Ein Chinese in London über den sogenannten „Boxeraufstand“ (1900) – Weiterführende Informationen

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UrheberTitelDatumObjektbeschreibungÜbersetzungRechte der ÜbersetzungBildrechteEinordnung
Urheber*in: Daily Express, Autor unbekanntTitel: THE OTHER SIDE OF THE QUESTION. WHAT A BOXER HAS TO SAY ON THE CHINESE CRISIS.Entstehungsdatum und -ort: London 13.06.1900Objektbeschreibung: ZeitungsartikelÜbersetzung: Justus Scheibert. Der Krieg in China 1900-1901 nebst Beschreibung d. Sitten, Gebräuche u. Geschichte d. Landes. Bd. 1. Berlin: Schröder, 1903, S. 2-6.Rechte der Übersetzung: GemeinfreiBildrechte: CC BY-SA 4.0

Einordnung: Die vorliegende Quelle – die Aussagen eines in London lebenden Chinesen, die am 13. Juni 1900 von der britischen Zeitung „Daily Telegraph“ veröffentlicht wurden – findet sich in mehreren deutschen Schulbüchern und Lernmaterialien zur chinesischen Geschichte als Beispiel für die chinesische Sichtweise auf die Proteste der im Ausland „Boxer“ genannten chinesischen Gruppierungen in den Jahren 1899-1901 beziehungsweise für die chinesische Sichtweise auf den ausländischen Kolonialismus und Imperialismus in China. Dieser Einordnungstext bietet weiterführende Informationen zum historischen Hintergrund (dem sogenannten „Boxeraufstand“), zur britischen Zeitung Daily Express, dem deutschen Übersetzer des Artikels, zu anderen chinesischen Stimmen sowie zur Verwendung in deutschen Schulbüchern.

Dabei wird deutlich, dass eine alleinige Verwendung dieser Quelle im Unterricht problematisch ist: Zum einen sind die Hintergründe über den Urheber unbekannt, zum anderen ist dies nur eine Perspektive unter verschiedenen chinesischen zum sogenannten „Boxeraufstand“. Auch unter chinesischen Zeitgenossen gab es viele, die die „Boxer“ – im Gegensatz zur vorliegenden Quelle sehr kritisch sahen.

 

Historischer Hintergrund: Der sogenannte „Boxeraufstand

Zwischen Großbritanniens Sieg im Opiumkrieg 1842 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung in China 1945 waren die Beziehungen zwischen China und der Welt stark asymmetrisch. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete.

Mit den europäischen Kolonialisten kamen nicht nur Händler und Soldaten, sondern auch Missionare, die das Christentum verbreiten wollten. Diese von den Kolonialmächten beschützten Missionare griffen immer wieder zugunsten chinesischer Christen in örtliche Konflikte ein. Unter der Landbevölkerung entwickelte sich so vielerorts ein Hass auf Missionare und damit Ausländer ganz allgemein (Amelung 1998; Dabringhaus 1995, 21-38).

Großflächige Überschwemmungen und Dürren in den Jahren vor 1900 führten zu einer Vielzahl Arbeitsloser und Unzufriedener (Amelung 1998). Bald gingen diese Gruppen aus verarmten Bauern und Arbeitslosen unter dem Schlagwort „Unterstützt die Qing, vernichtet das Ausländische“ (fu Qing mieyang 扶清滅洋) gegen ausländische Symbole vor – sie zerstörten Telegraphenmasten, Eisenbahnlinien, Kirchen und ermordeten auch viele chinesische Christ*innen. Selber nannten sie sich „in Rechtschaffenheit vereinte Fäuste“ (Yihequan 義和拳) oder auch „in Rechtschaffenheit vereinte Milizen“ (Yihetuan 義和團) – im Ausland wurden sie aufgrund ihrer Vorliebe für chinesische Kampfkunstpraktiken hingegen als „Boxer“ bekannt.

Mit Unterstützung der kaiserlichen-chinesischen Truppen, umstellten die Yihetuan 1900 das ausländische Gesandtschaftsviertel in der Hauptstadt Beijing. Aufgeputscht von Falschmeldungen über Massaker an den Gesandten und ihren Familien in Zeitungen weltweit schickten acht Staaten (darunter auch Deutschland) militärische Hilfe nach China. Nach der Besetzung Beijings durch ausländische Truppen und der Flucht der kaiserlichen Familie war der Krieg zugunsten der ausländischen Staaten entschieden – es folgten Plünderungen und „Strafexpeditionen“ der ausländischen Truppen. Bei diesen taten sich besonders die Deutschen hervor – angefeuert von Kaiser Wilhelms Hunnenrede, in der er den deutschen Soldaten aufgetragen hatte in China kein „Pardon“ zu geben.

