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Autor | Titel | Quelle | Übersetzung | Rechte | Einordnung | ||||||||
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Autor: „Der Wölbbrettzither Spielende“ (Fu Se 撫瑟) | Titel: „Erinnerungen an Qingdao“ (Qingdao huigu lu 青島回顧記) | Quelle: „Magazin Großes China“ (Da Zhonghua Zazhi 大中華雜誌) Band 1, Nummer 3, 20.04.1915, S. 589-597. | Übersetzung: Jonas Schmid | Rechte der Übersetzung: CC BY-SA 4.0 | Einordnung: Der Artikel „Erinnerungen an Qingdao“ (Qingdao huigu lu 青島回顧記) erschien in drei Teilen von März bis Mai 1915 im monatlich erscheinenden Shanghaier „Magazin Großes China“ (Da Zhonghua Zazhi 大中華雜誌) (Fu 20.03.1915; Fu 20.04.1915; Fu 20.05.1915). In den 1930er-Jahren wurde der Artikel außerdem in einer Zusammenstellung von Reiseberichten verschiedener Orte in China nochmals veröffentlicht (Zhonghua Shuju 1921, 20-21). Dieser Einordnungstext gibt eine Zusammenfassung des dreiteiligen Artikels und erläutert, welches Bild der deutschen Kolonie Qingdao der Autor darin zeichnet. Abschließend wird kurz darauf eingegangen, was wir über den Autor und sein Umfeld wissen.
Der Artikel Der chinesische Autor des Artikels gelangte am 22.04.1914 in die deutsche Kolonie Qingdao und blieb dort genau drei Monate: Am 22.07.1914 – ein japanischer Angriff auf Qingdao lag in der Luft – verließ er Qingdao (Fu 20.05.1915, 1040). In Qingdao selbst arbeitete er während der drei Monate seines Aufenthaltes als Lehrer und verschaffte sich bei Spaziergängen, Wanderungen und Gesprächen einen Einblick in das Leben in der deutschen Kolonie in China. Der hier vorliegende Ausschnitt aus dem Artikel zeichnet ein eher negatives Bild der deutschen Kolonie. Betrachtet man den Artikel als Ganzes fällt jedoch auf, dass der Autor positive Bewertungen der Kolonie mit negativen vermischt. Ganz ähnlich wie Hong Shen (siehe dazu M3.1: Hong Shen über Qingdao (1915) und die weiterführenden Informationen dort) betont auch der anonyme Autor mehrfach die Ordnung in Qingdao – die bei ihm jedoch sowohl positive als auch negative Seiten hat. Bereits bevor er nach Qingdao kam, habe er von Freunden und Bekannten aus Qingdao gehört, dass es dort sehr ordentlich, wie im Paradies sei (Fu 20.03.1915, 589). Auch bei seiner Ankunft fällt ihm die Ordnung auf: Alle Gepäckträger brauchen eine offizielle Arbeitserlaubnis und das Gepäck der Reisenden wird streng kontrolliert. Die Bäume in den Alleen sind akkurat gepflanzt, Straßen werden regelmäßig in Stand gehalten und auch Gärten, Wasserleitungen und die Regelung des Verkehrs sind perfekt, sodass sich keine Stadt in Chinas Landesinneren mit dem ordentlichen Aussehen Qingdaos messen kann. Dem Autor gefällt außerdem, dass es in der Stadt sehr ruhig ist: Bereits um 18 Uhr abends ist es in Qingdao so ruhig wie in Shanghai um ein Uhr nachts. Die freiräumige Anlage der Stadt und die solide errichteten Häuser führen dazu, dass es kaum zu Bränden kommt. Auch die Urbarmachung des kargen Landes ruft beim Autor Bewunderung hervor. Den Aufschwung der Stadt schreibt er allerdings nicht allein der Kolonialverwaltung zu, sondern auch den chinesischen Eliten, die nach der Revolution 1911 nach Qingdao zogen – denn für ehemalige Politiker und Beamte der Qing-Dynastie diente die deutsche Kolonie Qingdao als Zufluchtsort. Gleichzeitig bemerkt der Autor aber