Ein chinesischer Christ blickt zurück auf den „Boxeraufstand“ (1903)

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Urheber: Fei Qihao 費起鶴 (1879-1953), Luelle Miner (1845-1935)Quelle: Luella Miner, Hrsg. 1903. Two Heroes of Cathay. An Autobiography and a Sketch. New York, Chicago, Toronto, London, Edinburgh: Fleming H. Revell Company. https://archive.org/details/twoheroesofcatha0000mine. S. 63-67, 141-142, 157-158, 171.Entstehungsdatum: 1903Rechte: GemeinfreiÜbersetzung: Jonas Schmid 2024Rechte der Übersetzung: CC BY-SAEinordnung: Der folgende Einordnungstext gibt einen Überblick über den historischen Hintergrund, Informationen zur Quelle und den darin erwähnten Personen sowie zu ihrer Rezeption.

Historischer Hintergrund: Der sogenannte „Boxeraufstand“ 1900-1901

Zwischen Großbritanniens Sieg im Opiumkrieg 1842 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung in China 1945 waren die Beziehungen zwischen China und der Welt stark asymmetrisch. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete. Mit den europäischen Kolonialist*innen kamen nicht nur Händler und Soldaten, sondern auch Missionare, die das Christentum verbreiten wollten. Diese von den Kolonialmächten beschützten Missionar*innen (dies ließen sich ausländische Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Verträgen gegenüber China zusichern) griffen immer wieder zugunsten chinesischer Christ*innen in örtliche Konflikte ein (Klein 2007). Unter der Landbevölkerung entwickelte sich so vielerorts ein Hass auf Missionare und damit Ausländer ganz allgemein (Amelung 1998; Dabringhaus 1995, 21-38).

Großflächige Überschwemmungen und Dürren in den Jahren vor 1900 führten zu einer Vielzahl Arbeitsloser und Unzufriedener (Amelung 1998). Bald gingen diese Gruppen aus verarmten Bauern und Arbeitslosen unter dem Schlagwort „Unterstützt die Qing, vernichtet das Ausländische“ (Fu Qing mie Yang 扶清滅洋) gegen ausländische Symbole vor – sie zerstörten Telegraphenmasten, Eisenbahnlinien, Kirchen und ermordeten auch viele chinesische Christ*innen. Selber nannten sie sich „in Rechtschaffenheit vereinte Fäuste“ (Yihequan 義和拳) oder auch „in Rechtschaffenheit vereinte Milizen“ (Yihetuan 義和團) – im Ausland wurden sie aufgrund ihrer Vorliebe für chinesische Kampfkunstpraktiken  als „Boxer“ bekannt (Esherick 1987, 154, 377).

Im Januar 1900 verkündet die de facto regierende Kaiserinwitwe Cixi (慈禧, 1835-1908), dass die Boxerbewegung überwiegend rechtmäßig und gesetzestreu sei. Mit Unterstützung der kaiserlichen-chinesischen Truppen, umstellten die Yihetuan 1900 das ausländische Gesandtschaftsviertel in der Hauptstadt Beijing. Aufgeputscht von Falschmeldungen über Massaker an den Gesandten und ihren Familien in Zeitungen weltweit schickten acht Staaten (darunter auch Deutschland) Soldaten nach China. Nach der Besetzung Beijings durch ausländische Truppen und der Flucht des Kaiserhauses aus der Hauptstadt Beijing war der Krieg zugunsten der ausländischen Staaten entschieden – es folgten Plünderungen und „Strafexpeditionen“ der ausländischen Truppen. Am siebten September 1901 musste die Qing-Regierung das im Ausland sogenannte „Boxer-Protokoll“ unterzeichnen. (Für einen knappen Überblick über die Ereignisse siehe Leutner und Mühlhahn 2007, 261-263.)

Während des sogenannten „Boxeraufstandes“ erregte die Ermordung von Missionar*innen und chinesischen Christ*innen in der Provinz Shanxi 山西 besondere Aufmerksamkeit im Ausland als Symbol für die Gewalttätigkeit und Grausamkeit der „Boxer“ sowie der sie unterstützenden Politiker.