Am siebten September 1901 musste die Qing-Regierung das im Ausland sogenannte „Boxer-Protokoll“ unterzeichnen, das neben Forderungen wie der Schleifung von Festungsbauten und der Stationierung ausländische Soldaten in China auch hohe Reparationsforderungen umfasste. Bis heute finden sich von den Soldaten in China geraubte oder gekaufte Kunstgegenstände in europäischen Museen – auch in Berlin.

Aus der umfassenden Literatur ragt mit einem fundierten und gleichzeitig knappen Überblick zu verschiedenen Aspekten des sogenannten „Boxeraufstandes“ heraus: Leutner und Mühlhahn 2007.

 

Die Zeitung Daily Express und die „Boxer“

Die britische Zeitung „Daily Express“ erschien erstmals am 24. April 1900 in London. Sie entwickelte sich bald zu einem bekannten Beispiel für kleinformatige Boulevardzeitungen („tabloid“), die um das Jahr 1900 einen Aufschwung erlebten: Zwischen 1880 und 1914 vervierfachte sich die Anzahl der in Großbritannien verkauften Tageszeitungen – dieser Anstieg ging hauptsächlich auf die Boulevardzeitungen zurück. 1896 war die Zeitschrift „Daily Mail“ gegründet worden, die nicht nur informieren, sondern auch unterhalten wollte. Der „Daily Express“, der ebenfalls einen halben Penny kostete, wurde als ihre Konkurrenz gegründet (Rowbotham, Stevenson, Pegg 2013, 84-85).

Die vorliegende Quelle von Mitte Juni 1900 erscheint in einem Zeitraum, in dem die britischen Medien und auch der „Daily Express“ begonnen hatten, sich stärker mit den „Boxern“ in China beschäftigen, während zuvor noch der „Burenkrieg“ in Südafrika die Titelseiten bestimmte. Im April und Mai 1900 zerstörten Einheiten der „Boxer“ die Eisenbahn- und Telegraphenverbindung zwischen Beijing und der in der angrenzenden Provinz liegenden Stadt Baoding, dabei werden auch ausländische Angestellte getötet. Es kam auch zu Tötungen von ausländischen Missionaren und chinesischen Christ*innen – über erstere berichtete auch der „Daily Express“ mehrfach. Im Laufe des Monats Mai wurden auch die ausländischen Botschafter im Gesandtschaftsviertel der Hauptstadt Beijing auf die Gefahr der auf Beijing vorrückenden „Boxer“ aufmerksam und fordern Schutztruppen an. Bis 3. Juni erreichten 450 ausländische Soldaten das Gesandtschaftsviertel.

Am 13. Juni drangen dann erstmals größere Gruppen von „Boxern“ in die Hauptstadt setzen Kirchen, chinesische Geschäfte mit ausländischen Waren und Häuser in Brand und töten chinesische Christen. Am 17. Juni wurde das Gesandtschaftsviertel von Regierungstruppen umstellt und belagert, gleichzeitig eroberten ausländische Truppen das Dagu-Fort an der Küste bei Tianjin, um nach Beijing vorzurücken – dies geschah jedoch nur sehr langsam. Am 16. Juni veröffentlicht die Zeitung „Daily Mail“ Falschmeldungen, dass alle Ausländer im Gesandtschaftsviertel in Beijing massakriert worden seien – diese Nachricht wird in den darauffolgenden Tagen und Wochen auch von anderen Medien wie dem „Daily Express“ übernommen.

