Untertanen oder Bürger*innen? Ein Historiker über öffentlichen Raum im mittelalterlichen Chang’an (2009) – Weiterführende Informationen

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Urheber*in: Rong Xinjiang 荣新江 (1960- )Titel: „Cong wangzhai dao siguan: Tangdai Chang‘an “gonggong kongjian”de kuoda yu shehui bianqian“ 从王宅到寺观——唐代长安“公共空间”的扩大与社会变迁 [Von prinzlichen Anwesen zu Tempeln: Die Erweiterung des „öffentlichen Raums“ in Chang‘an und der soziale Wandel]Entstehungsdatum und -ort: Beijing, 2009Objektbeschreibung: Zeitungsartikel Rechte: Rong Xinjiang hat der Übersetzung und Veröffentlichung des Textes am 26.01.2023 zugestimmt. Übersetzung: Shao Xinyi, Odila Schröder, Jonas SchmidRechte der Übersetzung: CC BY-SA 4.0

Einordnung: Der Autor dieses Artikels, Rong Xinjiang, geht von Theorien über den öffentlichen Raum aus und argumentiert anhand dieser Theorien, dass die Entstehung eines öffentlichen Raumes in der Tang-zeitlichen Hauptstadt Chang’an einen ersten Schritt in Richtung Moderne darstellt. Dabei greift er zurück auf eine These des japanischen Historikers Naitō Torajirō, der den Beginn der chinesischen Moderne ebenfalls während des Übergangs von der Tang- zur Song-Dynastie verortet. Rong sieht in den Entwicklungen im Tang-zeitlichen Chang’an, insbesondere in der Erweiterung des öffentlichen Raums, erste Anzeichen einer modernen Stadtentwicklung. Im Tang-zeitlichen Chang’an wurden private Residenzen von Angehörigen der Kaiserfamilie in offen zugängliche buddhistische und daoistische Tempel umgewandelt. Diese Tempel erweiterten den städtischen öffentlichen Raum, sodass sich die Menschen in den Tempeln nicht nur zur Religionsausübung, sondern auch zur Erholung, zum Handel und öffentlichen Diskurs versammelten, was laut Rong zu einer neuen, modernen städtischen Zivilisation in der späten Tang-Dynastie und dann auch in der Song-Dynastie führte.

Im Folgenden werden zum besseren Verständnis des Artikels Informationen über den Autor und den Artikel gegeben. Daran anschließend finden sich grundlegende Informationen über Chang’an, eine kurze Geschichte der kaiserzeitlichen Stadtentwicklung in China, sowie Hintergrundwissen zur These der Transformation von der Tang- zur Song-Zeit und zu Rongs These um die Relevanz des öffentlichen Raums für eine „moderne“ Gesellschaft.

Der Autor

Rong Xinjiang 荣新江, 1960 in Tianjin 天津 geboren, ist ein chinesischer Historiker. Im Jahr 1978 begann er sein Studium an der Fakultät für Geschichte an der renommierten Peking Universität (Beijing Daxue 北京大学). Nach dem Abschluss im Jahr 1985 absolvierte er akademische Aufenthalte und Fellowships u.a. in den Niederlanden, Japan, Großbritannien, Hongkong. Heute arbeitet er als der Professor des Forschungszentrums für mittelalterliche chinesische Geschichte an der Peking Universität. Er gilt als Experte für die Geschichte der Tang-Dynastie und insbesondere der Seidenstraße damals.

Der hier übersetzte Artikel wurde 2009 in der Zeitung Guangming Daily (Guangming Ribao 光明日报) veröffentlicht. Eine ausführlichere Version des Artikels – mit Fußnoten und Verweisen zu den historischen Quellen – erschien bereits 2008 (Rong 2008).

Chang’an

Chang’an, heute in der Nähe von Xi’an gelegen, war die Hauptstadt der Tang-Dynastie (618-907).  Sie war das politische, militärische und soziale Zentrum des Tang-Reiches und auch das Zentrum des kulturellen Austausches zwischen Ost und West. Die berühmte Seidenstraße, die während der Westlichen Han-Dynastie und der Tang-Dynastie entstanden war, nahm ihren Anfang in Chang’an (Kiang 2014).

