M1.2: Ein chinesisch-deutsches Oktoberfest um 1900? – Weiterführende Informationen

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AutorTitelVerlagDatumObjektbeschreibungInhaltRechteEinordnung
Autor*in: Arthur Michaelis (1864-1946)Titel: GRUSS aus KIAOTSCHAUVerlag: Bruno Bürger und [Carl] Ottillie, Lith. Anstalt LeipzigDatum: 1898 LeipzigObjektbeschreibung: Postkarte mit gezeichneter Briefmarke, Poststempeln und Textfeld unten rechts. Handschriftlicher Text unten rechts: „Deine l. Karte mit bestem Dank erhalten. Mit Gruß Dein Cousin Ernst“ Text am Rand rechts: „bitte schreibe bald.“ Auf der Rückseite der Karte: Adresse, Briefmarke (5 Pfennig) und zwei Poststempel (Littau und Cöslin).Bildinhalt: Kiaotschau [Jiaozhou], deutsche Matrosen, Chinesen, Bier, Wiener Würstchen, Hotel Li Hung Tschang [Li Hongzhang], Van Houtens Cacao, Restauration zum Fidelen Matrosen, Bierniederlage Gabriel Sedlmayr, Zoemers Eier-Creme Cognac, HB [Hofbräu Bier]Bildrechte: CC-BY-SA

Einordnung: Postkarten wurden im deutschsprachigen Raum seit den 1870er-Jahren verschickt. Um die Jahrhundertwende 1900 herum avancierten sie jedoch aufgrund der relativ günstigen Herstellungsmöglichkeiten durch private Firmen zu einem Massenmedium: Im Jahr 1900 wurden bereits eine Milliarde Postkarten im Deutschen Kaiserreich verschickt. Im Gegensatz zu den uns heute bekannten Postkarten erlaubte die Reichspost bis ins Jahr 1905 hinein auf der Rückseite der Postkarten nur die Adresse des Empfängers einzutragen. Die Nachrichten der Postkartenversender*innen mussten daher auf die oftmals kleinen Textfelder auf der Vorderseite oder an die Bildränder geschrieben werden. Noch wichtiger als die knappen Textbotschaften war also das Bild auf der Vorderseite. (Axster 2014, 11f) Postkarten waren um 1900 herum ein alltägliches Medium, das große Teile der Bevölkerung erreichte. Neben bekannten Städten, Ausflugsorten oder bedeutenden Ereignissen (z.B. Jahrmärkten) waren auch die deutschen Kolonien und die Kolonialkriege Motive auf Postkarten. Postkarten mit kolonialen Motiven wurden nicht nur aus und in die Kolonien versendet, sondern zirkulierten auch im Kaiserreich selbst. Beispielhaft zeigt dies auch die Postkarte oben, die von Littau (heute: Litovel in Tschechien) nach Cöslin (heute: Koszalin in Polen) gesendet wurde. Der Text des Absenders scheint vordergründig ohne jeden Zusammenhang zum visuellen Inhalt der Postkarte zu stehen. Dies verdeutlicht, dass bildliche Darstellungen der Kolonien im deutschen Alltag um 1900 als völlig normal und selbstverständlich wahrgenommen wurden. (Jäger 2010, 179) Postkartenverlage druckten ganze Reihen an „Gruss aus…“-Postkarten mit verschiedenen Orten im Deutschen Reich und den Kolonien als Motiv. Postkarten waren also wichtige Medien, die ein Bild von den deutschen Kolonien als fester Bestandteil des Deutschen Reiches vermittelten. (Andréys 2009, 23f) Dies wird auch betont, in dem Ähnlichkeiten zwischen der Kolonie (Qingdao) und dem Deutschen Reich dargestellt werden (Jäger 2010, 172). Auf der Postkarte „Gruss aus Kiaotschau“ sind dies Wiener Würstchen, deutscher Wein, deutscher Cognac oder Münchner Bier.