Die „Boxer“ in Shanxi

Um das Jahr 1900 herum gab es im China, das zu diesem Zeitpunkt von der Qing-Dynastie (1644-1911) regiert wurde, unter circa 400 Millionen Chines*inen ungefähr 1,1 Millionen Christ*innen – darunter stellten Katholiken mit ca. 900.000 chinesischen Christ*innen im Vergleich zu etwa 200.000 protestantischen Christ*innen die Mehrheit (Klein 2007, 36). In der bergigen Provinz Shanxi, die westlich von der die Hauptstadt Beijing 北京 umgebenden Provinz Zhili 直隸 lag, war das Verhältnis noch größer zugunsten der Katholiken: Denn katholische Missionare kamen erstmals im 17. Jahrhundert in diese Provinz und protestantische missionarische Aktivitäten entwickelten sich erst in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (Clark 2013, 98-99). 1898 gab es in Shanxi 1.513 chinesische Protestanten (bei 151 Missionar*innen) und 26.961 Katholiken (bei 36 Missionar*innen) (Harrison 2007, 3). Die Missionar*innen – die chinesische Bevölkerung unterschied dabei kaum zwischen katholischem und protestantischem Hintergrund (Harrison 2007, 3) – betrieben gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Provinz mehrere Kirchen, Waisenhäuser, Krankenhäuser und Schulen (Clark 2013, 98-99).

Im März 1900 wurde Yuxian (毓賢, 1842–1901), der wie die Mitglieder des Herrscherhauses der damals regierenden Qing-Dynastie ein Mandschure war, zum Gouverneur (xunfu 巡撫) der Provinz Shanxi, das heißt dem wichtigsten Vertreter der Zentralregierung vor Ort, ernannt wurde (Esherick 1987, 190). Zuvor war er als Beamter in der Provinz Shandong 山東, wo das deutsche Kaiserreich wenige Jahre zuvor eine Kolonie besetzt hatte, aktiv gewesen – in Kombination mit seinem Verhalten während des „Boxeraufstandes“ haftet ihm daher stark auch in der Forschung das Bild eines konservativen, ausländerfeindlichen und antichristlichen Beamten an (vgl. Esherick 1987, 190-193; Thompson 2007, 81-83).

Vor seinem Wechsel aus Shandong nach Shanxi hatte Yuxian sich – wie auch in der vorliegenden Quelle erwähnt wird – am Kaiserhof für eine Unterstützung der „Boxer“ eingesetzt (Esherick 1987, 190). Laut einem zeitgenössischen Bericht eines Missionars vor Ort in Shanxi begann Yuxian am 18. April 1900 dann damit „Boxer“-Einheiten in der Provinzhauptstadt Taiyuan 太原 aufzustellen (Clark 2013, 101; siehe auch Harrison 2007, 10). Am 21. Juni 1900 erklärte die Kaiserinwitwe Cixi im Namen der Qing-Dynastie den ausländischen Staaten offiziell den Krieg, woraufhin Yuxian in Taiyuan ein Dekret verkündete, dass die chinesischen Christ*innen zur Abkehr vom Christentum aufrief (Clark 2013, 102) Am 2. Juli wurden die katholischen Missionar*innen in Taiyuan festenommen und eine Woche später, am 9. Juli ordnete Yuxian ihre Hinrichtung an (Clark 2013, 105; Esherick 1987, 191). Dieses im Ausland später viel besprochene „Massaker von Taiyuan“ brachte Yuxian den Beinamen „Schlächter von Shanxi“ ein (Clark 2013, 99) – für einen Überblick über zeitgenössische Berichte über die Getöten siehe Clark 2013, 111. Die Mehrzahl der Opfer waren jedoch chinesische Christ*innen (Clark 2013, 110). Der US-amerikanische Historiker Paul A. Cohen (1997, 51) schätzt etwa 2.000 getötete chinesische Christ*innen in Shanxi. Aufgrund dieser – auch im Vergleich mit anderen Regionen Chinas – hohen Anzahl wurde die vorliegende englischsprachige Quelle ausgewählt, um einen Einblick in die Perspektiven chinesischer Christ*innen während des „Boxeraufstandes“ zu geben.