Mit über einer Million Einwohnern war Chang’an zur Blütezeit der Tang-Dynastie (694) die größte und wohlhabendste Metropole ihrer Zeit weltweit (Kiang 2014). Die Stadt erstreckte sich auf etwa 84 Quadratkilometern und war damit sieben Mal größer als das damalige Rom (Canepa 2010, Hsueh 2016).

Chang’an war Teil einer alten städtebaulichen Tradition. Sie ist ein besonderes Beispiel in einem langen Entwicklungsprozess, der viele Variationen derselben Grundform hervorgebracht hat. Der Stadtplan der Tang-zeitlichen Stadt Chang’an diente als Vorbild für den Bau von Städten im alten China, vor allem für den Bau von Hauptstädten. Er beeinflusste auch den Bau der Hauptstädte benachbarter Staaten in dieser Zeit, wie zum Beispiel Heian-kyo in Japan. Im Laufe der chinesischen Geschichte war Chang‘ an die Hauptstadt von 13 Dynastien.

Städte im kaiserzeitlichen China

Im Gegensatz zu vielen Städten in Europa, die auf dem Austausch zwischen Stadtstaaten bauten, wurden chinesische Städte auf einer landwirtschaftlichen Grundversorgung aufgebaut. Der Zweck der Stadt war der Schutz des Monarchen vor Angriffen und die meisten Einwohner der Stadt waren Bauern, die vom Land außerhalb der Stadt abhängig waren (Seo 2021). Die wichtigsten Veränderungen traditioneller chinesischer Städte lassen sich anhand der Hauptstädte zeigen. Es wird allgemein angenommen, dass diese drei Entwicklungsphasen durchliefen: die Qin- und Han-Periode, die durch Palaststädte gekennzeichnet war; die Sui- und Tang-Periode, die durch getrennte „Wohnräume und Marktplätze“ (fangshi 坊市) gekennzeichnet war; und die Song-Dynastie und spätere Perioden, in denen Wohnräume und Märkte zusammengelegt und Geschäfte in den Straßen eingerichtet wurden.

Die Tang-zeitliche Stadt Chang’an hatte ihren schachbrettartigen Stadtplan aus der Sui-Dynastie nahezu unverändert übernommen (Kiang 2014). Ein solcher Stadtplan war zum Schutz militärischer und politischer Zentren wie der Hauptstadt konzipiert worden. Nach diesem System war die Stadt in quadratische Wohnblöcke (fang ) unterteilt, die mit hohen Umfassungsmauern umgegeben waren. Diese Wohnblöcke umfassten die Wohnhäuser der Einwohner*innen, die daoistischen und buddhistischen Tempel, die kaiserlichen Anwesen und die Gärten sowie der Ost- und Westmarkt. Die kaiserliche Stadt und der Palast waren das Zentrum der Stadt. Diese regelmäßige und gut organisierte Form erleichterte auch die Überwachung der Stadt und die Wasserversorgung (Hao 2017). Chang’an war also sowohl eine politische als auch eine militärische Festung, die nach einem strengen Bauplan errichtet wurde, um dem Herrscher die Verwaltung zu erleichtern.

Jedoch befand sich das Tang-zeitliche Chang’an an einem wichtigen Wendepunkt der Stadtentwicklung (Hao 2017). Mit der Aufwertung des Daoismus durch den Gaozong Kaiser stifteten Beamte und kaiserliche Verwandte unter verschiedenen Bedingungen und aus unterschiedlichen Motiven ihre Anwesen und wandelten sie in Klöster und Tempel um. Um das Jahr 755 gab es in Chang’an mehr als 100 buddhistische Tempel und ca. 10 daoistische Klöster (Kiang 2014).

