M3.1: Hong Shen über Qingdao (1915) – Weiterführende Informationen

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AutorTitelQuelleObjektbeschreibungÜbersetzungRechteEinordnung
Autor*in: „Der sich am Wasser erfreut“ (Le Shui 樂水) [Pseudonym von Hong Shen 洪深]Titel: „Meine Erfahrungen in Qingdao (Qingdao wenjian lu 青島聞見錄)Quelle: „Monatszeitschrift für Literatur“ (Xiaoshuo yuebao 小說月報), Band 6, Nr. 1, 25.01.1915, S. 6.Objektbeschreibung: ZeitschriftenartikelÜbersetzung: Jonas SchmidRechte der Übersetzung: CC BY-SA 4.0

Einordnung: Der Artikel „Meine Erfahrungen in Qingdao(Qingdao wenjian lu 青島聞見錄) erschien im Januar und Februar 1915 in zwei Teilen in der Shanghaier Unterhaltungszeitschrift „Monatszeitschrift für Literatur“ (Xiaoshuo yuebao 小說月報). (Hong 1915a; Hong 1915b) Dieser Einordnungstext gibt eine Zusammenfassung des zweiteiligen Artikels und erläutert, wie der Autor darin ein sehr positives Bild der deutschen Kolonie Qingdao zeichnet. In einem zweiten Teil wird der Autor Hong Shen vorgestellt und erklärt, wie sein positives Bild von Qingdao mit seinem Familienverhältnissen zusammenhängt.

 

Der Artikel

Im ersten Teil des Artikels schildert der Autor, dass er zwischen dem Sommer 1914 und dem Sommer 1915 insgesamt vier Mal Qingdao besuchte und dort zusammengerechnet vier Monate verbrachte. Zwischen Sommer 1914 und Sommer 1915 war Qingdao von Japan erobert und besetzt worden. Gleich im ersten Absatz wird die positive Haltung des Autors gegenüber den Deutschen in Qingdao deutlich: An die beeindruckenden Erfolge (shengji 盛迹) der deutschen Kolonialherrschaft könnten die Japaner als neue Kolonialherren wohl kaum anknüpfen. (Hong 1915a, 1) Der Autor äußert sich außerdem lobend über die öffentliche Ordnung in der deutschen Kolonie (siehe den übersetzten Ausschnitt oben). Neben der Arbeit der Polizei (und insbesondere der Polizeihunde) bewundert er, dass es ein sorgfältiges Einwohnerregister und fähige Richter gibt. Positiv sieht er auch die Pünktlichkeit und Annehmlichkeit der Eisenbahn und Postschifffahrt. (Hong 1915a, 2-5) Beeindruckend ist für ihn vor allem die Ordnung in der deutschen Kolonie: Alles ist gesetzlich geregelt – Landbesitz, Landverkauf, die Errichtung von Gebäuden sowie die Zahlung von Geldern bei Bauten. (Hong 1915a, 6-7) Auch die Deutschen in Qingdao erscheinen dem Autor relativ positiv: Sie sind sehr sparsam (pflanzen Gemüse im Vorgarten) und züchtig (in Deutschland hat ein Mann von Gesetz her nur eine Frau, anders als die reichen Chinesen in Qingdao, die auch Konkubinen haben). Nur die Schilderungen des exzessiven Alkoholkonsums der Deutschen und der Unfälle, die durch Trunkenheit entstanden, lassen die Deutschen in Qingdao etwas negativer erscheinen. (Hong 1915a, 7-8)

Der Autor erwähnt auch die hohen Summen, welche die Deutschen in das Pachtgebiet investieren. Um diese Ausgaben nicht nur aus der Staatskasse des Deutschen Reiches bestreiten zu müssen, wollte die Kolonialverwaltung eine Alkoholsteuer einführen. Da diese auch auf den Verkauf von chinesischem Schnaps (shaojiu 燒酒) gelten sollte, regte sich Unmut unter der chinesischen Bevölkerung. Der Autor übernimmt hier jedoch die Argumentation der deutschen Kolonialverwaltung: Auch in Deutschland müsse jede*r jährlich Steuern an den Staat zahlen und die Qingdaoer seien eben auch Bürger Deutschlands (Deguo guomin 德國國民). (Hong 1915a, 6)