In der Forschung ist umstritten, inwiefern die Massaker an Ausländern und chinesischen Christ*innen tatsächlich Yuxian anzulasten sind. In einer revisionistischen Darstellung argumentiert der US-amerikanische Sinologe und Historiker Roger Thompson (2007, 79-83), dass die Massaker womöglich nicht von Yuxian selbst initiiert worden waren. Ausgehend von chinesischen Quellen, darunter Schriften von Yuxian und anderen Beamten vor Ort, erläutert er, dass die Bewohner*innen von Taiyuan einen Angriff von bewaffneten Christ*innen, die sich seit Auftreten der „Boxer“ in die Berge zurückgezogen hätten, befürchteten (Thompson 2007, 74-78). Die Todesfälle unter Missionaren und Christ*innen seien daher auf die Gewaltätigkeit des Mobs in einer chaotischen, gewaltsamen Gesamtsituation zurückzuführen. Er erwähnt dabei auch, dass es bei der Verteidigung der eingeschlossenen ausländischen Missionare und chinesischen Christ*innen in Taoyuan auch zu Toten unter den chinesischen Angreifenden kam (Thompson 2007, 73-74). Auch die britische Sinologin Henrietta Harrison (2007, 5) bemerkt, dass es bereits vor der Ankunft von Yuxian in Shanxi zur Ausbreitung der „Boxer“ und Tötungen von Christ*innen kam. Angesichts der Toten sowohl aufseiten der Missionare als auch unter den chinesischen Christ*innen in Shanxi und der zeitgenössischen Aufmerksamkeit für diese Massaker scheint eine Beschäftigung damit wichtig.

Zur Quelle

Der hier vorliegende und übersetzte Ausschnitt stammt aus dem Buch „Two Heroes of Cathay“, herausgegeben von Luella Miner und erstmals veröffentlicht 1903. Darin wird die Geschichte von Fei Qihao (im Buch verwendete Umschrift: Fay Chi Ho 費起鶴, 1879-1953) und Kong Xiangxi (im Buch verwendete Umschrift: Kung Hsiang Hsi 孔祥熙, 1880-1967) mit einem Fokus auf die Zeit des „Boxeraufstands“ 1900 und 1901 erzählt.

Die Herausgeberin Luella Miner (chinesischer Name: Mai Meide 麦美德, 1854-1935), war eine US-amerikanische Missionarin, Pädagogin und Schriftstellerin. Nach ihrem Studium am Oberlin College in den USA gelangte sie 1887 nach China, wo sie am North China Union College in Tongzhou 通州, in der Nähe der Hauptstadt Beijing, unterrichtete (Wong 2016, 5). Dort traf sie auf Fei Qihao und Kong Xiangxi, die dort studierten.

Fei Qihao (费起鹤, 1879–1941) wurde 1879 eben dort, in einem Dorf in der Umgebung von Tongzhou, in eine ehemals wohlhabende, nun verarmte Familie geboren (Miner 1903, 11). Im ersten Kapitel von Miner (1903, 11-28) beschreibt er seine Kindheit und insbesondere, wie seinem Vater von protestantischen Missionaren ein Tumor entfernt wurde und seine Familie daher zum Christentum konvertierte. Sein Studium am North China Union College in Tongzhou beendete er im Mai 1898 (Miner 1903, 43-46; Powell 1925, 255). Daraufhin ging er als Lehrer nach Shanxi (Miner 1903, 48-49), wo er in den Jahren 1899 und 1900 an einer Schule in Fenzhou 汾州 – die Präfektur Fenzhou (Fenzhou fu 汾州府) lag südwestlich der Hauptstadtpräfektur Taiyuan der Provinz Shanxi – arbeitete (Powell 1925, 255; Miner 1903, 60). Dort begann er auch Englisch zu lernen (Miner 1903, 50).

