M1.1: „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) – Chinesische Karikatur um 1899 – Weiterführende Informationen

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AutorTitelVerlagDatumRechteEinordnung
Autor*in: Tse Tsan Tai (moderne Umschrift: Xie Zuantai 謝纘泰)Titel: „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖)Verlag: UnbekanntEntstehungsdatum & -ort: vermutlich in Japan um 1899Bildrechte: Gemeinfrei
Online unter: https://zh.m.wikipedia.org/zh-hans/時局圖 (02.08.2021)

Einordnung: Zwischen Großbritanniens Sieg im Opiumkrieg 1842 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung in China 1945 waren die Beziehungen zwischen China und der Welt stark asymmetrisch. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete. Die Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) kritisiert zum einen dieses Vorgehen der ausländischen Staaten, zum anderen die Tatenlosigkeit und Rückständigkeit der Qing-Regierung angesichts der Bedrohung von außen.

Dieser Einordnungstext gibt einen knappen Überblick über zwei verschiedene Varianten der Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖), erläutert die abgebildeten Figuren und den historischen Hintergrund und geht kurz auf die Rezeption und Bedeutung dieser Karikatur in China bis heute ein.

 

Verschiedene Ausgaben

Am 19. Juli 1899 erschien in der britischen Kolonie Hongkong eine schwarz-weiße Vorgängerversion der hier vorgestellten Karikatur mit dem chinesischen Titel „Ein umfassendes Bild der aktuellen Lage“ (Shiju quantu 時局全圖) und dem englischen Titel „Die Situation im Fernen Osten“ (The Situation in the Far East). Als Autor wird auf der Karikatur Tse Tsan Tai (moderne Umschrift: Xie Zuantai 謝纘泰, lebte von 1872–1937) genannt. (Wagner 2011, 11)
Die hier vorliegende Karikatur ist anders als die schwarz-weiße Vorgängerversion „Ein umfassendes Bild der aktuellen Lage“ (Shiju quantu 時局全圖) in Farbe und trägt einen veränderten chinesischen Titel – „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖). Diese Farbversion entstand wahrscheinlich durch die Hilfe eines Freundes von Tse Tsan Tai um 1899 in Japan. Sie hat sich tief im kulturellen Gedächtnis Chinas eingebrannt – beispielsweise wurde sie immer wieder in chinesischen Schulbüchern abgedruckt. (Wagner 2011, 18) Hier soll nur auf bekanntere Farbvariante eingegangen werden, für eine Abbildung und Beschreibung der Unterschiede zur ursprünglichen schwarz-weiß Variante siehe Wagner 2011, 11–16. Auf der hier vorliegenden Ausgabe der Karikatur nicht abgebildet sind Erklärungen, die ursprünglich unterhalb des Bildes abgedruckt waren und Erläuterungen zu den verschiedenen abgebildeten Figuren beinhalten. (Wagner 2011, 18–20; Wang 2005)

 