Die vorliegende Quelle erschien also zu einem Zeitpunkt als der Konflikt und die europäische Berichterstattung sich zuzuspitzen begann. Europäische Medien wie der „Daily Express“ hatten bereits über durch „Boxer“ getötete Missionare berichtet, aber das Gesandtschaftsviertel in Beijing war noch nicht umstellt und belagert worden. Auch vonseiten der Qing-Regierung hatte es noch keine Kriegserklärung gegenüber den ausländischen Staaten gegeben. Die militärische Lage und das Kräfteverhältnis waren ebenfalls unklar: In einem Artikel am Tag zuvor (12.06.1900) verglich der „Daily Express“ auf Seite 6 die Mannstärke europäischer Armeen mit einer möglichen chinesischen Armee, wenn die Bevölkerung nach europäischem Vorbild bewaffnet werden würde. Der kurze Artikel beginnt damit, China als „gelbe Gefahr“ darzustellen, deren mögliche militärische Massen alle ausländischen Heere und sogar die Bevölkerung von London übertreffen würde, meint dann aber, dass aufgrund der schlechten Organisation chinesischer Soldaten dies in der Realität eine geringere Gefahr darstelle als auf den ersten Blick.

Die vorliegende Quelle erschien am 13.06.1900 auf der Titelseite des „Daily Express“. Über den angeblichen chinesischen Urheber der Aussagen ist nichts weiter bekannt, was über die Aussagen des Artikels im „Daily Express“ hinausgeht: Dieser lebe in London, spreche fließende Englisch und habe einen hohen Posten in einer Handelsgesellschaft mit Fokus auf Asien inne („There is living in London––in fact he holds a high position in a firm of Eastern merchants––a Chinese gentleman who has for many years belonged to the Boxer’s Secret Society in China“). Merkwürdig ist, dass laut dem „Daily Express“ dieser in London lebende Chinese bereits seit vielen Jahren ein Teil der Boxerbewegung gewesen sei. Durch den Vergleich mit anderen zeitgenössischen chinesischen Perspektiven (siehe Abschnitt „Chinesische Stimmen um 1900“ weiter unten) wird jedoch deutlich, dass ähnliche Sichtweisen zur damaligen Zeit auch teilweise von anderen Personen vertreten wurden.

Auf der zweiten Seite dieser Ausgabe wird nochmal von einem namentlich unbekannten britischen Journalisten auf den Artikel – die Aussagen eines in London lebenden Chinesen zu den „Boxern“ – eingegangen. Dabei wird deutlich, dass die Aussagen des Chinesen auf der Titelseite nicht veröffentlich werden, um sie direkt abzuwerten oder als lächerlich darzustellen. Vielmehr wird die Kritik am Vorgehen ausländischer Staaten (darunter auch Großbritannien) in China als teils berechtigt wahrgenommen. So heißt es im kurzen Artikel „Der Glaube des Boxers“ (The Boxer’s Creed) auf der zweiten Seite: “Most of us regard the Chinese “Boxer” as an ignorant fanatic, whose intolerant hatred of foreigners leads him to pillage and murder. Hear the other side, as a member of the “Boxers” expounds it to a representative of this paper. He is, in effect, what the Empress of China called him––“in the main, a good and patriotic citizien.” Missionaries of a young faith, a creed that seems childish to him by comparison with his own religion, the duration of which is reckoned in thousands of years, come to teach him that he and is forefathers for a hundred generations have been following the wrong path. Can we wonder that he resents it?

Let it be well understood that we do not slight the noble purpose and splendid self-sacrifice of our missionaries. Let it be even better understood that we do not defend the hoary and magnificent heathenism of the Chinese. But it is the most true and most humble Christianity to make allowance for the inherited beliefs of others, to put ourselves in their place, and view the questions of reform in religion and advance in civilization from their standpoint.

What is the “Boxer,” as a member of the society represents him? He is a patriot and a zealot, a mistaken martyr. […]

To this calm and satisfied Celestial we Europeans come with our rush and hurry and bustle of progress, our noisy railroads, our armaments of war and death, our diverse and contentious forms of a creed that is new and strange to him. Can we wonder that he hates us, and accepts the necessity of killing us off the face of the earth as the only method of securing his peace from our disturbance? We are to him like the buzzing fly in the sleeping room, and he would accord us just the same grace as we would give the fly. If the insect will only go out through the open window, he wishes it no harm; if it persists in troubling his rest, he would crush it. That is, in brief, the philosophy of the “Boxer,” and it is eminently human and natural.”

Der Balanceakt des britischen Journalisten wird deutlich: Er glaubt einerseits an die eigene Überlegenheit und an Mission als gerechte Sache, versucht aber auch die Sichtweise der „Boxer“ nachzuvollziehen. Diese ambivalente und differenzierte Beurteilung ist dann in der deutschen Übersetzung nicht mehr zu finden.