Im vierten Kapitel, aus dem der hier übersetzte Ausschnitt stammt, berichtet Fei Qihao über die Ereignisse in Shanxi in der ersten Hälfte des Jahres 1900 als sich die „Boxer“ in Shanxi auszubreiten begannen (Minder 1903, 63-). In Fenzhou befanden sich neben dort wohnhaften Missionar*innen auch weitere Missionare, die aus Pingyao 平遙, ebenfalls in Shanxi gelegen, zu Besuch gekommen waren, aber aufgrund der „Boxer“ nicht mehr zurückreisen konnten (Miner 1903, 65). In einem Schreiben des britischen Konsuls in Tianjin 天津 an die britische Regierung vom September 1900 findet sich ein Bericht von Fei Qihao (dort erwähnt als „Fei Ch’i Nao, a Christian mission helper“), in dem dieser beschreibt, weshalb die Lage für die ausländischen Missionare und ihre chinesischen Helfer*innen in Fenzhou anfangs weniger gefährlich als andernorts in Shanxi war: „Die Missionare dieser Stadt hatten in am wenigsten unter allen in Shanxi zu leiden, weil der  Zhixian [知縣 Magistrat] sehr freundlich war. Der Gouverneur von Shanxi [Yuxian] befahl, die Ausländer auszuweisen, aber der Zhixian bat darum, sie beschützen zu dürfen, da sie gute Menschen seien. Der Gouverneur antwortete daraufhin mit dem Befehl, sie auszuweisen, und schickte gleichzeitig einen neuen Präfekten [zhifu 知府], der die Ausführung des Befehls überwachen sollte. Der Präfekt rügte den Magistrat des Bezirks und befahl den Ausländern, sofort zu gehen, und sagte, er werde sie unter Bewachung nach Tianjin schicken.“ (Great Britain Foreign Office 1901, 37; vgl. Miner 1903, 103) Nach einem Angriff von „Boxern“ auf das Missionarsgebäude am 28.06.1900 hatte der örtliche Magistrat noch Schutz geboten (Miner 1903, 66-69). Mit dem oben beschriebenen Auftauchen des neuen Präfekten Mitte August 1900 änderte cih die Lage: Dieser befahl den Missionar*innen mit einer Eskorte Soldaten in die zu diesem Zeitpunkt unter ausländischer militärischer Kontrolle stehende Hafenstadt Tianjin aufzubrechen (Minder 1903, 104). Auf dem Weg erfährt Fei Qihao von den Soldaten, dass diese beauftragt worden sind, die Ausländer umzubringen und ihm gelingt die Flucht (Miner 1903, 117-120). Später erfährt er, dass die Missionar*innen und ihre Kinder umgebracht wurden (Miner 1903, 125). Fei Qihao schlägt sich daraufhin in die Hafenstadt Tianjin durch, um dort – unter anderem dem britischen Konsul vor Ort – von der Ermordnung der Missionare zu berichten (Miner 1903, 152; Great Britain Foreign Office 1901, 35-38). Für Fei Qihao persönlich und seine christlichen Familienangehörigen waren die Folgen des „Boxeraufstands“ tragisch: Eine seiner Schwestern und sein Schwager waren in Shanxi getötet worden (Miner 1903, 156-157) und seine Eltern von „Boxern“ zum Selbstmord gezwungen worden (Miner 1903, 161-168).

Mit Unterstützung der Missionare reist er dann gemeinsam mit Kong Xiangxi zum Studium in die USA: Dort dürfen sie jedoch zuerst nicht einreisen – unter anderem wegen eines Gesetzes zur Einschränkung der Einreise chinesischer Arbeiter in die Vereinigten Staaten (Miner 1903, 224). In einer biographischen Notiz zu Fei Qihao aus dem Jahr 1925 heißt es lapidar: „Herr Fei kam im September 1901 in Amerika an und wurde von privater Seite in seinen Studien unterstützt.“ (Powell 1925, 255) Tatsächlich durften Fei und Kong aufgrund des erwähnten Gesetzes zur Einschränkung chinesischer Arbeiter in den USA während ihres Studiums ihren Unterhalt nicht durch körperliche Arbeit verdienen (Miner 1903, 233). In einer Notiz am Anfang des Buches schreibt die Herausgeberin Luella Miner daher, dass ihre Tantiemen aus dem Verkauf des Buches für die Studiengebühren von Fei Qihao und Kong Xiangxi verwendet werden würden (Miner 1903, 3). Auch die rassistische Diskriminierung, die Fei Qihao in den USA erlebte, werden im Buch erwähnt – beispielsweise, wenn Fei über den Anblick eines Hallenbades berichtet: „Ich sagte zu meinen Freunden: ‚Es wird ein großer Spaß sein, in diesem sauberen Wasser zu schwimmen; lasst uns gehen und auch baden.‘ Also gingen wir zu dem zuständigen Mann war und fragten ihn, wie viel er dafür verlangen würde. Der Mann sagte uns: ‚Wir wollen nicht, dass ihr hier badet, selbst wenn ihr mir hundert Dollar zahlt.‘ Ich fragte: ‚Warum?‘ ‚Weil ihr gelbe Haut habt.‘ war die Antwort.“ (Miner 1903, 236) In missionarischen Kreisen scheint Miners Buch positiv aufgenommen worden zu sein: In einer Rezension der Missionarszeitschrift „The Chinese Recorder“ aus dem Jahr 1903 wird Feis Bericht über die in den USA erlebte Diskriminierung als „lang nachhallend im Herzen jedes mitfühlenden Lesers“ und Fei und Kong als „christliche Helden“ bezeichnet (M. M. F. 1903, 410).