Erläuterung der Karikatur

Durch ihre große Schrift fällt als erstes der Titel der Karikatur – „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) – ins Auge. Neben der Abbildung steht außerdem links und rechts der Satz „ohne Worte begreifbar und auf einen Blick zu verstehen“ (bu yan er yu, yi mu liaoran不言而喻, 一目了然). Im Mittelpunkt der Karikatur steht eine Karte Ostasiens mit China als Zentrum. Das Gebiet der Qing-Dynastie in China ist grün hinterlegt, die Gebiete der umgebenden Staaten sind durch andere Farben markiert. Verschiedene Tiere und eine Sonne symbolisieren ausländische Staaten, die sich auf dem Territorium Chinas oder in der Nähe befinden.
Im Norden der Karte ist gelb hinterlegt russisches Gebiet eingezeichnet. Russland wird symbolisiert durch einen Bären, der auf seiner Stirn einen schwarzen Doppeladler, das Wappen des Russischen Kaiserreiches seit 1742 trägt. Die größere Darstellung des „russischen Bären“ im Vergleich zu den anderen Tieren zeigt, dass allen voran Russland als Gefahr wahrgenommen wurde. Kurz zuvor, im Jahr 1897, hatte Russland China zur Abtretung der nordchinesischen Hafenstadt Dalian als Pachtgebiet und zur Erlaubnis des Baus einer Eisenbahn von der russischen Grenze dorthin gezwungen. (Wagner 2011, 13) Aus chinesischer Sicht stand zu befürchten, dass Russlands Einfluss im Nordosten Chinas weiter ansteigen würde: Dies macht auch der auf der hier vorliegenden Ausgabe der Karikatur nicht abgedruckte Kommentar deutlich, in dem angedeutet wird, dass man fürchtet, dass Russland bald die Mandschurei, die Mongolei und Korea unter Kontrolle bekommen könnte. (Wagner 2011, 20; Wang 2005, 74)
Rechts unten neben dem russischen Bären ist Japan als rote Sonne mit dürren Armen und Beinen zu erkennen. Ein Faden am Handgelenk der japanischen Sonne hält die Insel Formosa (Taiwan), ein anderer am Fuß Korea fest. Die Insel Taiwan war nach dem Sieg Japans im sino-japanischen Krieg 1894 als Kolonie von China abgetreten worden. Als Folge des sino-japanischen Krieges gewann Japan auch immer stärker an Einfluss in Korea – 1910 erklärte Japan Korea dann zur eigenen Kolonie. In der Karikatur ist die unterschiedliche Stellung Taiwans und Koreas durch die unterschiedliche Farbgebung zu erkennen: Während Taiwan als japanische Kolonie im selben Rotton eingefärbt ist, ist Korea noch in einem neutraleren Blau gehalten. Die Darstellung Japans in der Karikatur unterscheidet sich von der der anderen Staaten: Als einziger ausländischer Staat wird Japan nicht in Tierform dargestellt. Unerwähnt bleibt in der Karikatur auch, dass Japan die gegenüber der Insel Taiwan liegende chinesische Provinz Fujian 福建 als eigene Einflusszone betrachtete. Japan wird außerdem als „Die aufgehende Sonne“ bezeichnet, die zusammen mit Großbritannien („John Bull“) laut dem Text auf der Karikatur verspricht den „russischen Bären“ – der aus Sicht des Zeichners wie oben erläutert die größte Gefahr für China darstellt – in Schach zu halten. (Neben Japan steht „The Rising Sun“ und in Klammern „John Bull & I Will Watch the Bear“.) Womöglich ist diese im Vergleich zu den anderen ausländischen Staaten relativ positive Darstellung Japans darauf zurückzuführen, dass der Zeichner und seine Bekannten in Hongkong vom japanischen Konsulat Unterstützung erhielten, um in China eine Revolution voranzutreiben. (Wagner 2011, 17) Gleichzeitig strahlt die japanische Sonne auch auf den schlafenden chinesischen Beamten in der Mitte der Karikatur (siehe ausführlicher weiter unten). Erst der in der hier vorliegenden Ausgabe nicht mit abgedruckte Begleittext der Karikatur macht deutlich, dass der Einfluss Japans vom Autor nicht positiv gesehen wird: Japan rede davon, dass es die selbe Kultur habe wie China, doch wie könne es da gleichzeitig Taiwan wegnehmen. (Wagner 2011, 20; Wang 2005: 74)
