M1.1: Blickwinkel auf Zheng He

Diese beiden Sichtweisen sind – wie in der thematischen Einführung zu diesem Modul erläutert – problematisch. Zheng He beispielsweise reiste entlang von Routen, die in China bereits Jahrhunderte zuvor bekannt gewesen waren, weshalb er wohl kaum als Entdecker gelten kann. Anders als das offizielle Narrativ der Volksrepublik China es darstellt, waren Zheng Hes Fahrten mit über 200 Schiffen und zehntausend Menschen Besatzung auch eine (militärische) Machtdemonstration. In mehreren Fällen schreckte Zheng He dabei auch nicht vor Gewaltanwendung zurück. Im Folgenden werden diese Narrative nicht detailliert dekonstruiert (siehe dafür die thematische Einführung und die Materialien in Lerneinheit 2), vielmehr soll durch den Verweis auf weitere Literatur gezeigt werden, wie weit verbreitet und wirkmächtig beide Sichtweisen sind.

Zheng He als Entdecker

Der Artikel „Chinas Weltentdecker“ über Zheng He auf der Webseite der Süddeutschen Zeitung ist kein journalistischer Einzelfall: Im Spiegel Geschichte Heft zum Thema „Entdecker und Abenteurerinnen“ von 2021 findet sich ein Artikel zu Zheng He. Und am 6.04.2022 erschien in der gedruckten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung auf Seite 26 in der Artikelserie „Reisepioniere“ ein ganzseitiger Artikel zu Zheng He mit der Überschrift „Chinas großer Entdecker“. Im Artikel widerlegt die Autorin dann die Überschrift selbst: „Was sie [die Fahrten Zheng Hes] nicht sind: eine „Entdeckerflotte“, denn dem Kaiser geht es nicht darum, neue Seewege zu entdecken und Kolonien zu errichten." (Polistina 2022)

Auch Vergleiche zwischen Zheng He und Kolumbus bedienen das Narrativ von Zheng He als einem Entdecker. So erschien in der Wiener Zeitung beispielsweise ein Artikel mit der Überschrift „Zheng He, der Kolumbus der Chinesen“ (Baumgartner 2021). Und auch in deutschen Schulgeschichtsbüchern wird Zheng He teils explizit, teils implizit mit Kolumbus verglichen oder eben auch – wie in den journalistischen Texten – als Entdecker bezeichnet (Schmid 2021). Weitere Beispiele, die zeigen, wie weit die Idee von Zheng He als einem Entdecker im deutschsprachigen Raum verbreitet ist, sind Internetseiten wie die Kinderzeitmaschine („Zheng He – ein Entdecker aus China“) oder der Webauftritt des Internationalen Maritimen Museums Hamburg („Zheng He, der Entdecker“). Auch im Jugendsachbuch „Der Admiral des Kaisers. Die Abenteuer des Eunuchen Zheng He“ wird Zheng He als „vergessener Entdecker“ (Qi/Frisch 2021, 7) bezeichnet. Gleichzeitig betont die Einleitung auch, dass Ziel der Fahrten nicht die Besetzung von fremden Ländern oder die Ausrottung der Bevölkerung dort gewesen sei. Dies zeigt, dass sich die beiden Narrative – Zheng He als Entdecker und Zheng He als friedlicher Botschafter – auch teilweise vermischen.

Zheng He als friedlicher Botschafter

Die Darstellung von Zheng He als friedlicher Botschafter oder Händler wird vor allem von Politikern aus der Volksrepublik China propagiert, da Zheng He so als positives historisches Vorbild für die aktuelle Außenpolitik der Volksrepublik China dargestellt werden kann. Es überrascht daher nicht, dass das Urteil von Xi Jinping über Zheng He als Pionier des friedlichen Handels auf der Seidenstraße aus der Eröffnungsrede des Belt and Road Forum for International Cooperation im Mai 2017 stammt. Belt and Road ist die aktuelle von der Volksrepublik China benutzte englische Übersetzung der außenpolitischen „Neue Seidenstraßen-Initiative“ wurde im Jahr 2013 von dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping ins Leben gerufen. Der chinesische Originalbegriff der Initiative lautet „Ein Gürtel, eine Straße“ (Yidai yilu 一带一路) und steht für die sechs Landkorridore des „Seidenstraßen Wirtschaftsgürtels“ (Sichou zhi lu jingji dai 丝绸之路经济带) und den Gürtel, die „Maritime Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“ (Haishang sichou zhi lu 海上丝绸之路), die China mit Südost- und Zentralasien, Afrika und Europa verbinden sollen. (Weitere Informationen zur Neuen Seidenstraßen-Initiative finden Sie in unserem Lernmodul.) Das Belt and Road Forum fand 2017 und 2019 in der Hauptstadt Beijing statt und versammelte viele Staats- und Regierungschefs aus Asien, Afrika und Europa. Dass Xi Jinping auf so einem – aus Sicht der VR China – hochkarätig besetztem Forum Zheng He als Vorbild erwähnt, zeigt, wie wichtig diese Darstellung Zheng Hes für die gegenwärtige Außenpolitik der VR China ist.

Bereits 2014 hatte Xi Jinping in einer Rede bei der Chinesischen Volksvereinigung für Freundschaft mit dem Ausland (Zhongguo renmin duiwai youhao xiehui 中国人民对外友好协会), einem dem Außenministerium der Volksrepublik China unterstellten und eng mit der Kommunistischen Partei Chinas verbundenen Organs, Zheng He als jemanden bezeichnet, der in mehr als 30 Ländern die „Saat der friedlichen Freundschaft“ gesät habe (Federl 2018, 70). Auch Premierminister Li Keqiang 李克强 (geb. 1955) sprach in einer Rede anlässlich eines Auslandsbesuchs in Malaysia 2015 von Zheng He als einem Vorbild (Li 2015). Diese Darstellung Zheng Hes als friedlicher Diplomat oder Händler durch chinesische Politiker geht jedoch in die Zeit vor Xi Jinping zurück: Bereits 2007 bei einem Besuch in Südafrika beispielsweise sprach der damalige Staatspräsident Hu Jintao 胡锦涛 (geb. 1942) davon, dass Zheng He den „Wunsch nach Frieden und echter Freundschaft“ nach Afrika gebracht habe (Federl 2018, 69). Auch Botschafter und Diplomat*innen der Volksrepublik China verbreiten dieses Bild von Zheng He (Federl 2018, 70-71). Auch in Wissenschaft und Gesellschaft der Volksrepublik China ist diese Darstellung Zheng Hes weitverbreitet (siehe dazu das Material 4.1 und insbesondere auch die weiterführenden Informationen dort).

Dabei waren nicht chinesische Politiker die ersten, die dieses Narrativ über Zheng He verbreitet haben. Bereits in den 1970er-Jahren schrieb der britische Sinologe Joseph Needham, dass Zheng Hes Vorgehen im Vergleich zu den Jahrzehnte später nach Ostasien vordringenden Portugiesen pazifistisch und tolerant gegenüber anderen Kulturen und Religionen gewesen seien. Eine Sichtweise, die andere Sinologen wie beispielsweiße Geoffrey Wade in Frage stellten: Allein durch die große Anzahl der Zheng He begleiteten Soldaten und der militärischen Übermacht, die diese darstellten, kann von einer rein pazifistischen Mission laut ihm kaum die Rede sein (Federl 2018, 62–64; Wade 2005, 47–51).

(Jonas Schmid, 7.04.2022)

Verwendete Literatur