M4.2: Mehrheit und Minderheiten – Weiterführende Informationen

Link zum Material: https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-china-m4-2

AutorTitelDatumRechteEinordnung
Urheber*innen: China-Schul-Akademie, Jonas Schmid, Stefanie ElbernTitel: Mehrheit und Minderheiten in der Volksrepublik ChinaEntstehungsdatum: 2022Rechte: CC BY-SA 4.0

Einordnung: Han-Mehrheit und offiziell anerkannte Minderheiten

In der VR China werden Han-Chinesen wie auch die ethnischen Minderheiten heute als minzu 民族 – oder ethnonationale Gruppe/Nationalität definiert, die Minderheiten als „Ethnien mit geringer Personenanzahl“ (shaoshu minzu 少数民族). Die Han-Chinesen (Hanzu 汉族) bilden zusammen mit den ab den 1950er Jahren offiziell anerkannten 55 ethnischen Gruppen (z.B. Zhuang 壮族, Yi 彝族, Uiguren 维吾尔族, Bai 白族, Tibeter 藏族, Miao 苗族, Lisu 傈僳族, Mongolen 蒙古族 etc.), den Nationalstaat Volksrepublik China. Mit mehr als 1,2 Milliarden Angehörigen und damit mehr als 90% Anteil an der Gesamtbevölkerung sind die Han heute mit Abstand die größte Ethnie in China. Sie ist 76-mal größer als die nächstgrößte ethnische Gruppe, die Zhuang 壮族, und vierhunderttausend Mal größer als die kleinste anerkannte ethnische Gruppe, die Gaoshan 高山族.

Doch während die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Angehörigen der Ethnien im Vergleich zu den Han mit 106 Millionen zu mehr als 1,2 Milliarden extrem groß erscheint, gibt es absolut betrachtet mehr Minderheitenangehörige als deutsche Staatsbürger*innen.

Die Daten, die den Abbildungen zugrunde liegen, stammen aus dem im Jahr 2020 durchgeführten Zensus (online auf Englisch frei zugänglich im „China Statistical Yearbook“ unter: https://www.stats.gov.cn/sj/ndsj/2021/indexeh.htm, Abschnitt 25.19. „Geographic Distribution and Population of Ethnic Minorities“). Nach Personenanzahl geordnet lauten die 55 offiziell anerkannten Minderheiten wie folgt:

 

Zhuang           19568546

Uighuren        11774538

Hui                  11377914

Miao                11067929

Mandschu       10423303

Yi                    9830327

Tujia               9587732

Tibeter            7060731

Mongolen       6290204

Bouyei             3576752

Dong               3495993

Yao                  3309341

Bai                   2091543

Hani                1733166

Koreaner         1702479

Li                     1602104

Kasachen        1562518

Dai                  1329985

Dongxiang      774947

Lisu                 762996

She                  746385

Gelao               677521

Lahu                499167

Shui                495928

Va                    430977

Naxi                323767

Qiang              312981

Tu                   281928

Mulam            277233

Kirgisen          204402

Xibe                 191911

Salar                165159

Jingpo             160471

Daur                132299

Blang              127345

Maonan           124092

Tadschiken     50896

Pumi               45012

Achang           43775

Nu                   36575

Ewenki           34617

Jing                  33112

Jino                 26025

Bonan             24434

Deang             22354

Russen             16136

Yugur             14706

Usbeken          12742

Moinba           11143

Oroqen            9168

Drung             7310

Hezhen           5373

Lhoba              4237

Tatar               3544

Gaoshan          3479

 

Entstehung der Kategorie „Minderheiten“

1931 hatten die chinesischen Kommunist*innen in ihrer Parteiverfassung (Art.14) das Recht auf Selbstbestimmung für die Nationalitäten (minzu 民族) aufgenommen, einschließlich eines Rechts auf Sezession und Bildung unabhängiger Staaten. Mit der Machtübernahme und Gründung der Volksrepublik 1949 veränderte sich allerdings die Auslegung des Konzepts der Selbstbestimmung, da es die Bedingungen in China in den Augen der Führungsebene nicht zuließen, ein der Sowjetunion ähnliches föderales System aufzubauen – geschweige denn, Territorium abzugeben. Aber gleichzeitig erforderte auch zu dieser Zeit das Ziel der territorialen Einheit des Landes pragmatische Kompromisse. Ein Zitat von Mao Zedong 毛泽东 (1893-1976) aus dem Jahr 1956 bringt den Konflikt wie folgt zum Ausdruck: „Wir sagen, China ist ein Land von großer Ausdehnung, reich an Ressourcen und reich an Bevölkerung; tatsächlich aber ist es die Han-Nationalität, deren Bevölkerung groß ist und es sind die Minderheiten-Nationalitäten, deren Territorien groß und deren Ressourcen reich sind.“ (zitiert nach: Mullaney 2012, 10) An die Stelle des Prinzips der Selbstbestimmung trat somit das Versprechen regionaler (kultureller und politischer) Autonomie in den Regionen und Gebieten, wo Minderheiten zahlenmäßig einen erheblichen Anteil an der Gesamtbevölkerung hatten (Bulag 2012, 100).