Forschungsdebatten: Tang-Song-Transformation und öffentlicher Raum

Dieser Wendepunkt in der Stadtentwicklung Chang’ans spielt auch eine Rolle für die wissenschaftlichen Debatten zur sogenannten „Tang-Song-Transformation“. Der japanische Historiker Naitō Torajirō (1866-1934) entwickelte in den 1920er-Jahren die These, dass es zwischen der Tang- und der Song-Dynastie einen Epochenbruch vom Mittelalter zur Moderne gab. Er vertrat die Ansicht, dass die Tang-Dynastie das Ende des Mittelalters und die Song-Dynastie den Beginn der früh-modernen Zeit markiere (Fogel 1984; Luo 2005).

Rong Xinjiang wiederum fokussiert sich auf die stadtplanerischen Veränderungen und insbesondere die Rolle buddhistisch-daoistischer Tempel in Chang’an. Rong argumentiert, dass die Freigabe vormals privater Residenzen von Angehörigen der Kaiserfamilie und deren Umwandlung in Räume öffentlichen Lebens ein entscheidender Schritt hin zu einer „modernen“ chinesischen Stadtentwicklung darstellt.

Der Begriff „öffentlicher Raum“ tauchte erstmals als spezifischer Ausdruck in der soziologischen und politischen Literatur der 1950er-Jahre auf, vertreten durch den britischen Soziologen Charles Madge und die politische Philosophin Hannah Arendt. Der öffentliche Raum, ein Überbegriff des städtischen Raumes, hat nach Stephen Carr (1992) folgende wichtigen Eigenschaften:

  • Zugänglichkeit: Carr betont, dass der Raum von Menschen mit unterschiedlichem sozialem Status, verschiedener Nationalitäten genutzt und diversen Zwecken dienen kann.
  • Öffentlichkeit: Diese Eigenschaft steht dem privat genutzten Raum gegenüber.
  • Symbolik: Der Mensch gestaltet Städte und Räume bewusst nach seinen Bedürfnissen und prägt durch die Gestaltung Lebensstile und Gewohnheiten der Bewohner. Städtische Raumplanung wird auch als Mittel gesehen, dem Raum Sinn und Zweck zu geben. Dabei geht es um die symbolische Bedeutung des Raumes. Je nach gesellschaftlicher Entwicklung und Mentalitätswandel werden die Raumnutzer*innen dem öffentlichen Raum jedoch andere symbolische Bedeutungen zuschreiben.

 

Basierend auf der Idee eines Zusammenhangs zwischen öffentlichem Raum und der Entwicklung einer „modernen“ Gesellschaft zeigt Rong, wie sich ebensolche öffentlichen Räume bereits im Tang-zeitlichen Chang’an herausbildeten. Diese Entwicklungen werden auch von anderen Forscher*innen beschrieben.

  • Rituale an dynastischen Jahrestagen (z.B. zur Geburtsfeier des Kaisers der Xuanzong-Ära, 729) machten Tempel zum öffentlichen, politischen Raum (Wright 1965, Hao 2017). Gleichzeitig waren der Kaiser und der Verwaltungsapparat direkt in den Prozess der Umsetzung dieser klösterlichen Veranstaltungen und Rituale eingebunden.
  • Nach dem Glaubensgrundsatz des Buddhismus „alle Wesen sind gleichberechtigt“ waren die Tempel für alle offen. Das begünstigte große Menschenansammlungen, die auch zur Unterhaltung zusammenkamen. Beim Sujiang (die volkstümliche Erzählweise von buddhistischen Geschichten) erzählen Mönche und Nonnen die Geschichten aus Sutras in vereinfachter Form, damit die Öffentlichkeit diese verstehen konnte (Hao 2017). Die Freiflächen von Klöstern wurden in späteren Jahren auch als Theaterplatz genutzt. Zusätzlich zu den regulären kulturellen Verbreitungsaktivitäten gab es auf dem Theaterplatz Jonglage, musikalische Darbietungen und Akrobatik usw. als Unterhaltung (Canepa 2010).
  • Die Tempel verteilten gemäß der buddhistischen Lehre Spenden an die Bevölkerung, und so entwickelte sich allmählich die Funktion des Klosters als öffentlicher Ruhe- und Übernachtungsort. Chang’an war zusätzlich noch der Versammlungsort der kaiserlichen Prüfungskandidaten. In einer Zeit, in der die meisten anderen Herbergen auf eine bestimmte Gruppe von Menschen ausgerichtet waren, waren die kostenlosen oder billigen Klöster eine Alternative für Prüflinge. Da die Klöster von den kaiserlichen Verwandten bzw. reichen Familien gestiftet waren, waren sie schön, reich an Kultur und boten Raum für die öffentliche Versammlung von Gelehrten und Dichtern. Tempel und Klöster wurden also ein Ort, an dem die Prüflinge leben und studieren, sich treffen und austauschen konnten (Hao 2017).
  • Überdies waren Klostergelände weitläufig und landschaftlich schön gestaltet und mit wertvollen Blumen und Pflanzen bepflanzt, um die Öffentlichkeit anzuziehen (Cao 1985, Hao 2017).