Abschließend geht der Autor auch auf die chinesische Bevölkerung in Qingdao ein. Die chinesische Bevölkerung Qingdaos unterteilt der Autor in drei Stufen: Die höchste Stufe stellen reiche Chinesen (gemeint sind wahrscheinlich die ehemaligen Eliten der Qing-Dynastien), die vor dem „Chaos“ – die Revolution 1911 und Gründung der Republik China – in die deutsche Kolonie Qingdao geflohen sind, dort weitestgehend zurückgezogen leben, mit ihrem Kapitel Firmen gründen, Grund und Boden erwerben oder Geld verleihen. Die mittlere Stufe bilden chinesische Händler und Mitarbeiter ausländische Firmen. Die unterste Stufe besteht aus Tagelöhnern, Rikschafahrern oder Lastenträgern. Auch die arme Landbevölkerung außerhalb der Stadt Qingdao, die immer wieder unter Hunger leidet, gehört für den Autor zu dieser untersten Schicht. (Hong 1915a, 8-9)

Der zweite Teil des Artikels wurde einen Monat später im Februar 1915 publiziert und handelt von den Ereignissen in Qingdao nach dem Kriegsbeginn. (Hong 1915b) Im vorhergehenden Artikel hatte der Autor sich bereits positiv über die Kriegsvorbereitungen und beeindruckt von den deutschen Soldaten gezeigt. (Hong 1915a, 5-6) Trotz der drohenden Gefahr eines japanischen Angriffs und der Flucht vieler Chines*innen aus Qingdao bewertet der Autor das Verhalten der deutschen Kolonialverwaltung positiv: Er schildert wie es bei der Abfahrt eines völlig überladenen Passagierschiffes nach Shanghai zu tumultartigen Szenen kommt und darauf die deutsche Polizei eingreifen muss. Diese lässt alle Passagiere nochmals aussteigen und dann geordnet wieder an Bord gehen. Laut dem Autor gaben viele Chines*innen ihre Geschäfte und Häuser in Qingdao auf und flohen nach Jinan 濟南, der Hauptstadt der Provinz Shandong 山東. Dies war jedoch kein leichtes Unterfangen, da Züge und Schiffe überfüllt und der Transport von Gepäck sehr teuer und begrenzt war. (Hong 1915b, 14) Der Autor schildert auch wie sich eine Gruppe reicher und gebildeter Chinesen in Qingdao im Haus des deutschen Missionars und Sinologen Richard Wilhelm (1873–1930) trafen und über Verbesserungen zur Situation der chinesischen Bevölkerung berieten. Wilhelm sollte eine Reihe von Forderungen der Chinesen an den deutschen Gouverneur überbringen: Unter anderem, dass aktuelle Telegraphennachrichten zum Kriegsgeschehen täglich ins Chinesische übersetzt werden und die Kapitalanlagen der Chinesen in den deutschen Banken gesichert seien. Positiv bemerkt der Autor, dass die Deutschen die Chinesen nicht zum Militärdienst zwingen, sondern gleich wie alle anderen Ausländer behandeln würden. (Hong 1915b, 12-13)

 

Der Autor

Das Pseudonym des Autors „Der sich am Wasser erfreut“ (Le Shui 樂水) spielt an auf eine bekannte Stelle aus den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu 論語), in denen es heißt: „Der Wissende freut sich am Wasser, der Fromme (›Sittliche‹) freut sich am Gebirge.“ (知者樂水,仁者樂山). (Wilhelm 1921, 57) Der Autor dieser zwei knappen Skizzen zur deutschen Kolonie Qingdao vor dem Fall an die Japaner 1914 war niemand anders als der junge, zwanzigjährige Hong Shen 洪深 (1894-1955). Warum Hong Shen sich für seinen Artikel über Qingdao gerade dieses Pseudonym ausdachte, ist unklar.

Hong Shen ist auch heutzutage noch bekannt, da er als einer der Gründerväter des chinesischen Sprechtheaters gilt, später auch Drehbücher schrieb und einflussreiche Filme drehte. In eine reiche Gelehrtenfamilie im wirtschaftlich bedeutenden Delta des Yangzi (in China "Langer Fluss" Chang Jiang 长江 genannt) geboren, ging er in Shanghai und Tianjin zur Schule – beides Orte mit starker ausländischer Präsenz. 1912 begann er  an der Tsinghua-Universität (Qinghua daxue 清華大學) in der Hauptstadt Beijing zu studieren, die damals chinesische Studenten auf ein Auslandsstudium in den USA vorbereitete.