auch die Ungleichbehandlung in der Kolonie: So ist in den Bauvorschriften eine bestimmte Mindestquadratmeterzahl pro Bewohner*in angegeben – die für Europäer*innen ist dabei fast doppelt so groß wie die für Chines*innen (Fu 20.03.1915, 590-594). (Für eine Diskussion innerhalb der wissenschaftlichen Forschung, siehe Mühlhahn 2000, 228-231.) Auch die Deutschen betrachtet der Autor eher positiv – er bezeichnet sie an einer Stelle im Text beispielsweise als „aufrichtig und kräftig“ (chengpu qiangjian 誠樸強建). Ihn beeindrucken beispielsweise die Gemüsegärten vor den Häusern, die von den Hausfrauen der deutschen Händler in der Kolonie gepflegt werden. Aus seiner Sicht ist diese Gartenarbeit Ausdruck der deutschen Sparsamkeit und gleichzeitig auch ein Grund für die Stärke Deutschlands (Fu 20.03.1915, 596). Positiv sieht er teils auch die Tatkraft der deutschen Kolonialverwaltung, die für die Stadtentwicklung Hügel planiere und Täler einebne. Dies zeige, dass man alles vollbringen kann, wenn man einen guten Plan hat (Fu 20.04.1915, 800). (Für eine Diskussion innerhalb der wissenschaftlichen Forschung, siehe Rathjen 2021, 56.) Trotz dieser teils positiven Bewertung der deutschen Kolonie klingen im Text auch immer wieder kritische Töne an. So kritisiert der Autor beispielsweise, dass die Deutschen nach der Gründung der Kolonie der chinesischen Bevölkerung billig Land abkauften, das dann wenig später dreißig- bis vierzigmal so viel wert war. (Für eine Diskussion des deutschen Vorgehens innerhalb der wissenschaftlichen Forschung, siehe Rathjen 2021, 51.) Überall hätten die Deutschen nach Belieben Gebäude errichtet. Auch kritisiert er, dass nach der Gründung der Kolonie keine chinesischen Kriegsschiffe mehr in die Jiaozhou-Bucht fahren durften (Fu 20.03.1915, 593). Voller Empörung berichtet der Autor auch über die alltägliche Diskriminierung gegenüber Chines*innen in der Kolonie durch die Deutschen (siehe dazu den übersetzten Ausschnitt im Material). Auch die Tatsache, dass im Stadtzentrum der Kolonie ursprünglich keine Chines*innen wohnen durften (dieses Verbot wurde im Laufe der Zeit – wie der Autor anmerkt – schrittweise zurückgefahren), sieht er sehr kritisch (Fu 20.04.1915, 799). Im Vergleich zu Hong Shen (siehe dazu M3.1: Hong Shen über Qingdao (1915) und die weiterführenden Informationen dort) zeigt sich die kritischere Perspektive des Autors auch an der Wortwahl, die nationalistischer geprägt ist. So spricht er – im Gegensatz zu Hong Shen – davon, dass die deutsche Kolonie eigentlich „Territorium Chinas“ (Zhongguo zhi lingtu 中國之領土) sei. Auslöser für die Veröffentlichung des Artikels zu Qingdao dürfte wohl gewesen sein, dass Qingdao im November 1914 von japanischen Truppen erobert worden war (siehe dazu auch das Material Die Eroberung Qingdaos 1914). Noch dazu hatte Japan im Januar 1915 dann gegenüber der Republik China 21 Forderungen gestellt, die Japan großen Einfluss in China (zum Beispiel durch Beteiligung am Aufbau von Infrastruktur, wie dem Eisenbahnnetz) und Teile Chinas als quasi-koloniale Einflussgebiete (z.B. Shandong und die Mandschurei) zusichern sollten. Diese Forderungen riefen lautstarke Proteste in China hervor. Da überrascht es auch nicht, dass der Autor des vorliegenden Textes direkt zu Beginn seines Textes vom „Raub Qingdaos“ (Qingdao jie 青島劫) durch Japan spricht.