Dafür war es notwendig, zunächst Minderheiten zu definieren. Der chinesische Ausdruck shaoshu minzu 少数民族 lässt sich wörtlich übersetzen mit „Ethnien mit geringer Personenanzahl“. Diese Gruppen wurden aufgefordert, zwecks Anerkennung ihres Status bei staatlichen Stellen vorzusprechen. In den frühen 1950er-Jahren meldeten sich daraufhin mehr als 400 Gruppen. Um die so entstandene Situation einer kaum überschaubaren Vielfalt anzugehen, wurden Teams von Forscher*innen ausgesandt. Historiker*innen, Linguist*innen, Ethnolog*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen begannen mit der Suche nach Kriterien, die für die Einordnung als eigenständige Minderheit, für die Zuordnung zu größeren Minderheiten-Nationalitäten oder zur Han-Mehrheit sprachen. Dabei stützten sich die Teams auf Stalins Definition von Nationalität, nach der neben Faktoren wie Sprache, Territorium, Wirtschaftsleben und „psychologischer Konstitution“ in Form einer „gemeinsamen Kultur“ die historische Stabilität einer Gemeinschaft ausschlaggebend sein sollte.

Der überwiegende Teil der 55 Minderheiten wurde durch diesen Prozess bis zum Ende der 1950er-Jahre in der Volksrepublik China definiert. Diese Zuordnungen entbehrten trotz des wissenschaftlichen Anscheins letztlich in vielen, wenn nicht den meisten Fällen faktenbasierter (z.B. genetischer) Grundlagen, aber die einmal getätigte künstliche Zuordnung zu einer Gruppe durfte fortan nicht mehr in Frage gestellt werden (Yeh 2020, 69–77). Am Beispiel der Ethnie der Yao (Yaozu ) wird diese Vorgehensweise der Kategorisierung von Minderheiten im Material „Schaffung von ethnischen Minderheiten“ im Lernmodul „Chinas Minderheitenpolitik – Infrage gestellte Harmonie“ erläutert. Wissenschaftliche Aufarbeitungen der jeweiligen Vorgehensweise liegen für viele der Minderheiten vor, so z.B. für die in Sichuan 四川, Guizhou 贵州 und Yunnan 云南 lebenden Yi (Yizu 彝族), die ebenfalls aus Subgruppen bestehen, die distinkte Sprachen, Bräuche und Lebensgewohnheiten haben, die eine Gruppierung zu einer Ethnie (minzu 民族) bestenfalls als gewagt erscheinen lassen. Dabei wurde hier die Kategorisierung als Yi bereits wesentlich früher (als Kategorie aus der Zeit des Kaiserreichs) begonnen, von ausländischen Forscher*innen (vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts) übernommen und schließlich auch von den als solche zusammengefassten Gruppen als Gruppenidentität angenommen (Harrell 1995, 63–67). Die als solche bezeichneten „Tibeter*innen“ in den Siedlungsgebieten von Kham, Amdo und im tibetischen Kernland wiederum empfanden lokale Anbindungen als wesentliche Gruppenidentität und hatten vor 1949 kein nationales Bewusstsein als Gruppe – das Konzept einer ethnischen tibetischen Gruppe wurde erst durch die Bemühungen der 1950er-Jahre künstlich geschaffen.

 

(Stefanie Elbern, Mai 2021, angepasst von Jonas Schmid, 27.10.2022)

 

Verwendete Literatur

Bulag, Uradyn E. 2012. Good Han, Bad Han: The Moral Parameters of Ethnopolitics in China. In: Critical Han studies: the history, representation, and identity of China’s majority, hg. von Thomas S. Mullaney, 92–112. New Perspectives on Chinese Culture and Society 4. Berkeley: Univ. of California Press. Zitieren
Mullaney, Thomas S., Hrsg. 2012. Critical Han studies: the history, representation, and identity of China’s majority. New Perspectives on Chinese Culture and Society 4. Berkeley: Univ. of California Press. Zitieren

Zentrales Werk über die Kreierung eines Konzepts von Han-Chinesen zum Ende der Qing-Dynastie, denen "die Anderen" (ausländische Barbaren, inländische Nicht-Han-Gruppen) gegenübergestellt sind. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen widmen sich Facetten des Konstrukts, in dessen Kontext Begriffe wie "Rasse", "Ethnizität", "Kultur", "Nationalität" etc. gesetzt werden. Zentraler Herausgeber des Werkes ist Thomas Mullaney, Professor für chinesische Geschichte an der Standord University. Daneben sind Kapitel von AutorInnen enthalten, die für das Modulthema "Minderheiten" und "Xinjiang" entscheidende Beiträge liefern (Elliott, Leibold, Bulag etc.). 

Shih, Chih-yu. 2002. Ethnic Economy of Citizenship in China. In: Changing meanings of citizenship in modern China, hg. von Merle Goldman und Elisabeth Perry, 234–254. Harvard contemporary China series ARRAY(0x56554818f600). Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard University Press. https://archive.org/details/changingmeanings0000unse/page/234/mode/2up. Zitieren

Der Autor, Politikwissenschaftler aus Taiwan mit Forschungsaufenthalten in USA und Deutschland, wendet sich im hier verwendeten Kapitel auch den Minoritäten in Taiwan zu.