Südwestlich von Japan steckt in der ostchinesischen Provinz Shandong die Flagge des deutschen Kaiserreichs. Dieses hatte im November 1897 dort die Gegend um die Küstenstadt Qingdao besetzt und eine Kolonie errichtet. Symbolisiert wird der deutsche Einfluss in Shandong durch einen runden Kreis, der laut Aufschrift eine „Wurst der deutschen Ambitionen [in China]“ („German Ambitions Sausage“) darstellen soll. An die deutsche Wurst schmiegt sich teilweise der Schwanz der Löwen-ähnlichen britischen Bulldogge (zu erkennen am Union Jack auf seiner Stirn). Nachdem Deutschland und Russland von China 1897 und 1898 koloniale Pachtgebiete erzwungen hatten, rang auch Großbritannien in einem Vertrag China den Hafen Weihaiwei 威海衛 in der Provinz Shandong 山東 ab, wo Deutschland bereits vertreten war. Die in der vorliegenden Version der Karikatur nicht mit abgedruckten Erklärungen machen deutlich, dass die Kolonie Weihaiwei für Großbritannien eine Machtdemonstration gegenüber Deutschland und Russland war. (Wagner 2011, 20; Wang 2005, 74) Die Hinterbeine der „britischen Bulldogge“ weisen auf den Fluss Changjiang 長江 (in Deutschland bekannt als Yangzi), den Großbritannien sich als Einflussbereich gesichert hatte. Gleichzeitig richtet sich der Kopf der Bulldogge mit finster-kämpferischem Blick gegen Frankreich, das hier als Kröte dargestellt wird.
Ausgehend von seinen Kolonien in Indochina (heute: Laos, Kambodscha und Vietnam) greift die „französische Kröte“ mit der linken Hand nach der chinesischen Inlandsprovinz Sichuan 四川 und mit der rechten nach den Provinzen Hainan 海南 und Guangdong 廣東. Neben Deutschland, Russland und Großbritannien wollte auch Frankreich sich in China ein koloniales Pachtgebiet „sichern“. Nachdem Hainan als zu groß und schwierig kontrollierbar ausgeschieden war, wurde China zur Abtretung des Gebietes Guangzhouwan 廣州灣 nördlich der Insel Hainan gezwungen. Der Wettlauf zwischen Großbritannien und Frankreich um Kolonien und Einflussgebiete wird auch an der Aufschrift „Fashoda“ auf dem Rücken der „französischen Kröte“ deutlich: 1898 waren in Fashoda (ein Ort im heutigen Sudan) französische und britische Truppen aufgrund der territorialen Aufteilung der dortigen Gebiete aneinandergeraten – der französische „Fashoda Komplex“ steht dabei stellvertretend für den Wettlauf mit Großbritannien um Kolonien. Frösche beziehungsweise Kröten waren ein beliebtes Symbol für Frankreich und Franzosen in britischen Karikaturen des 19. Jahrhunderts. (Bindman 2003) Das Beispiel zeigt auch, wie gut informiert die chinesischen Eliten – als adressiertes Publikum der Karikatur – damals über internationale Geschehnisse waren.
Während das rechte Auge der „britischen Bulldogge“ die „französische Kröte“ fest im Blick hält, ist das linke Auge zugekniffen – so als würde sie die Absichten des heranfliegenden US-amerikanischen Adlers billigen. Dieser hält in seinen Krallen die Philippinen, die 1898 amerikanische Kolonie geworden waren. Am unteren Bildrand stehen außerdem weitere Staaten – ganz rechts Österreich-Ungarn, links davon Italien und womöglich Spanien sowie ein Kamel und ein Frack-tragender Frosch. Der nachdenkliche Blick Österreich-Ungarns spielt auf die kolonialen Ambitionen des Habsburgerreichs an: 1901, zirka zwei Jahre nach Erscheinen der Karikatur sicherte sich Österreich-Ungarn ein kleines städtisches Pachtgebiet in der südlich von Beijing gelegenen Hafenstadt Tianjin. Die Karikatur zeigt, dass Österreich-Ungarns Interesse an einem Pachtgebiet in China aufmerksam beobachtet wurden. Italien wirkt im Vergleich zu Österreich-Ungarn schon einen Schritt weiter: Das Fernglas wird gerade beiseitegelegt und das Land versucht die eigene Fahne in China zu platzieren. Tatsächlich versuchte Italien 1899 von der chinesischen Regierung ein koloniales Pachtgebiet an der chinesischen Ostküste in der Provinz Zhejiang 浙江 bei Shanghai zu erpressen – scheiterte schlussendlich jedoch. (Coco 2019)