1915 schrieb er sein erstes Drama, ging im darauffolgenden Jahr dann an die USA, wo er ab 1919 unter anderem an der Harvard Universität Literatur und Schauspielkunst studierte. Nach seiner Rückkehr 1922 nach China lehrte er an verschiedenen chinesischen Universitäten und schrieb Theaterstücke, mit denen er bald Aufsehen und Zuspruch der Kritiker erregte. Seit Mitte der 1925 schrieb er außerdem Drehbücher für Filme und führte auch selbst Regie – mehrere seiner Filme waren sehr erfolgreich. Nach dem zweiten chinesisch-japanischen Krieg 1945 machte er sich während des chinesischen Bürgerkriegs 1945-1949 auf in die von den Kommunisten kontrollierten Gebiete im Norden Chinas. Nach der Gründung der Volksrepublik China nahm er einige politische Posten an und starb im Alter von 61 Jahren 1955 in Beijing an Krebs. (Ye/Zhu 2012, 75f)

Als Hong Shen 1915 unter dem Pseudonym „Der sich am Wasser erfreut“ die Artikel „Meine Erfahrungen in Qingdao“ veröffentlichte, hatte seine erfolgreiche Karriere als Dramatiker und Filmschaffender noch nicht begonnen. Wie kam es also dazu, dass gerade er mehrmals die deutsche Kolonie Qingdao besuchte und darüber in einer chinesischen Unterhaltungszeitschrift ausführlich berichtete? Das liegt an Hong Shens Vater Hong Shuzu (洪述祖, 1855-1919), der über Beziehungen in den letzten Jahrzehnten der Qing-Dynastie eine politische Karriere begonnen hatte. Nach der Revolution 1911 und dem Ende des Kaiserreichs arbeitete er mit Yuan Shikai (袁世凱, 1859-1916), dem in der Hauptstadt Beijing mächtigen Militär, zusammen. Als Yuan 1912 zum Präsidenten der Republik China gewählt wurde, bekam Hong Shuzu eine Stelle als Sekretär im Innenministerium. Bei den Wahlen zur ersten chinesischen Nationalversammlung im Februar 1912 errang die Nationale Volkspartei Chinas (Guomindang 國民黨) unter Song Jiaoren (宋教仁, 1882-1913) einen Sieg, der Yuans Machtposition als Präsident gefährdete. Hong Shuzu fädelte daraufhin ein Attentat auf Song Jiaoren ein, bei dem dieser am 22. März 1913 ermordet wurde. (Shang 2016, 13-15)

Als Anfang April 1913 in den chinesischen Medien in Zusammenhang mit Songs Ermordung kompromittierende Telegramme von Hong Shuzu auftauchten und die öffentliche Meinung Yuan Shikai für die Ermordung verantwortlich machte, flüchtete Hong Shuzu in die deutsche Kolonie Qingdao. (Shang 2016, 21-15) Bereits seit der Revolution 1911 hatte die deutsche Kolonie Qingdao als Zufluchtsort für ehemalige Politiker und Beamte der Qing-Dynastie gedient. (Mühlhahn 2014, 141) Offiziell fordert das chinesische Außenministerium der Regierung von Yuan Shikai in Beijing die Auslieferung Hongs – hinter den Kulissen gab sie dem deutschen Gouverneur jedoch zu verstehen, dass Hong fürs Erste in Qingdao bleiben solle. Um den Schein zu wahren, wurde Hong in Qingdao verhört und das Protokoll, in dem er seine Unschuld beteuerte, nach Beijing geschickt – ausgeliefert wurde er nicht. (Stichler 1994, 368-374) Ende April kauft Hong Shuzu sich dann mit finanzieller Unterstützung von Yuan Shikai ein Anwesen in Qingdao. (Shang 2016, 25f) Dort besucht ihn auch sein Sohn Hong Shen. Wahrscheinlich verließ Hong Shuzu bereits 1914, bevor Japan Qingdao angriff, die deutsche Kolonie. Wenige Jahre später – Yuan Shikai war mittlerweile verstorben – wurde Hong in Shanghai von Familienmitgliedern des ermordeten Song Jiaoren erkannt, verhaftet, vor Gericht gestellt und gehängt. (Matzat 2015)

