der sich besorgt über die Popularität von „Flusselegie“ als politisches Phänomen und Debattengegenstand in Festlandchina, Taiwan und Übersee äußert.

Der dritte Teil der Serie von CSR zu „Flusselegie“ (Heft 25, Ausgabe 1) konzentriert sich auf aktuellere, zum Teil ins Englische übersetzte Diskussionsbeiträge zur Serie, die vor allem in Festlandchina und Hong Kong veröffentlicht wurden. Neben der oben bereits erwähnten Zusammenfassung der Kritik der KPCh an der Serie (Xu 1992), gibt es weitere Artikel, die sich mit der Kritik an der Serie befassen oder die Kritiken angreifen: Während Mo (1992) die „neue intellektuelle Strömung“, die „Flusselegie“ repräsentiert, als wirksame Strategie gegen die Einflussnahme der KPCh sieht, kritisiert Yang Xiaokai (1992) diese Strömung des „kulturellen Umdenkens“. Inwiefern das Nachbeben von „Flusselegie“ das Leben und die Ansichten ihrer Produzenten beeinflusst hat, zeigt der Artikel von Li Yang (1992) über einen weiteren Berater der Serie, Professor Li Yining.

Weitere Äußerungen der Autoren und Regisseure zu „Flusselegie“, die das Nachleben der Autoren aufzeigen, sind folgende: Zum einen gibt es eine gekürzte Fassung eines 1989 in den Niederlanden gehaltenen Vortrags von Su Xiaokang zur Debatte um „Flusselegie“, die außerdem aufgezeichnete Fragen der Zuhörer und Sus Antworten sowie ein Interview mit Su enthält (Chong 1989). Zum anderen hat Jin Guantao, Kommentator und wissenschaftlicher Berater bei „Flusselegie“, die Serie in sein Werk über das Kulturfieber eingebettet (Chen, Chen, und Jin, 1997). Es behandelt die Darstellung der chinesischen populären Kulturbewegung der achtziger Jahre vor dem Hintergrund der politischen Transformation nach Mao mit besonderem Fokus auf die politischen Entwicklungen, die Interaktion zwischen Politik und Kultur und insbesondere auf die Erfassung und das Verständnis der kulturellen Unterströmung, die die demokratischen Bewegungen der 1980er Jahre in China hervorgebracht hat (Chen, Chen, und Jin, 1997, iv). Das Buch ist aus der Sicht der Kulturaktivisten selbst geschrieben.

Mehr Informationen darüber, wie die chinesische Intelligenzia die chinesische (Kultur-)Politik in den 1980er Jahren geprägt hat, können in der Dissertation von Li Junpeng (2017, 22–34) gefunden werden. Als eines der ausführlichsten Werke zum historischen Hintergrund des Kulturfiebers ist das von Wang Jin zu nennen. Wang (1996, 1-7) gibt darin einen detaillierten Überblick auf sieben ideologische Momente, die den Übergang der Kulturpolitik des postrevolutionären China und das Kulturfieber der 1980er Jahre verdeutlichen und in ihren Augen einen historischen Moment der Gefahr und Unbestimmtheit darstellen. Einer dieser sieben ideologischen Momente bildet dabei „Flusselegie“. Wang (1996, 118–36) untersucht vor allem die Herangehensweise von „Flusselegie“ an das Konzept von Geschichte, kultureller Symbolik und der Beziehung zwischen Nationalismus und Aufklärung und kritisiert diese.

Das im deutschen Sprachraum ausführlichste Werk zu „Flusselegie“ ist die Dissertation von Christina Neder (1996). Sie enthält Kapitel zum sozio-historischem Hintergrund der 1980er Jahre in China, und veranschaulicht klar den Debattenverlauf vor und nach der Niederschlagung der Proteste auf dem Tian’anmen-Platz.

(Olivia Wenzel, 17.04.2023)

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