 

Die Karikatur übt zum einen Kritik an den ausländischen (als Tiere dargestellten) Staaten, zum anderen aber auch an der Beamtenschaft der Qing-Dynastie . Die Qing-Dynastie wurde von der ethnischen Gruppe der Mandschuren gegründet und beherrschte seit 1644 die mehrheitlich von Han-Chines*innen bevölkerten Gebiete Chinas sowie weitere dünn-besiedelte Gebiete nördlich und westlich von Kernchina. In den revolutionären Kreisen, zu denen auch der Zeichner der Karikatur Tse Tsan Tai gehörte, war in den Jahren um 1900 ein Hass auf die Mandschuren als Fremdherrscher weitverbreitet. Diese galten als Fremdherrscher, die es (auch mit Gewalt) abzusetzen galt. Auf der Karikatur im Herzen Chinas ist ein schlafender Beamter der Qing-Dynastie abgebildet. In dem hier nicht abgedruckten kantonesischen Begleittext der Karikatur wird dieser als Beamter beschrieben, der sich nicht um die wichtigen Dinge kümmert. (Wagner 2011, 21; Wang 2005, 74) In seiner rechten Hand hält er ein Netz, in dem sich die (Han-)chinesische Bevölkerung gefangen befindet. Beispielhaft wird ein Gelehrter dargestellt, der ebenfalls über einem Buch eingeschlafen ist. Hier klingt Kritik am kaiserlichen Beamtenprüfungssystem an: Auf den Seiten des aufgeschlagenen Buches stehen vier Zeichen der klassischen Schriftsprache (zhi hu ye zhe 之乎也者), die als sinnlose Vierwortphrase in dieser Zeit karikierend zusammengenommen für die Wortklauberei und Sinnlosigkeit der in den Beamtenprüfungen verwendeten klassischen Schriftsprache stehen. Durch die Vorbereitungen auf die Beamtenprüfungen werden die gebildeten Schichten also eher eingelullt – auch sie liegen in einem metaphorischen Schlaf und sehen nicht, was in China vor sich geht. Im Netz gefangen sind auch die einfachen Leute, die mit veralteten militärischen Methoden (hier das Steineheben) trainiert werden. (Wagner 2011, 21)
Unter dem schlafenden Beamten sind nochmals zwei weitere Beamten abgebildet, welche die Korruptheit der Beamtenschaft symbolisieren sollen: Der eine links hält eine überdimensionierte Münze in der Hand – interessiert sich also nur für Geld; der andere rechts amüsiert sich bei Alkohol und gutem Essen mit einer Kurtisane.

 

Autor und Hintergrund

Der Autor der vorliegenden Karikatur Tse Tsan Tai Tai (moderne Umschrift: Xie Zuantai 謝纘泰) wurde 1879 in New Youth Wales, Australien geboren. Im Alter von acht Jahren zog Tses Familie nach Hongkong, wo er eine englischsprachige Schule besuchte und eine Arbeitsstelle in der Verwaltung der britischen Kronkolonie Hongkong annahm. Als junger Mann bewegte Tse sich in den Hongkonger Kreisen, die sich für eine Revolution gegen die Qing-Dynastie einsetzten. 1892 gründete er mit anderen eine revolutionär-patriotische Vereinigung, die sich 1895 mit der von Sun Yatsen (1866–1925) und anderen gegründeten „Vereinigung für die Wiederbelebung Chinas“ (Xing Zhonghui 興中會) zusammenschloss. Tse war an dem – allerdings gescheiterten – Versuch der „Vereinigung für die Wiederbelebung Chinas“, 1895 im benachbarten Guangzhou 廣州 einen Aufstand gegen die Qing-Dynastie durchzuführen und an der Planung weiterer Aufstände beteiligt. (Noonan 2006; Wagner 2011, 90–92) Mit seinem fließenden Englisch und Chinesisch blieb er ein Leben lang – auch nach der Revolution 1911 und der Gründung der Republik China – in Hongkong, wo er 1903 auch mit einem britischen Geschäftsmann die bis heute bestehende Zeitung South China Morning Post gründete.

 

Die Aussage von Tses Karikatur kann beispielhaft verstanden werden für die Ansichten der chinesischen Revolutionäre um 1900. Diese kritisierten einerseits den Wettlauf ausländischer Staaten um koloniale Pachtgebiete und wirtschaftlichen Einfluss in China, machten andererseits aber auch die mandschurische Qing-Regierung für die Machtlosigkeit Chinas angesichts ausländischer Aggression verantwortlich. Sie sahen nur in einer gewaltvollen Revolution, die die Herrschaft der Mandschu beenden sollte, die Chance China wiederzubeleben und wiedererstarken zu lassen. (Bergère 1998, 49–55) So ist zu erklären, dass die Karikatur sich nicht nur gegen das Ausland, sondern auch gegen die mandschurische Qing-Regierung richtet. (Mittler 2004, 35; Wagner 2011, 21)

 