 

Zur deutschen Übersetzung

Der Artikel des Daily Express vom 13.06.1900 wurde fast in Gänze von Justus Scheibert (1831-1903) in seinem zweibändigen Werk „Der Krieg in China 1900-1901 nebst Beschreibung der Sitten, Gebräuche und Geschichte des Landes“ ins Deutsche übersetzt und 1903 veröffentlicht (Scheibert 1903a; Scheibert 1903b). Scheibert trat nach dem Abitur 1849 in die Preußische Armee ein und wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einem der bekanntesten Militärschriftsteller in Deutschland – er berichtete in seinen Werken unter anderem aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Burenkrieg (Wendt 2004, 411-413). Es ist unklar, ob und von wann bis wann er auch während des „Boxeraufstands“ deutsche Soldaten in China begleitete. In seinem Werk schreibt er teilweise aus der „wir“-Perspektive und es wirkt, als wäre er ab dem 21. Juni 1900 in China gewesen (Scheibert 1903b, 226).

Scheiberts knapp 800 Seiten umfassendes Werk wollte nicht nur einen umfassenden Überblick über den Kriegsverlauf geben, sondern auch allgemein Wissen über die chinesische Gesellschaft einer deutschen Leser*innenschaft vermitteln (Wünsche 2008, 18). Sein erster Band (in dem direkt am Anfang die Übersetzung des Artikels des „Daily Express“ zu finden ist) gibt einen Überblick über Geografie sowie Gesellschaft und Kultur Chinas („Religion, Philosophie und Aberglaube“, „Das Beamtentum“, „Die Rechtspflege“, „Fest- und Feiertage“). Der zweite Band schildert den Verlauf des Aufstandes und seiner Niederschlagung durch ausländische Truppen. In Scheiberts Darstellung des „Boxeraufstandes“ zeigt sich, so die Historikerin Dietlind Wünsche, dass er und sein Blick auf China typisch für den damals in Deutschland herrschenden Zeitgeist war (Wünsche 2008, 37). China stellte Scheibert sehr negativ da, die Chines*innen als grausam und barbarisch und die Beteiligung deutscher Soldaten an der Niederschlagung der „Boxer“ als Möglichkeit als glorreiche Möglichkeit der Rache. Seinen zweiten Band beginnt er beispielsweise mit den Worten: „Die ganze Geschichte Chinas ist mit Wirrnissen angefüllt, bei denen sich die Bevölkerung durch scheußlich Grausamkeiten und Mordlust auszeichnete. Uns Deutsche haben diese Wirren in früheren Zeiten wenig berührt. Sie lagen fernab von unseren Interessen. Erst jetzt sind sie uns fühlbar geworden, wo Söhne und Töchter unseres Landes, vereint mit den Gesandtschaften der uns befreundeten Staaten, dadurch in Mitleidenschaft gezogen wurden.“ (Scheibert 1903b, 1)

Die Übersetzung des Artikels aus dem „Daily Express“ beendet er mit den Worten: „Es mag dahingestellt bleiben, ob wirklich ein in London lebender Chinese solche Ansichten geäußert hat. Daß aber ein großer Teil des chinesischen Volkes sich thatsächlich zu diesen Anschauungen — deren zahllose Irrtümer, Fälschungen und Überhebungen sich später im Laufe unserer Schilderungen und Untersuchungen ergeben werden — bekennt, darüber darf kein Zweifel herrschen.

Wir wollen an dieser Stelle nur einem einzigen Punkte näher treten. Wenn die Chinesen den Europäern zurufen „laßt uns in Ruhe!", so kann man ihnen mit demselben Rechte Vorhalten, daß sie unaufgefordert in ungezählten Massen sich ans den zwischen Asien und Australien belegenen Inselgruppen niedergelassen haben und, trotz allen Protestes der dortigen Bevölkerung, sich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, namentlich aber in Kalifornien, eingenistet haben. Erst die Anti-Chinesen-Bill hat der Einwanderung der bezopften Söhne des himmlischen Reiches Einhalt gethan.

