Aufgabe 3: Loyalität oder Können?

Seit Xis Amtsantritt als Generalsekretär 2012 nimmt die Besetzung von obersten Positionen mit Kadern, die persönliche Beziehungen zu Xi Jinping haben, merklich zu. Diese Tendenz, Vertraute von Xi Jinping zu befördern zeigt auch auf niedrigeren Ebenen Wirkung (Lam 2018; Thomas 2020a; 2021). Das Einsetzen von Vertrauten in politischen Führungspositionen ist dabei nicht ungewöhnlich oder erst unter Xi Jinping zu beobachten. Auch Jiang Zemin hatte vermehrt Mitglieder der sogenannten „Shanghai- Gruppe“ und Hu Jintao eine Gruppe aus der Kommunistischen Jugendliga stammender Vertrauter ins Politbüro befördert (Miller 2018, 11). Die Besetzung dieser Posten kann so Aufschluss über die Stärke verschiedener innerparteilicher Gruppen (politikwissenschaftlich: innerparteiliche Faktionen, chinesisch: pai 党派) geben und macht die Einbeziehung verschiedener politischer Ausrichtungen deutlich.

Voraussagen zu möglichen Beförderungen auf Basis der bisherigen Karriere und persönlicher Beziehungen sind zwar möglich, aber innerparteilichen Aushandlungen unterworfen. Die auf Xi Jinping ausgerichtete und zunehmend ideologisierte Politik macht den Blick hinter die Kulissen komplizierter und lässt es kaum noch zu, parteiinterne Aushandlungsprozesse zu beobachten. Zwar kommen für den Aufstieg in den Ständigen Ausschuss des Politbüros nur Kader in Frage, die zuvor bereits eines der 25 Mitglieder des Politbüros waren, dennoch ist oft schwer abzuschätzen wie die Zusammensetzung des Ständigen Ausschusses entschieden wird. Dabei scheint unter Xi Jinping jedoch Loyalität eine zunehmend wichtige Rolle zu spielen. Schon 2017 sind einige Personen ins Politbüro aufgenommen worden, die als loyal gegenüber Xi Jinping galten und nun tatsächlich in den Ständigen Ausschuss aufsteigen konnten. Politische Rivalen bzw. Politiker, die andere politische Ausrichtungen befürworten oder schlicht im Verlauf ihrer Karriere weniger eng mit Xi zusammengearbeitet haben, haben geringere Aufstiegschancen bzw. wurden über die vergangenen Jahre z.B. im Zuge der Antikorruptionskampagne aus Führungsämtern verdrängt. Als weiterer Anhaltspunkt für die potentielle Zusammensetzung der obersten Parteigremien galt bisher zudem das informell geltende Rentenalter von 68 Jahren für führende Politiker. So wurde Wang Qishan 王岐山 (1948- ) trotz seiner engen Verbindung zu Xi im Alter von 69 Jahren 2017 von seiner Position im Ständigen Ausschuss des Politbüros der KPCh abgelöst. Auch 2022 scheint das Rentenalter eine Rolle gespielt zu haben, mit Ausnahme Xis sind alle Mitglieder des Ständigen Ausschusses nach 1954 geboren. 2022 wurde jedoch in der Zusammensetzung des Politbüros mit der inoffiziellen Altersregel gebrochen. Gleichzeitig wurden erstmals ausschließlich Vertraute Xis in das Politbüro berufen.

Schon 2017 konnte Xi seine Vertrauten Zhao Leji 赵乐际 (1957- ) und Wang Huning 王沪宁 (1955- ) platzieren, die beide für weitere fünf Jahre im Ständigen Ausschuss dienen werden. Wang Huning gilt als wichtiger Vordenker und Ideologe, der die Leitideen der letzten drei Führungsgenerationen mitentwickelt und geprägt hat. Neu vertreten sind seit Oktober 2022:

• Li Qiang 李强 (1959- ), neu designierter Ministerpräsident, der bereits eng mit Xi zusammengearbeitet hat, aber als eher marktorientiert gilt und als Parteisekretär von Shanghai wegen seines Missmanagements des Shanghaier Corona-Lockdowns stark in die Kritik geraten ist;
• Cai Qi 蔡奇 (1955- ), der sich in der Provinz Zhejiang unter Xis Führung profilierte, seit 2017 Bürgermeister von Beijing war und die Stadt von tausenden Wanderarbeiter*innen und Menschen mit niedrigem Einkommen „säuberte“;
• Ding Xuexiang 丁薛祥 (1962- ), der sich innerhalb der Partei-Verwaltungsebenen bis zum Direktor des Büros des Generalsekretärs hochgearbeitet hat und Xi seit 2007 in Shanghai an Xis Seite arbeitete; und
• Li Xi 李希 (1956- ), zuletzt Parteisekretär der wirtschaftsstarken Provinz Guangdong, der schon seit den 1980er Jahren Kontakt zu Xis Familie hat und als enger Vertrauter Xis gilt.

Vor dem Parteitag werden unter Sinolog*innen, in Think Tanks und von sogenannten „China Watchers“ mögliche Szenarien für die Zusammensetzung der obersten Gremien entwickelt. Die tatsächliche Zusammensetzung gibt Aufschluss über die Mächteverhältnisse zwischen innerparteilichen Gruppen und die politische Ausrichtung der Volksrepublik. Als richtungsweisend wurde z.B. das Verbleiben bzw. Ausscheiden des wirtschaftlich liberaler eingestellten Hu Chunhua 胡春华 (1963- ) bewertet. Die auf Twitter veröffentlichte Reaktion des Soziologen und Experten für chinesische Elitennetzwerke Zhang Yang ist repräsentativ für die Einschätzung von Experten – Xi habe ein Gremium aus Getreuen zusammengestellt und sich seiner innerparteilichen Rivalen erfolgreich entledigt. Nicht Können und Talent waren für die Beförderung entscheidend, sondern Loyalität und Verbindungen zum Generalsekretär Xi Jinping.

Der Tweet ist begleitet von einem Foto des Vorgängers von Xi Jinping, Hu Jintao 胡锦涛 (1942- ). Hu wurde im Verlauf des Parteitages von der Bühne eskortiert. Die Gründe für seine “Entfernung” sind ungeklärt. Mitschnitte der Szene zeigen, dass Hu kurz zuvor im Begriff war Unterlagen einzusehen, die ggf. erst später geöffnet werden sollten. Während chinesische Staatsmedien auf den Gesundheitszustand des alternden Politikers verweisen, wird der Vorfall von Analyst*innen als emblematisch für den Machtverlust der innerparteilichen Gruppe der kommunistischen Jugendliga (Tuanpai 团派) und als politisches Symbol und öffentliche Erniedrigung Hus gedeutet. Die dem Vorfall folgende Berichterstattung der staatlichen Medien sowie die ungewöhnliche Unterbrechung des sonst vollkommen durchchoreographierten Parteitages werden von China-Beobachtern unterschiedlich bewertet .

(Odila Schröder, 17.11.2022)

Verwendete Literatur