Gleichzeitig war aber auch die Darstellung von Andersartigkeit und Differenz ein wesentliches Merkmal der Bildgestaltung kolonialer Postkarten (Jäger 2010, 172). Hierdurch legitimierten Postkarten zumindest implizit die deutsche Kolonialherrschaft. (Andréys 2009, 25) Die Postkarte „Gruss aus Kiaotschau“ beispielsweise zeigt auf den ersten Blick ein harmonisches Zusammenleben von Deutschen und Chinesen in der Kolonie. Fast wirkt es, als würden die Deutschen und Chines*innen vor Ort ein Bierfest feuern – auch die chinesische Bedienung mit sieben Bierkrügen an der Hand erinnert an typisch „deutsche“ (ursprünglich jedoch vor allem bayerische) Bierfesttraditionen. (Groeneveld 2020)

Die Realität in der deutschen Kolonie Qingdao sah jedoch anders aus. Denn in China selbst war man noch nicht auf den Geschmack von Bier gekommen: Seit Jahrtausenden wurden in China alkoholische Getränke aus fermentiertem Getreide (hauptsächlich Weizen und Gerste) hergestellt und in den letzten Jahrhunderten des Kaiserreichs war vor allem hochprozentiger, destillierter Alkohol beliebt. (Huang/Needham 2000, 149-155) Die chinesische Elite in Qingdao trank daher zum Beispiel lieber erwärmten Reisewein. (Groeneveld 2020) Unter deutscher Kolonialherrschaft war der Konsum von Bier daher zunächst eine rein deutsche Angelegenheit – wenn auch einige chinesische Händler in ihren Läden Alkohol an die Deutschen verkauften. Auch innerhalb der deutschen Bevölkerung Qingdaos zeigten sich Unterschiede: Vor allem die wirtschaftliche und politische Elite der Deutschen in Qingdao konnte sich teure Alkoholika – oft auch aus der Heimat – leisten, während einfache Marinesoldaten sogar eine Erlaubnis ihres Vorgesetzten brauchten, um Schnaps zu trinken. (Groeneveld 2020)

Bei näherem Hinsehen werden die Chines*innen auf der Postkarte auch eher negativ dargestellt: Denn während die „faulen Chinesen“ die „Annehmlichkeiten“ der deutschen Kolonialherrschaft genießen (Bier, Würstchen, Kaffee, Schnaps) sind es die Deutschen, die arbeiten und im Hintergrund Weinfässer transportieren. Dies schließt an damalige Vorstellungen von China und den Chinesen als rückständig an – erst westlicher Einfluss bringe Fortschritt nach China. Auch rassistische Stereotype (die „gelbe Haut der Chinesen“) werden durch die Postkarte transportiert: Während europäische Reisende bis ins 18. Jahrhundert hinein, die Chinesen als weiß oder von ähnlicher Hautfarbe wie die Europäer, beschrieben, wurden mit Voranschreiten des Kolonialismus Chinesen durchweg als gelb (und damit als anders) dargestellt. (Demel 1992) Und dass in der Kolonie die Deutschen als Kolonisatoren die Zügel in der Hand halten, wird symbolisch am Matrosen links unten auf der Postkarte deutlich, der einen betrunkenen Chinesen am Zopf (während der Qing Dynastie, 1644-1911, mussten alle chinesischen Männer einen Zopf tragen) festhält.

Charakteristisch für viele koloniale Postkarten ist auch eine sexuelle Komponente, die Beziehungen zwischen einheimischen Frauen und deutschen Männern zeigt oder auf diese anspielt. (Andréys 2009, 26) Die militärisch-administrative Besetzung fremder Territorien wird hier durch die sexuelle Eroberung einheimischer Frauen symbolisiert. (Axster 2014, 121-168.) Beispiele aus der Postkarte „Gruss aus Kiaotschau“ oben sind der Matrose, der zwei asiatische Frauen im Arm hält, und die Chinesin ganz links, die an ihrem Fenster gerade ein Schild mit der Aufschrift „Garcon-Logis“ (Unterkunft für junge Männer) anbringt.