Da man vor etwa fünfzehn Jahren verflicht hat, Kulis auch nach Deutschland als ländliche Arbeiter zu ziehen und sie ans deutschen Schiffen als Heizer und dergleichen zu verwenden, so ist die Frage des Wettbewerbs zwischen der mongolischen und kaukasischen Rasse wichtig genug, um ihr ein besonderes Kapitel einzuräumen.“ (Scheibert 1903a, 6-7)

Der Handel mit chinesischen Arbeitskräften – sogenannten Kulis, die oft unter Sklaverei-ähnlichen Zuständen arbeiten mussten – wurde in westlichen Staaten (auch von Scheibert) als Gefahr für einheimische Arbeiter gesehen, woraus sich die rassistische Vorstellung von Chines*innen als einer „Gelben Gefahr“ entwickelte. An diesen Aussagen Scheiberts wird deutlich, dass in Deutschland zur Zeit des „Boxeraufstandes“ der Blick auf Chines*innen ein entmenschlichender (wie bei Tieren ist von „eingenistet“ die Rede) und rassistischer (angeblicher „Wettbewerb zwischen der mongolischen und kaukasischen Rasse“) war.

 

Chinesische Stimmen um 1900

Auch wenn unklar bleibt, ob die Aussagen im Artikel des „Daily Express“ vom 13.06.1900 tatsächlich von einem in London lebenden Chinesen stammen und wer er war, können die Aussagen dennoch als teilweise typisch für eine chinesische Sichtweise (unter mehreren unterschiedlichen) auf die „Boxer“ und die ausländischen Staaten stehen. Denn die Argumentation des unbekannten Chinesen im Daily Express ähnelt in Teilen der von Gu Hongming 辜鴻銘 (1857-1928), einem chinesischsprachigen Intellektuellen, der in englischsprachigen Aufsätzen dem damals in Europa geläufigen Bild von China widersprach.

Gu Hongming wurde in Britisch-Malaya (heute Malaysia) geboren. Sein Vater, dessen

Vorfahren ursprünglich aus der südostchinesischen Provinz Fujian stammte, arbeitete als Aufseher auf einer britischen Plantage, seine Mutter war Portugiesin. Der britische Plantagenbesitzer schickte Gu im Alter von zehn Jahren auf eine schottische Schule, später studierte er Gu in Großbritannien, Deutschland und Frankreich und lernte viele verschiedene europäische Sprachen. 1885 ging er zum ersten Mal nach China, wo er Mitarbeiter des in der Selbstärkungsbewegung aktiven Beamten Zhang Zhidong 張之洞 wurde. Bekannt und – im sich schnell verändernden China nach dem Ende des Kaiserreichs 1911 – auch berüchtigt wurde er für sein Festhalten an von ihm als traditionell verstandenen chinesischen Wertvorstellungen und Warnungen vor einer Verwestlichung. Die Sinologin Gotelind Müller schreibt über Gus englischsprachige Veröffentlichungen in den Jahren ab 1900: „Zentraler Vorwurf Gus war die existentielle Bedrohung der alt-ehrwürdigen chinesischen Zivilisation durch westliche Ideen - und Kanonenboote. […] Entsprechend ergriff er bei den sich Ende des 19. Jahrhunderts mehrenden Konflikten zwischen westlichen Missionaren und ihren Konvertiten mit Teilen der chinesischen Bevölkerung wie auch bei der Boxerkrise Partei gegen die Westler, deren Präsenz in China erst die Unruhen provoziert hätten […]. […] Gus Strategie war es, durch stete Vergleiche des tatsächlichen Geschehens mit westlichen moralischen Ansprüchen oder mit vermeintlich parallelen Vorgängen in der westlichen Geschichte Verständnis für die chinesischen Reaktionen zu wecken und so den dominanten Meinungstrends in der englischsprachigen Presse entgegenzuarbeiten. Nolens volens geriet er dabei - wohl nicht unbeabsichtigt, wie sein häufig gebrauchtes Pseudonym »a Chinese« (später dann »Sinensis«) nahelegt - in die Rolle der »Stimme« Chinas.“ (Müller 2006, 9-10)

In seinem sich direkt auf die sogenannten „Boxer“ beziehenden Text “Defensio Populi Ad Populus, or The Modern Missionary Missionaries Considered in Relation to the Recent Riots” (Gu 1901, 35-50) beispielsweise sieht Gu das Christentum nicht als einen Weg, um die Chinesen zu besseren Menschen zu machen. Im Gegenteil nur die Bösen unter ihnen und nicht die wahrlich Gebildeten würden zum Christentum konvertieren (Gu 1901, 36-37). Die Missionare hätten auch keine aufklärerischen Ideen nach China gebracht und seien alles in allem für den „Boxeraufstand“ verantwortlich.

