Fabrikarbeiterlyrik: Sozialkritik in modernen chinesischen Gedichten – Weiterführende Informationen

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AutorTitelQuelleÜbersetzerinQuellenangabe 2ObjektbeschreibungRechteEinordnung
Autor*in: Zheng Xiaoqiong 郑小琼Titel: Chanpin xushi 产品叙事 (“Erzählung von den Konsumgütern”)Quellenangabe (Original): Nügong Ji 女工记 (Das Buch der Arbeiterinnen). 2012. Huacheng Chubanshe 花城出版社.Übersetzerin: Lea SchneiderQuellenangabe (Übersetzung): Schneider, Lea, Hrsg. 2016. Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik. Berlin: Verlagshaus Berlin.Objektbeschreibung: Gedicht Rechte (Übersetzung): © Verlagshaus Berlin Einordnung: Mit Bezügen zu der langen chinesische lyrische Tradition, aber auch in Auseinandersetzung mit internationale Poesie ist eine einzigartige moderne chinesische Lyrik entstanden. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Fabrikarbeiterlyrik“.

Arbeiterliteratur (gongren wenxue 工人文学) hat eine über 100-Jahre lange Geschichte in der Volksrepublik China (VR China). In den 1930er Jahren, als die ersten Arbeitsmigranten*innen aus den ländlichen Regionen in die Industriemetropolen wie Shanghai zogen, entwickelte sich eine Art Reportageliteratur, die (Fabrik-)Arbeiter*innen und ihr oft hartes Schicksal darstellte. Diese Texte wurden von (meist politisch links-orientierten) Intellektuellen geschrieben; die Arbeiter*innen fungierten lediglich als Subjekt der Texte. Das Verhältnis zwischen Schriftsteller*innen/Intellektuellen und Arbeiter*innen blieb in den 1940- und 1950er-Jahren ein wichtiges Thema in der VR China. Mao Zedong legte 1942 in seiner „Reden bei der Aussprache über Literatur und Kunst in Yan‘an” nicht nur die bevorzugte Form und das (politische) Ziel von jeglicher Kunst und Literatur fest, sondern betonte auch, dass Schriftsteller und Intellektuelle sich den Arbeiter*innen (und Bauern/Bäuerinnen) widmen sollten, sogar mit ihnen zusammenleben und arbeiten sollten, um ihre Erfahrungen zu teilen und in der Literatur darstellen zu können. Die Literatur, die daraus entstand, handelte also nicht nur von den Arbeiter*innen, sondern war sowohl für sie gedacht als auch direkt von ihn (und ihren Lebenserfahrungen) inspiriert. Gleichzeit gab es, insbesondere nach der Gründung der VR China 1949, auch offizielle Förderung und Publikationen von Werken geschrieben durch Arbeiter*innen selber. Von den 1950er- bis 1970er-Jahren zeigte diese Literatur aber ein sehr idealisiertes Bild der Arbeiter*innen: es zeigte eher, wie idealen, sozialistischen Arbeiter*innen sein und sich verhalten sollten, und wie deren Welt aussehen sollte, hatte aber mit deren Lebensrealität oft wenig zu tun. Darüber hinaus war die Sprache stark politisiert und Thematik, Stil, sowie Erzählstruktur waren durch feste Vorgaben so rigide festgelegt, dass kreative Vielfalt nur sehr eingeschränkt möglich war.

Dies änderte sich erst wieder ab der Zeit der Reform- und Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre. Ab Mitte der 1980er-Jahre blühte dann im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklungen und der damit einhergehenden Arbeitsmigration, eine neue Form der (Fabrik-)Arbeiterliteratur, auch Arbeitsmigrantenliteratur (dagong wenxue 打工文学) genannt, auf, woraus später auch die Fabrikarbeiterlyrik (dagong shige 打工诗歌) entstand. Diesmal waren es die Arbeiter*innen selber, die ihre Alltagsrealität und ihr Schicksal auf sehr persönliche und emotionale Weise darstellte. Lyrik wurde dabei eins der beliebtesten Genres dieser Strömung. Ab den 2000er-Jahren ermöglichte das Internet zunächst vielen von ihnen, ihre Gedichte auch außerhalb der offiziellen Publikationskanäle zu veröffentlichen. Mittlerweile ist diese Arbeiterlyrik sowohl innerhalb der VR China als auch auf der internationalen Bühne ein anerkanntes Phänomen. Sie ist deswegen so wichtig, weil sie einer großen, aber gleichzeitig marginalisierten und bisher "ungehörten" sozialen Gruppe eine Stimme gegeben hat. Dank der Gedichte und Geschichten haben die Arbeiter*innen nicht nur nach außen ein menschliches Gesicht (wenn auch meist in sehr unmenschlichen Arbeitsumständen) bekommen, sondern auch die Möglichkeit aufgegriffen, ein gewisses Maß an menschlicher Würde für sich zurückzugewinnen (Iovene & Picerni 2022, 1).