In Amerika bereitete Fei Qihao sich von 1902 bis 1903 an der Oberlin Academy für ein Universitätsstudium vor, studierte von 1903-1906 am Oberlin College und ging danach an die Yale Universität, wo er 1907 mit einem MA seinen Abschluss machte (Powell 1925). 1907 kehrte er nach China zurück und war in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten vor allem als Hochschullehrer aktiv (Powell 1925).

In ihrer Einleitung zum Buch schreibt die Herausgeberin Luella Miner: „Herr Feis einfache Erzählung über das tragischste Ereignis des neunzehnten Jahrhunderts wurde mit einigen Auslassungen, frei übersetzt.“ (Miner 1903, 5) Wie sehr Miner als Übersetzerin und Herausgeberin in Feis Darstellung eingriff bleibt allerdings unklar. Vergleicht man die im Buch genannten wesentlichen Daten mit Feis knappem Bericht, den er dem britischen Konsul in Tianjin gab (Great Britain Foreign Office 1901, 37-38), so fallen keine widersprüchlichen Angaben auf. In der Forschung wurde darauf hingewiesen, dass nach dem „Boxeraufstand“ eine Vielzahl von Missionar*innen geschriebener Bücher mit dem Martyrium christlicher Missionar*innen beschäftigten und dabei Erzählmustern früherer Martyriumserzählungen folgten (Thompson 2007, 67). Gemeinsamkeiten seien dabei beispielsweise, dass erwähnt werde, dass Kinder und Frauen unter den Opfern gewesen waren; dass der genaue Ort, die Todesart sowie das spezifische Leiden der einzelnen Personen genannt werden und dass – wenn möglich – Verantwortliche auf chinesischer Seite benannt werden (Hevia 1992, 117). Ähnliche Aspekte lassen sich teils auch in Feis Bericht identifizieren, und es bleibt unklar, ob diese Erzählmuster von ihm oder der Herausgeberin stammen. Trotz dieser Unklarheiten wurde die vorliegende Quelle ausgewählt, da sie im Vergleich zur Mehrzahl der Werke aus Hand der ausländischen Missionar*innen zumindest in großen Teilen die Perspektive eines zeitgenössischen chinesischen Christen widerspiegelt.

Anmerkungen zur Übersetzung

Die Transkription der Orts- und Personennamen wurde in der deutschen Übersetzung an die gegenwärtig verwendete Pinyin-Umschrift angepasst, im englischen Original wurde die zeitgnössische Umschrift beibehalten. Für eine chinesische Übersetzung siehe Mai 2013.

Der von Fei Qihao erwähnte Freund, Kong Xiangxi (damalige Umschrift: K'ung Hsang hsi 孔祥熙, 1881-1967) wurde als Nachkomme von Konfuzius (daher der Nachname Kong) in eine wohlhabende Familie in Shanxi geboren (Powell 1925, 430). Genau wie Fei Qihao schloss er seine Studien in den USA mit einem BA vom Oberlin College im Jahr 1906 und einem MA der Yale Universität 1907 ab (Powell 1925, 430). 1907 kehrte er nach China, in seine Heimatprovinz Shanxi zurück, wo er als Politiker und Geschäftsmann im Finanzwesen tätig war (Powell 1925, 430). Über die Familie seiner Frau war Kong mit dem Politiker und Revolutionäre Sun Yatsen sowie dem Politiker Chiang Kai-shek verwandt. Später wurde er auch Finanzminister in der Regierung unter Chiang.