Der Autor Über den Autor, der diesen Bericht über seinen dreimonatigen Aufenthalt in der deutschen Kolonie verfasste, ist nur wenig bekannt. Aus seinem Artikel wird deutlich, dass er sich für Geschichte interessierte und während seiner Zeit in Qingdao als Lehrer arbeitete – wahrscheinlich an der deutsch-chinesischen Hochschule dort. Während seiner Zeit in Qingdao wohnte er bei einem Freund, den er Liu Pusheng 劉樸生 nennt. Der Autor ist auch dem deutschen Missionar Richard Wilhelm begegnet und wusste gut über die Personen aus der örtlichen chinesischen Elite, die bei Wilhelm ein- und ausgingen, Bescheid (Fu 20.05.1915, 1037-1038). Unter dem Pseudonym „Der Wölbbrettzither Spielende“ (Fu Se 撫瑟) veröffentlichte er 1915 neben dem Artikel zu Qingdao auch noch einen Artikel zur Geschichte Taiwans („Wilde Aufzeichnungen über Taiwan“ Taiwan yeji 臺灣野記) in der selben Zeitschrift. In der Zeitschrift „Die Welt von Chinas Studenten“ (Zhonghua xueshengjie 中華學生界) veröffentlichte er außerdem 1916 einen Artikel („Aufzeichnungen über ein Gespräch mit einem Koreaner“ Ji Hanren wenda 記韓人問答), in dem er einen koreanischen Sinologen, der seit 1905 in Nantong 南通 in China lebte, interviewte. Außer diesen Texten aus den Jahren 1915 und 1916 sind keine weiteren Artikel des Autors bekannt – es ist aber möglich, dass dieser nach 1916 ein anderes Pesudonym oder seinen offiziellen Namen zur Veröffentlichung von Artikeln benutzte. Aus diesen Texten wird deutlich, dass der Autor zum Kreis um den reformorientierten Unternehmer und Politiker Zhang Jian 張謇 (1853-1926) gehörte. Zhang Jian hatte nach der chinesischen Niederlage im sino-japanischen Krieg 1894/95 begonnen in Nantong eine Baumwollspinnerei und später auch eine Schule nach ausländischem Vorbild aufzubauen. Er engagierte sich auch für die Urbarmachung neuer Gebiete und die Kontrolle des Huai-Flusses. Bekannt ist er bis heute unter anderem auch, weil er das erste Museum Chinas nach ausländischem Vorbild errichtete (Chu 1965). Nach der Revolution 1911 und der Gründung der Republik China war er von 1913 bis 1915 außerdem Handels- und Agrarminister. 1913 schickte er seinen Sohn an die deutsch-chinesische Hochschule in Qingdao, wo dieser ein halbes Jahr studierte (Wang 2020). Dies zeigt, dass Qingdao unter der gebildeten Elite des wirtschaftsstarken Yangzi-Deltas durchaus bekannt und positiv angesehen war – einen Punkt, den der Autor der „Erinnerungen an Qingdao“ auch direkt am Anfang seines Artikels anspricht (Fu 20.03.1915, 589). Womöglich waren es auch Zhang Jians Beziehungen nach Qingdao, die den Autor dazu bewogen dorthin zu gehen. Denn auch der Erscheinungsort des Artikels ist kein Zufall, sondern zeigt, wie wichtig Beziehungen und Bekanntschaften innerhalb der Bildungselite waren. Die Shanghaier Zeitschrift „Magazin Großes China“ erschien von Januar 1915 bis Dezember 1916 monatlich und wurde von Liang Qichao 梁啟超 (1873-1929), einem bedeutenden chinesischen Intellektuellen, herausgegeben. Auch Zhang Jian, zu dessen Bekanntenkreis der Autor der „Erinnerungen an Qingdao“ gehörte, kannte Liang Qichao gut: Im Mai 1913 hatten sich die Demokratische Partei (Minzhudang 民主黨) unter der Führung Liangs, die Republikanische Partei (Gonghedang 共和黨) unter Li Yuanhong und die Einheitspartei (Tongyidang 統一黨) unter der Führung von unter anderen Zhang Jian zur Fortschrittspartei (Jinbudang 進步黨) zusammengeschlossen. Der Autor gehörte zu diesem reformorientierten (aber nicht revolutionären) Milieu, dessen Mitglieder Chinas Schwäche gegenüber ausländischen Staaten und deren Aktivitäten in China kritisch sahen, aber gleichzeitig auch offen für ausländische Gedanken waren und das Ausland teils auch als Vorbild ansahen. Dies erklärt auch die Haltung des Autors gegenüber der deutschen Kolonie in China, deren Ordnung er einerseits positiv betrachtet, dabei gleichzeitig aber auch auf die Ungleichheiten und Unterdrückung der chinesischen Bevölkerung eingeht.