In der vorliegenden Karikatur vermischen sich außerdem zwei metaphorische Motive, die um das Jahr 1900 herum in China an Einfluss gewannen und im kulturellen Gedächtnis Chinas bis heute eine große Rolle spielen: Erstens das schlafende China, das es aufzuwecken gilt; zweitens das Vorgehen der ausländischen Mächte, die China unter sich aufteilen.
Der schlafende Beamte in der Mitte der Karikatur ist zum einen ein Symbol für die Unwissenheit der Beamtenschaft, die nicht wissen oder sich nicht dafür interessieren, was die ausländischen Mächte mit China vorhaben. Die Idee, dass China am Schlafen sei (ja die Moderne verschlafen habe) und deshalb aufgeweckt (das heißt reformiert oder revolutioniert) werden müsse, entwickelte sich zuerst um das Jahr 1887 in einem ausländischen, englischsprachigen Diskurs, der dann über bilinguale chinesische Intellektuelle wie Tse, den Zeichner der Karikatur, in den ausländischen Kolonien und Pachtgebieten wie Hongkong, Shanghai oder Tianjin ins Chinesische übertragen wurde. Nach der Niederlage im sino-japanischen Krieg 1894 wurde das Bild des schlafenden China – im Unterschied zum erwachten Japan, das sich am Ausland orientiert und dessen Methoden übernommen hatte – wieder bemüht. (Wagner 2011, 33–54) Auch nach 1900 blieb das Symbol des schlafenden Chinas im chinesischen Diskurs wirkmächtig: In Karikaturen wurde darauf Bezug genommen (Wagner 2011, 92–107) und chinesische Intellektuelle forderten eine Renaissance – also ein Wiedererwachen – für China (Mittler 2019).

 

Die zweite wirkmächtige Symbolik, auf die die Karikatur Bezug nimmt, ist der Diskurs der Aufteilung Chinas durch ausländische Mächte. (Wagner 2017) Der Wunsch oder sogar Wettlauf nach Aufteilung von Gebieten weltweit durch westliche Staaten war in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder präsent: Nach der Afrika-Konferenz in Berlin 1884, bei der die „Aufteilung Afrikas“ unter den Kolonialmächten beschlossen wurde, gerieten als nächstes die Türkei und dann China als Objekte der kolonialen Aufteilungsfantasien in den Fokus. (Wagner 2017, 46) Viele europäische und US-amerikanische Zeitschriften veröffentlichten Karikaturen, die die Aufteilung Chinas zeigten. (Wagner 2017, 80–98) In fast jedem deutschen Schulbuch, das die chinesische Geschichte im 19. Jahrhundert behandelt, sind einzelne dieser Karikaturen bis heute abgebildet. China erscheint in diesen Karikaturen zumeist (in Anlehnung an frühere Darstellungen der Teilung Polens im späten 18. Jahrhundert) als Kuchen, den ausländische Staaten untereinander aufzuteilen versuchen und dabei in Streit zu geraten scheinen. All diesen Darstellungen ist gemeinsam, dass China keinerlei Handlungsspielraum gegeben wird – China ist reines Objekt der ausländischen Begierden. Der Fokus der Karikaturen liegt dabei meistens auf den Streitigkeiten zwischen den ausländischen Staaten über die Aufteilung Chinas.
Die Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) übernimmt weitestgehend diese Bildsprache der europäischen Karikaturen – auch die Personifizierung der ausländischen Staaten als Tiere (anstatt wie meist in den europäischen Karikaturen zur Aufteilung Chinas als Personen) erschien bereits früher in einer deutschen Karikatur. (Wagner 2017, 87) Durch die Forderungen verschiedener ausländischer Staaten in den 1890er-Jahren, in China Kolonien, Pachtgebiete und Einflusszonen errichten zu können, wurde die Idee einer „Aufteilung Chinas“ auch von chinesischen Intellektuellen als Gefahr wahrgenommen. Der bereits zuvor bestehende chinesische Ausdruck „wie eine Wassermelone aufteilen“ (guafen 瓜分) wurde so mit neuer Bedeutung aufgeladen.
Die Symbolik des schlafenden Chinas und der Aufteilung Chinas durch ausländische Staaten sind Übernahmen und Anpassungen ausländischer Ideen und Symbole durch chinesische Intellektuelle beziehungsweise „cultural broker“, die sowohl Englisch als auch Chinesisch sprachen oder lasen. Die Karikatur zeigt also auch, wie weltgewandt Teile der chinesischen Gesellschaft um 1900 waren und ausländische Ideen und Symbole kreativ abänderten und nach China brachten.