(Shao Xinyi und Odila Schröder, 25.04.2023)

Verwendete Literatur

Bian, Lanchun, Yan Tang und Zhenjiang Shen. 2021. Chinese Urban Planning and Construction: From Historical Wisdom to Modern Miracles. Springer Nature. Zitieren
Canepa, Matthew P. 2010. Distant Displays of Power: Understanding Cross-Cultural Interaction Among the Elites of Rome, Sasanian Iran and Sui-Tang China. Ars Orientalis 38: 121–154. https://experts.umn.edu/en/publications/distant-displays-of-power-understanding-cross-cultural-interactio (zugegriffen: 25. April 2023). Zitieren
Carr, Stephen. 1992. Public Space. Cambridge University Press. Zitieren
Fogel, Joshua A. 1984. Politics and Sinology: The Case of Naitō Konan (1866-1934). Council on East Asian Studies, Harvard University. Zitieren
Hsueh, Meng-chi. 2016. ‪Horizontally Shifted and Vertically Superimposed Ancient Cities: Comparing Urban Histories of Chang’an and Rome‬. Athens Journal of History 2, Nr. 2: 111–128. https://scholar.google.com/citations?view_op=view_citation&hl=en&user=ftm7oAsAAAAJ&citation_for_view=ftm7oAsAAAAJ:2osOgNQ5qMEC (zugegriffen: 25. April 2023). Zitieren
Kiang, Heng Chye. 2014. Visualizing Everyday Life in the CityA Categorization System for Residential Wards in Tang Chang’an. Journal of the Society of Architectural Historians 73, Nr. 1 (1. März): 91–117. http://doi.org/10.1525/jsah.2014.73.1.91, https://online.ucpress.edu/jsah/article/73/1/91/60443/Visualizing-Everyday-Life-in-the-CityA (zugegriffen: 25. April 2023). Zitieren
Wright, Arthur F. 1965. Symbolism and Function: Reflections on Changan and Other Great Cities. The Journal of Asian Studies 24, Nr. 4 (August): 667–679. http://doi.org/10.2307/2051112, https://www.cambridge.org/core/journals/journal-of-asian-studies/article/abs/symbolism-and-function-reflections-on-changan-and-other-great-cities/1B6BB17E09A6ECF2EAE83818FB0158CF# (zugegriffen: 25. April 2023). Zitieren
Yinan, Luo. 2005. A Study of the Changes in the Tang—Song Transition Model. Journal of Song-Yuan Studies, Nr. 35: 99–127. https://www.jstor.org/stable/23496185 (zugegriffen: 25. April 2023). Zitieren
妹尾达彦. 2012. 长安的都市规划. 三秦出版社. Zitieren
曹尔琴. 1985. 唐长安的寺观及有关的文化. In: 中国古都研究, hg. von 中国古都学会, 144–168. Hangzhou: 浙江人民出版社. Zitieren
李华瑞. 2003. 20世纪中日"唐宋变革"观研究述评. 史学理论研究 4: 87–95. Zitieren
榮新江. 2008. 从王宅到寺观:唐代长安公共空间的扩大与社会变迁. In: 基调与变奏:七至二十世纪的中国 ① 社会·思想, hg. von 黃寬重, 101–117. Taipeh: National Cheng-Chi University, History Department. Zitieren
郝鹏展. 2017. 公共空间、城市传播与社会控制 ——基于隋唐长安城的研究. 陕西师范大学. Zitieren