Fallbeispiel: Zheng Xiaoqiong

Zheng Xiaoqiong 郑小琼 (1980- ) wurde in der Provinz Sichuan geboren. Sie absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester und arbeitete eine Zeit lang in einem ländlichen Krankenhaus, bevor sie 2001 in die Stadt Dongguan 東莞 in der südlichen Provinz Guangdong zog. In Dongguan, das zu dieser Zeit als „Werkstatt der Welt“ bekannt wurde , arbeitete sie in einer Stahlfabrik, wo Sie nach einem Arbeitsunfall und Krankenhausaufenthalt begann, ihre Erfahrungen und die ihrer Kolleginnen in Gedichtform zu erfassen und (online) zu veröffentlichen. 2007 gewann sie dann, relativ unerwartet, einen renommierten chinesischen Literaturpreis und wurde zu einem wahren Phänomen in der VR China (Schneider 2016, 92). Seitdem hat sie mehrere Lyrikbänder veröffentlich, arbeitet mittlerweile als Redakteurin bei einem literarischen Magazin, und verreist regelmäßig zu (internationalen) Poesie-Festivals. Sie ist, zumindest im Ausland, weitaus die bekannteste Repräsentantin der Fabrikarbeiterlyrik. Ihr Lebenslauf war bis zu ihrem Aufstieg in die literarische Welt beispielhaft für viele der insgesamt über 300 Millionen Arbeitsmigrant*innen in der VR China. Dass Zheng für sich dank ihrer Gedichte eine bessere sozio-ökonomische Position gewonnen hat, macht sie zu einer Ausnahme. In ihren Werken widmet sie sich immer noch dem Schicksal (hauptsächlich weiblicher) Arbeitsmigrantinnen und spricht gleichzeitig Themen wie Geschlechterungleichheit, Umweltprobleme und die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen in einer globalisierten Gesellschaft an.

Die Gedichte von Zheng sind gekennzeichnet durch die Gegenüberstellung von Mensch (Körperteile und körperliche Erfahrungen) und Maschine, sowie (vielleicht eher unerwartet) durch den Verweis auf traditionelle chinesische Literatur und Mythen (Iovene & Picerni, 2022, 17). Die natürliche Landschaft, die in eine zentrale Rolle spielt, wird in Zhengs Werk durch die moderne, städtische Fabriklandschaft ersetzt. Auch die (verlorene) Heimat und das Heimweh sind wiederkehrende Themen bei Zheng, die auch in der traditionellen chinesischen Poesie vielfältig vorkommen (vgl. z.B. das Gedicht „Nachtgedanken” des bekannten Dichters Li Bai 李白 (701–762) aus der Tang-Dynastie).

Das Gedicht „Erzählung von den Konsumgütern“ stammt aus ihrer Gedichtzyklus Das Buch der Arbeiterinnen (Nugong ji 女工记) aus dem Jahr 2012. In diesem Lyrikband hat Zheng auf fast dokumentarische Weise das Arbeits- und Alltagsleben ihrer Kolleginnen festgehalten. In „Erzählung von den Konsumgütern“ sind viele Merkmale von Zhengs Stil zu finden: lange Sätze mit aneinander gereihten Substantiven, wenig Aktionsverben, Gegenüberstellung von Mensch und Maschine, eine moderne „Fabriklandschaft“ und eine verlorene Heimat (Schneider 2016, 93). Insgesamt ist das Gedicht ziemlich düster, zugleich zutiefst persönlich und gesellschaftskritisch. Damit stehen Zheng und ihre Gedichte direkt in der Tradition der chinesischen Literatur als Mittel zur (sozialen) Kritik, auch wenn Form und Inhalt ihrer Gedichte weit von denen der klassischen chinesischen Poesie entfernt sind.

(Marjolijn Kaiser, Januar 2024)

Verwendete Literatur

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