Die Biographie von Hong Shens Vater, der in der deutschen Kolonie Qingdao Schutz erhielt und so fürs Erste vor rechtlichen Konsequenzen des von ihm initiierten Attentats verschont blieb, ist eine Erklärung dafür, dass Hong Shen so positiv über die deutsche Kolonialherrschaft in Qingdao schreibt. Der positive Blick auf Deutschland könnte ebenfalls daher rühren, dass Qingdao von Japan erobert worden war und Japan noch dazu im Januar 1915 21 Forderungen an China gestellt hatte, die Japan großen Einfluss in China (zum Beispiel durch Beteiligung am Aufbau von Infrastruktur, wie dem Eisenbahnnetz) und Teile Chinas als quasi-koloniale Einflussgebiete (z.B. Shandong und die Mandschurei) zusichern sollten. In China kam es daraufhin zu Boykottaufrufen von japanischen Waren und das Japan-Bild in China verschlechterte sich. Das Beispiel Sun Yatsens (M3.3 in diesem Modul), der während seines Besuches in Qingdao 1912 ebenfalls positiv auf die deutsche Kolonie blickte, zeigt allerdings auch, dass Hong Shen mit seiner positiven Meinung über die deutsche Kolonialverwaltung in den Zirkeln der chinesischen Politik- und Wirtschaftselite nicht allein war und diese auch schon vor der Eroberung Qingdaos durch Japan und der japanischen 21 Forderungen verbreitet war.

Die Erfahrungen mit dem Kolonialismus und der Lebensalltag in den ausländischen Kolonien unterschieden sich für Chinesen verschiedener gesellschaftlicher Schichten. Für Politiker wie Hong Shuzu, die sich in China selbst nicht in Sicherheit wiegen konnten, war die deutsche Kolonie Qingdao ein Zufluchtsort. Dementsprechend positiv blickte diese chinesische Elite, die durch Geld und Einfluss ein komfortables Leben in stattliche Anwesen in Qingdao führen konnte, auf die deutsche Kolonialherrschaft. Über den Alltag der Mehrheit der einfachen chinesischen Arbeiter und Tagelöhner im kolonialen Qingdao können Texte wie der von Hong Shen jedoch nur wenig aussagen.

(Jonas Schmid, Mai 2021)

Verwendete Literatur

Hong Shen. 1915a. 青島聞見錄. 小說月報 6, Nr. 1: 1–9. Zitieren
Hong Shen. 1915b. 青島聞見錄. 小說月報 6, Nr. 2: 11–14. Zitieren
Lü, Yixu. 2017. Colonial Qingdao through Chinese Eyes. In: The Cultural Legacy of German Colonial Rule, hg. von Klaus Mühlhahn, 127–141. Berlin/Oldenburg: De Gruyter. Zitieren

Knappes Kapitel einer chinesischen Germanistin zur Frage, wie man Anfang des 20. Jahrhunderts und heute in China auf die deutsche Kolonie Qingdao blickte. Der erste Teil des Kapitels stützt sich wesentlich auf Qu Xiaoleis chinesischsprachigen Aufsatz von 2015.

Matzat, Wilhelm. 2015. Hong Shu-zu (1858 – 1919), Kabinettsekretär. Tsingtau.org. 6. Februar. https://tsingtau.org/hong-shu-zu-1858-1919-kabinettsekretaer/ (zugegriffen: 13. Mai 2021). Zitieren
Mühlhahn, Klaus. 2014. A New Imperial Vision? The Limits of German Colonialism in China. In: German Colonialism in a Global Age, hg. von Bradley Naranch und Geoff Eley, 129–146. Durham; London: Duke University Press. Zitieren

Englischsprachiges Kapitel, das Mühlhahns Forschung zur deutschen Kolonie Qingdao knapp zusammenfasst.

Qu Xiaolei. 2010. 屈辱与认同之间:清末民初国人眼中的德国形象 ———以胶澳租借地为中心. 社会科学辑刊 5: 156–163. Zitieren

Chinesischer Aufsatz, der einen Überblick über chinesische Perspektiven und Bewertungen der deutschen Kolonie Qingdao und der Deutschen in China in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt.

Stichler, Hans-Christian. 1994. Die deutsche Jiaozhou-Administration und das Attentat auf Song Jiaoren. In: Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, 21:359–374. Berliner China-Studien. München: Minerva-Publ. Zitieren
Wilhelm, Richard. 1921. Kungfutse, Gespräche (Lun Yü). Jena: Eugen Diederichs. https://www.ruhr-uni-bochum.de/oaw/slc/Wilhelm_Lunyu.pdf. Zitieren
Ye, Tan und Yun Zhu. 2012. Historical Dictionary of Chinese Cinema. Rowman & Littlefield. Zitieren