In einem anderen (ins Deutsche übersetzten) Aufsatz „Kultur und Anarchie“ (Gu 1911, 1-17) bezeichnet Gu die Kolonialpolitik ausländischer Staaten in China als „modernen Kreuzzug“ und widerspricht der rassistischen Idee einer „Gelben Gefahr“, die angeblich von China und den Chinesen ausgehe. Er sieht Europa gefangen in einem Kampf zwischen einer mittelalterlichen, militaristischen Kultur und einer neuen moralischen und liberalen Kultur: „Innerhalb dieser neuen Kultur wird Freiheit für den Gebildeten nicht bedeuten, daß er tun kann, was er mag, sondern daß er tun kann, was recht ist.“ (Gu 1911, 15) Diese neue moralische Kultur, die Europa noch erlernen müsse, sei nichts anderes als die traditionelle, konfuzianische Kultur in China (Gu 1911, 8-9).

Sowohl Gu als auch der unbekannte Chinese des Daily Express betonen also die moralische „Überlegenheit“ einer traditionellen chinesischen Kultur und ihren Vorstellungen gegenüber europäischen Ideen. Es zeigen sich im Vergleich allerdings auch Unterschiede: Während Gu in Europa sozialisiert wurde und das Vorgehen ausländischer Staaten in China kritisiert, ohne jedoch Kontakte zwischen China und Europa infrage zu stellen, möchte der unbekannte Chinese im Daily Express die Uhr zurückdrehen und Ausländer ganz aus China vertreiben.

In diesem Punkt ähnelt seine Sichtweise stärker der der „Boxer“ selbst wie sie beispielsweise auf einem berühmten Plakat zu finden ist – dort heißt es: „Das große Frankreich zittert vor Angst und England, Amerika, Russland sowie Deutschland sind extrem unruhig. Wenn endlich alle fremden Teufel bis zum letzten Mann vertrieben worden sind, werden die großen Qing, vereinigt, gemeinsam, Frieden in unser Land bringen.“ (Ein Link zu diesem Material folgt in Zukunft.)

Allerdings gab und gibt es unterschiedliche chinesische Perspektiven auf die „in Rechtschaffenheit vereinten Fäuste“ („Boxer“). Insbesondere unter der damaligen chinesischen Bildungselite wurden die „Boxer“ sehr kritisch gesehen und beispielsweise als „Boxerbanditen“ (quanfei 拳匪) bezeichnet. In der in der ausländischen Konzession in Shanghai erscheinenden chinesichsprachigen Tageszeitung Shenbao 申報 beispielsweise warfen die chinesischen Herausgeber der Qing-Regierung und Kaiserinwitwe Cixi vor, mit ihrer Unterstützung für die „Boxerbanditen“ und ihren Ausländerhass dem Land geschadet zu haben (Mittler 2004, 363-367; Shao und Wang 2011, 131-132). Der in der Hauptstadt lebende Beamte Hua Xuelan 華學瀾 (1860-1906) berichtet wiederum, dass die „Boxerbanditen“ eine ganze Familie umgebracht hatten, weil diese ein chinesischsprachiges Buch namens „Einführung in die Naturwissenschaften“ besessen hatten (Becker 1987, 162). Und auch aus Perspektive der chinesischen Christen waren die „Boxer“ vor allem Aufständische, die Angst und Terror verbreiteten (Miner 1907, 63-70).

 

Blick in die deutschen Schulbücher

In deutschen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien taucht die vorliegende Quelle in der Übersetzung von Justus Scheibert mehrmals auf. Scheiberts Übersetzung wurde vermutlich erstmals für den Geschichtsunterricht didaktisiert in einem Quellenband „Der Imperialismus und der Erste Weltkrieg“ von 1971 (Wendorff 2016, 147). Von Wolfgang Keller wurde die Quelle dann in seinem Unterrichtsmodell zum Thema „China und der Imperialismus“ (Keller 1980, 58) übernommen. Die nachfolgenden Schulbücher zitieren dann immer nach Keller. Bei Keller (1980, 58) wird die Quelle als „Interview des »Daily Express« mit einem Mitglied der Boxerbewegung“ charakterisiert – was wie oben erläutert nicht zutrifft. Ziel der Bearbeitung oder Besprechung der Quelle im Unterricht ist es so Keller, bei den Schüler*innen einen Perspektivwechsel herbeizuführen.