Abschließend ist festzuhalten, dass es sich bei den Darstellungen kolonialer Motive auf Postkarten jedoch oftmals um exotische Phantasien der deutschen Zeichner handelt. Arthur Michaelis (1864–1946), der Zeichner dieser Postkarte, beispielsweise war nie in Qingdao oder China gewesen. Die Schriftzeichen auf der Postkarte sind reine Fantasie und ähneln nicht einmal chinesischen Schriftzeichen. Doch wahrscheinlich gerade wegen dieser Vermischung von exotischen Phantasien, rassistischen und kulturellen Überlegenheitsvorstellungen mit Kommerz und Populärkultur waren koloniale Postkarten um 1900 so erfolgreich und vermittelten koloniale Vorstellungen in weite Teile der Gesellschaft.

Wie Arthur Michaelis, der Maler dieser Postkarte, über die deutschen Kolonien dachte, können wir heute ohne weitere Quellen von ihm nicht mehr erschließen. Womöglich stecken in Michaelis‘ Postkarte auch kritische Elemente, die wir heute kaum mehr wahrnehmen. Wie beispielsweise ist die Figur des mit ausgestrecktem Finger gestikulierenden, eine deutsche Pickelhaube und das Gewand eines chinesischen Beamten tragenden Chinesen im Mittelpunkt der Postkarte zu deuten? Womöglich imitiert er die Befehle eines deutschen Soldaten. Doch wem gilt seine Order? Dem sichtbar betrunken am Boden liegenden Chinesen am linken unteren Bildrand? Dann kritisiert Michaelis womöglich damit das Gehabe deutscher Offiziere. (Groeneveld 2020) Oder gilt sein Befehl doch dem deutschen Marinematrosen, der den Chinesen an seinem Zopf festhält? Kritisiert Michaelis dann damit - wenigstens implizit - die Machthierarchien in der Kolonie?


(Jonas Schmid, Mai 2021)

 

Verwendete Literatur

Andréys, Clémence. 2009. 从明信片中看青岛和中德关系. 《中国海洋大学学报》( 社会科学版) 2: 21–30. Zitieren

Chinesische Übersetzung eines Aufsatzes einer französischen Germanistin, der ausgehend von Postkarten zu Qingdao untersucht, wie die deutsche Kolonie und die Chines*innen dort in der deutschen Gesellschaft dargestellt wurden.

Axster, Felix. 2014. Koloniales Spektakel in 9 x 14: Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Post-koloniale Medienwissenschaft. Bielefeld: transcript. Zitieren

Axsters Dissertation ist die erste ausführliche Analyse deutscher Postkarten mit kolonialen Motiven. Axster analysiert die unterschiedliche Darstellung und Bewertung von Kolonisatoren (überlegen) und Kolonisierten (unterdrückt und erniedrigt) vor allem in den Kontexten Gewalt und Sexualität. Durch diese Darstellung transportierten Postkarten koloniale Vorstellungen in große Teile der Gesellschaft.

Demel, Walter. 1992. Wie die Chinesen gelb wurden: Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorien. Historische Zeitschrift 255, Nr. 3: 625–666. Zitieren

Demel zeichnet nach, wie sich die Beschreibung des Aussehens der Chinese in europäischen Berichten seit dem 16. Jahrhundert verändert hat: Während die Chinesen ursprünglich als weiß bzw. den Europäern ähnlich angesehen wurde, wurden sie mit Ausbreitung kolonialer Gedanken als gelb und anders beschrieben.

Grewe, Bernd-Stefan und Sarah Huber. Das visuelle Erbe des Kolonialismus (Unterrichtsmaterial). Histo-Media. https://www.histo-media.com/geschichtsunterricht/visuelles-erbe-des-kolonialismus/. Zitieren

Weitere Unterrichtsmaterialien zu zwei kolonialen Postkarten (zu   Qingdao und zu West-Afrika) inklusive Arbeitsaufgaben in drei   verschiedenen Schwierigkeitsgraden und einer Handreichung mit Anmerkung   zu Bildbeschreibung und -interpretation. Darüber hinaus finden sich   ähnlich strukturierte Unterrichtsmaterialien zu kolonialen Lebenswelten,   Karikaturen, Völkerschauen, Sammelbilder, historischen Karten uvm.