 

Rezeption und Nachleben

Die Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) wurde in den Jahren nach ihrem Erscheinen 1898 mehrfach abgedruckt – meist mit dem direkten Hinweis, dass die Karikatur die Gefahr der Aufteilung Chinas zeige. (Wagner 2011, 24–30) Darüber hinaus ist die Karikatur aber bis heute die in China bekannteste Darstellung der kolonialen Interessen ausländischer Staaten in China um 1900. Denn in den 1920er- und 1930er-Jahren wurde die Schwäche Chinas und die Gefahr einer Aufteilung Chinas durch ausländische Staaten zu einem wesentlichen Antrieb des chinesischen Nationalismus und verschiedene Parteien versprachen mit unterschiedlichen Programmen China wiederzubeleben und die Gefahr einer „Aufteilung Chinas wie eine Wassermelone“ zu bannen. Auch die Kommunistische Partei Chinas bemühte und bemüht weiterhin die Idee einer „Aufteilung Chinas“ als Gefahr. Jedes Mal, wenn chinesische Politiker*innen die Souveränität Chinas betonen, steht dahinter auch das Negativbeispiel der angeblichen „Aufteilung Chinas“ durch die imperialistischen Mächte um 1900. Symbolisch steht hierfür die Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖), die auch im aktuellen chinesischen Geschichtsschulbuch (seit 2017 gibt es landesweit wieder nur ein offizielles Geschichtschulbuch) für die achte Klasse abgedruckt ist und die daher fast jede*r in der Volksrepublik China kennt. (Renmin jiaoyu chubanshe 2017, 27) Dabei übergeht das offizielle Narrativ der Volksrepublik China, dass es trotz der erzwungenen Einrichtung von Kolonien und Pachtgebieten sowie der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen ausländischer Staaten nie zu einer tatsächlichen Aufteilung Chinas kam. (Wagner 2017, 118–121) Ausführlichere Informationen zum Imperialismus in China sind in unserer Zeitleiste und in unserem Lernmodul zum Kolonialismus in China zu finden.

(Jonas Schmid, 09.08.2021)

 

Verwendete Literatur

Bergère, Marie-Claire. 1998. Sun Yat-sen. Stanford University Press. Zitieren
Bindman, David. 2003. How the French became frogs: English caricature and a national stereotype. Apollo 158, Nr. 498 (1. August): 15–22. https://go.gale.com/ps/i.do?p=AONE&sw=w&issn=00036536&v=2.1&it=r&id=GALE%7CA106652581&sid=googleScholar&linkaccess=abs (zugegriffen: 2. November 2021). Zitieren
Coco, Orazio. 2019. Italian diplomacy in China: the forgotten affair of Sān Mén Xiàn (1898–1899). Journal of Modern Italian Studies 24, Nr. 2 (15. März): 328–349. doi:10.1080/1354571X.2019.1576416, https://doi.org/10.1080/1354571X.2019.1576416 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
Mittler, Barbara. 2019. Dein Bild in meinem Auge oder: Die Genese des „chinesischen Traums“ - China und Europa im langen 20. Jahrhundert. Studium Generale (28. Oktober): 81–120. http://doi.org/10.17885/heiup.studg.2019.0.24043, https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/generale/article/view/24043 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
Mittler, Barbara. 2004. A newspaper for China? Power, identity, and change in Shanghai’s news media, 1872 - 1912. Harvard East Asian monographs. Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard University Asia Center. Zitieren
Noonan, Rodney. 2006. Grafton to Guangzhou: The Revolutionary Journey of Tse Tsan Tai. Journal of Intercultural Studies 27, Nr. 1–2 (1. Februar): 101–115. doi:10.1080/07256860600607827, https://doi.org/10.1080/07256860600607827 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
Wagner, Rudolf G. 2011. China “Asleep” and “Awakening.” A Study in Conceptualizing Asymmetry and Coping with It. The Journal of Transcultural Studies 2, Nr. 1 (25. März): 4–139. http://doi.org/10.11588/ts.2011.1.7315, https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/transcultural/article/view/7315 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
Wagner, Rudolf. 2017. „Dividing up the [Chinese] Melon, guafen 瓜分“: The Fate of a Transcultural Metaphor in the Formation of National Myth. The Journal of Transcultural Studies 8, Nr. 1 (10. Oktober): 9–122. http://doi.org/10.17885/heiup.ts.2017.1.23700, https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/transcultural/article/view/23700 (zugegriffen: 11. Oktober 2021). Zitieren
人民教育出版社. 2017. 历史八年级上册. Beijing: 人民教育出版社. Zitieren
王云红. 2005. 有关《时局图》的几个问题. 历史教学 502, Nr. 9: 71–75. Zitieren