Der chinesische Originaltext der von Fei Qihao erwähnten Proklamation von Yuxian konnte – Stand Janur 2025 – nicht ausfindig gemacht werden.

Die von Fei Qihao im vorliegenden Quellenausschnitt erwähnten Gerüchte über die Vergiftung von Brunnenwasser waren damals in Shanxi weit verbreitet. Die Sinologin Henrietta Harrison (2007, 4) schreibt in ihrem Aufsatz zu den „Boxern“ in Shanxi: „Es gab Gerüchte, dass die Christen auf die wachsende Bedrohung reagierten, indem sie versuchten, Brunnen zu vergiften. Manchmal hieß es, das Gift sei aus einem Ärmel geschüttelt worden, manchmal sei eine große grüne Flasche in das Brunnenloch geleert worden. Die Boxergruppen begannen, Vorkehrungen gegen diese Bedrohung zu treffen: Jeder, der an einem Brunnen anhielt, um zu trinken, wurde auf Gift untersucht; viele Brunnen wurden Tag und Nacht bewacht, und es wurden Gegenmittel gegen die christlichen Gifte eingesetzt.“

Rezeption der Quelle

Dier hier übersetzte Quelle wurde im Internet East Asian History Sourcebook der Fordham University veröffentlicht (Halsall 1996). Diese digitale Quellensammlung ist Teil einer großen Sammlung von historischen Quellen zu verschiedenen Zeitabschnitten wie Alter Geschichte, Mittelalter und Neuzeit oder Themen wie Ostasien, Globalgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, die von Paul Halsall, einem Historiker an der Universität Fordham in den USA, herausgegeben wird. Von dort fanden sie auch den Weg in US-amerikanische Unterrichtsmaterialien zur Frage, ob die „Boxer“ einen schlechten Ruf verdient haben oder nicht („Do the Boxers Deserve a Bad Rap? 10th Grade Imperialism Inquiry“ 2016, 10). Über die in diesen beiden Fällen ausgewählten Stellen aus dem Bericht von Fei Qihao hinaus, wurden für die Plattform der China-Schul-Akademie noch zwei weitere Ausschnitte ausgewählt, die zeigen, dass die chinesische Bevölkerung während des „Boxeraufstands“ auch unter chinesischen und ausländischen Soldaten zu leiden hatte.

(Jonas Schmid, 20.01.2025.)

Weiterführende Literatur

Amelung, Iwo. 1998. Die „Boxer“ und ihr Mythos. Tsingtau. Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/tsingtau/katalog/auf1_15.htm (zugegriffen: 3. Januar 2023). Zitieren
Clark, Anthony E. 2013. Mandarins and Martyrs of Taiyuan, Shanxi, in Late-Imperial China. In: A Voluntary Exile: Chinese Christianity and Cultural Confluence since 1552, hg. von Anthony E. Clark, 93–115. Bethlehem: Lehigh University Press. Zitieren
Cohen, Paul A. 1997. History in Three Keys: The Boxers as Event, Experience, and Myth. Columbia University Press. Zitieren
Dabringhaus, Sabine. 1995. Kurseinheit 7: Der Boxer-Aufstand in China (1898-1900). Fernuniversität Hagen. Zitieren
Esherick, Joseph W. 1988. The Origins of the Boxer Uprising. University of California Press. Zitieren
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O A. 1996. Internet Modern History Sourcebook. Fei Ch’i-hao: The Boxer Rebellion, 1900. 26. Januar. https://sourcebooks.fordham.edu/mod/1900fei-boxers.asp (zugegriffen: 20. Januar 2025). Zitieren
Harrison, Henrietta. 2007. Village Politics and National Politics. The Boxer Movement in Central Shanxi. In: The Boxers, China, and the World, hg. von Robert A. Bickers und R. G. Tiedemann, 1–15. Lanham: Rowman & Littlefield. Zitieren
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Klein, Thoralf. 2007. Aktion und Reaktion? Mission und chinesische Gesellschaft. In: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, hg. von Mechthild Leutner und Klaus Mühlhahn, 32–42. Berlin: Ch. Links Verlag. Zitieren
Leutner, Mechthild und Klaus Mühlhahn. 2007. Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900 - 1901. Berlin: Ch. Links. Zitieren
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