Groeneveld, Sabina. 2020. “A hotbed of sins” or “just like home”? Drinking cultures in colonial Qingdao (1897–1914). In: Alcohol Flows Across Cultures. Drinking Cultures in Transnational and Comparative Perspective, hg. von Waltraud Ernst, 139–158. London: Routledge. 10.4324/9780203732038-7. Zitieren

Das Kapitel gibt einen Überblick über den Alkoholkonsum in der deutschen Kolonie Qingdao.

Haschemi Yekani, Minu und Ulrike Schaper. 2017. Pictures, Postcards, Points of Contact: New Approaches to Cultural Histories of German Colonialism. German history 35, Nr. 4: 603–623. Zitieren

Rezensionsartikel, der einen Überblick über neuere Erscheinungen zur kulturellen Dimension des deutschen Kolonialismus gibt. Ein Fokus des Artikels liegt auf neuen Forschungsergebnissen zu visuellen Quellen wie Postkarten oder Werbung, die hier prägnant zusammengefasst werden.

Huang, Hsing-Tsung und Joseph Needham, Hrsg. 2000. Fermentations and food science. 1. publ. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. Zitieren

Grundlegendes Überblickswerk zur Entwicklung der Herstellung und des Konsums von alkoholischen Getränken in China.

Jäger, Jens. 2010. Plätze an der Sonne? Europäische Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900. In: Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, hg. von Claudia Kraft, Alf Lüdtke, und Jürgen Martschukat, 162–184. Frankfurt ; New York: Campus Verlag. Zitieren

Wissenschaftlicher Aufsatz, der einen Überblick über die Rolle von visuellen Medien wie Postkarten oder Sammelbilder bei der Darstellung und Verbreitung stereotyper Bilder über die Kolonien und die dort Lebenden.

Leutner, Mechthild. 2009. „Schlitzäugige Schöne“ und „gehorsame Dienerin des Mannes“. Deutsche Bilder von chinesischen Frauen in der Kolonialperiode. In: Frauen in den deutschen Kolonien, hg. von Marianne Bechhaus-Gerst und Mechthild Leutner, 10:194–204. 1. Aufl. Schlaglichter der Kolonialgeschichte. Berlin: Ch. Links. Zitieren

Leutner unterscheidet in ihrem Überblick über die stereotypen Bilder über Chinesinnen im kolonialen Deutschland zwei Pole: Die Chinesin als exotische und fügsame sexuelle Attraktion und die Chinesin als Symbol für die Rückwärtsgewandheit Chinas, symbolisiert durch ihre gebundenen Füße.

Leutner, Mechthild und Klaus Mühlhahn. 1994. Die „Musterkolonie“: Die Perzeption des Schutzgebietes jiaozhou in Deutschland. In: Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen Berlin 1991, hg. von Mechthild Leutner und Heng-yü Kuo, 399–423. Berliner China-Studien 21. München: Minerva-Publ. Zitieren

Die Sinolog*innen Mühlhahn und Leutner zeichnen nach, wie deutschsprachige Autor*innen Qingdao zur "Musterkolonie" stilisierten und das koloniale Vorgehen der Deutschen in Qingdao rechtfertigten oder relativierten. Dabei greifen sie hauptsächlich auf Quellen aus der Kolonialzeit und der Weimarer Republik zurück, zeigen aber auch auf, wie ähnliche Argumentationsmuster auch in der deutschsprachigen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg weiterhin vorkommen.

May, Otto. 2016. Europa und die „Gelbe Gefahr": vom Boxer-Aufstand zum russisch-japanischen Krieg. 1. Aufl. Geschichte im Postkartenbild. Hildesheim: Franzbecker. Zitieren

Vielzahl weiterer europäischer Postkarten insbesondere aus der Zeit des sogenannten Boxeraufstands 1900 und 1901, in der Chines*innen vor allem hässlich und abschreckend dargestellt werden.