Baumgärtner, Ulrich, Hans-Jürgen Döscher, Jelko Peters und Daniel Schumacher. 2023. Zeit für Geschichte. Wechselwirkungen und Anpassungsprozesse. Niedersachsen Qualifikationsphase. Hinweise für Lehrerinnen und Lehrer. Braunschweig: Westermann. (zugegriffen: 2. Dezember 2022). Zitieren
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Chu, Samuel C. 1965. Reformer in modern China: Chang Chien ; 1853 - 1926. Studies of the East Asian Institute, Columbia University. New York, NY [u.a.]: Columbia Univ. Pr. Zitieren
Knappes Kapitel einer chinesischen Germanistin zur Frage, wie man Anfang des 20. Jahrhunderts und heute in China auf die deutsche Kolonie Qingdao blickte. Der erste Teil des Kapitels stützt sich wesentlich auf Qu Xiaoleis chinesischsprachigen Aufsatz von 2015. Mühlhahn, Klaus. 2000. Herrschaft und Widerstand in der „Musterkolonie“ Kiautschou: Interaktionen zwischen China und Deutschland 1897 - 1914. Studien zur internationalen Geschichte. München: R. Oldenbourg. Zitieren
Die Dissertation des Sinologen Klaus Mühlhahn markiert einen Wendepunkt in der Geschichtsschreibung zur deutschen Kolonie Qingdao, da er als einer der ersten nicht mehr nur die deutsche Perspektive einnahm, sondern (aus einer postkolonialen Perspektive) auch die Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten der chinesischen Bevölkerung betonte. Siehe auch die Rezension unter: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-54492 Qu Xiaolei. 2010. 屈辱与认同之间:清末民初国人眼中的德国形象 ———以胶澳租借地为中心. 社会科学辑刊 5: 156–163. Zitieren
Chinesischer Aufsatz, der einen Überblick über chinesische Perspektiven und Bewertungen der deutschen Kolonie Qingdao und der Deutschen in China in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt. Dissertation der deutschen Historikerin Helga Rathjen, welche die Darstellung Qingdaos in deutschen Quellen als Diskurs untersucht. Rathjen beleuchtet, wie die Deutschen in der räumlichen Anordnung der Stadt und in schriftlichen Diskursen über Krankheit und Hygiene ein Bild von den Chinesen als "den Anderen" schufen. 中華書局. 1932. 新遊記彙刊. Bd. 2. Shanghai: 中華書局. (zugegriffen: 26. Oktober 2021). Zitieren
撫瑟. 1915. 青島回顧記. 大中華雜誌 1, Nr. 3 (20. März): 589–597. Zitieren
撫瑟. 1915. 青島回顧記. 大中華雜誌 1, Nr. 4 (20. April): 795–804. Zitieren
撫瑟. 1915. 青島回顧記. 大中華雜誌 1, Nr. 5 (20. Mai): 1037–1042. Zitieren
王斌. 2020. 1913:张謇张孝若父子与青岛德华大学轶事. 山东档案, Nr. 05: 30–33. (zugegriffen: 10. Mai 2022). Zitieren
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