In den Materialien zum „Boxeraufstand“ in einer dem Thema China gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift „Praxis Geschichte“ von 1994 wird die Quelle unter der Überschrift „Ein Boxer teilt der englischen Zeitung „Daily Express“ mit:“ zitiert (Erbar 1994, 13). Und aktuell (Stand: 2023) verwendete deutsche Schulbücher drucken die Quelle mit ähnlichen Titeln oder Erklärungen ebenfalls ab: „Ein „Boxer“ in einem Interview über seinen Hass auf die Fremden“ (Bender u. a. 2007, 558); „Ein „Boxer“ teilt der englischen Zeitung Daily Express mit“ (Birkenfeld und Ebeling 2018, 208); „Ein „Boxer“ in einem Interview mit der britischen Zeitung „Daily Mail“ [sic] (1900)“ (Zodel und Cornelißen 2020, 113); „Wir wollen euch loswerden. Ein Boxer erläutert seine Haltung gegenüber der englischen Zeitung „Daily Express“ (1900)“ (Bill u. a. 2020a, 87; ähnlich in Sauer 2017, 283). Im begleitenden Lehrerhandbuch zu diesem Schulbuch von 2020 wird beschrieben: Die Quelle „[i]st ein Beispiel für die Sichtweise der Chinesen auf die Europäer. Der Aufruf entstand zu einer Zeit, in der zahlreiche europäische Staaten versuchten, sich Teile des Landes aus machtpolitischen, strategischen oder wirtschaftlichen Gründen direkt oder indirekt anzueignen. Dagegen wehrten sich Millionen Chinesen nach Jahren der Demütigungen 1900-01. Ihre Versuche, die erzwungenen Abtretungen von Gebieten und die wirtschaftliche Ausbeutung durch ungleiche Verträge, vor allem aber die Einflussnahme auf traditionelle Lebensweisen und die überlieferte Kultur einschließlich der religiösen Überzeugungen zu verhindern, waren erfolglos. Sie waren den europäischen Heeren mit ihren modernen Waffen unterlegen.“ (Bill u. a. 2020b, 86)

Problematisch ist weniger die Ungereimtheit, wie ein „Boxer“ in London von einer britischen Zeitung interviewt werden kann, sondern dass in den Schulbüchern diese Quelle als einzige chinesische Perspektive auf den „Boxeraufstand“ und das Vorgehen ausländischer Staaten angeführt wird. Es sollte dabei deutlich gemacht werden, dass es unter chinesischen Zeitgenossen auch andere Sichtweisen gegeben hat.

 

(Jonas Schmid, 20.01.2023)

Verwendete Literatur

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Becker, Otmar. 1987. Gengzi riji. Das Tagebuch des Hua Xuelan aus dem Beijing des Boxeraufstands. Hamburg: Ges. für Natur- u. Völkerkunde Ostasiens. Zitieren
Bender, Daniela, Michael Epkenhans, Rüdiger Fleiter, Mathias Gröbel, Andreas Grießinger, Ute Hollingshaus, Andrej Keller, u. a. 2007. Geschichte und Geschehen. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig: Klett. Zitieren
Bill, Ulrike, Jens Breitschwerdt, Tobias Dietrich, Gerrit Dworok, Michael Epkenhans, Matti Münch und Peter Witzmann. 2020. Geschichte und Geschehen - Handreichungen für den Unterricht. Hg. von Michael Sauer. Stuttgart, Leipzig: Ernst Klett. (zugegriffen: 31. Dezember 2021). Zitieren
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Birkenfeld, Wolfgang und Hans Ebeling, Hrsg. 2018. Die Reise in die Vergangenheit 9/10.  Berlin und Brandenburg. Arbeitsheft. Druck A. Braunschweig: Westermann. Zitieren
Dabringhaus, Sabine. 1995. Kurseinheit 7: Der Boxer-Aufstand in China (1898-1900). Fernuniversität Hagen. Zitieren
Dietrich, Tobias, Christine Dzubiel, Michael Epkenhans, Benedikt Giesing, Martin Krön, Georg Langen, Josef Memminger, u. a. 2017. Geschichte und Geschehen. Hg. von Michael Sauer. 1. Auflage. Stuttgart, Leipzig: Klett. Zitieren
Erbar, Ralph. 1994. »Peking muß rasiert werden«. Die europäischen Großmächte und der »Boxeraufstand« in China 1900/ 01. Praxis Geschichte 4: 12–16. Zitieren
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