Taiwan – „Schöne Insel“, fragiler Status
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Lerneinheit 1: Annäherung an Taiwan1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 2: Die Geschichte Taiwans1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 3: Das politische System der Republik China (Taiwan)3 Materialien|3 Aufgaben
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Lerneinheit 4: Der aktuelle Konflikt - Einzelarbeit2 Materialien|2 Aufgaben
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Lerneinheit 5: Der aktuelle Konflikt - Gruppenarbeit1 Material|2 Aufgaben
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Lerneinheit 6: Interview: Eine taiwanesische Perspektive auf den Taiwan-Konflikt1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 7: Taiwan auf internationaler Ebene3 Materialien|4 Aufgaben
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Lerneinheit 8: Die wirtschaftliche Bedeutung Taiwans
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Lerneinheit 9: Facetten taiwanesischer Identität2 Materialien|3 Aufgaben
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Lehreinheit 10: Taiwans digitale Demokratie – Ein Vorbild für Deutschland?5 Materialien|6 Aufgaben
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Ergänzende Materialien: Taiwanesische Jugendkultur im Buch3 Materialien|3 Aufgaben
M6.1: Interview mit Dr. Ian-tsing Joseph Dieu, Generaldirektor der Taipei-Vertretung in München
Stefanie Elbern 11.09.2023
M6.1: Interview mit Dr. Ian-tsing Dieu, Generaldirektor der Taipei-Vertretung in München
Herr Dr. Ian-tsing Joseph Dieu 趙彥清 hat in Taiwan, Deutschland und den USA Jura studiert und nach dem Studium für die taiwanesische Regierung in verschiedenen nationalen Regierungsbehörden gearbeitet. Seit März 2022 ist er Generaldirektor der Taipei-Vertretung in München. Neben dieser Vertretung unterhält Taiwan zwei weitere in Frankfurt und Hamburg sowie eine zentrale Vertretung in Berlin. Da es aufgrund der Ein-China-Politik keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Taiwan gibt, dürfen die Vertretungen nicht als "Botschaft" bzw. "Konsulate" bezeichnet werden.
Wie nehmen die Taiwanes*innen die Situation aktuell war, merkt man im Alltag etwas von der militärischen Eskalation seit Somer 2022? Herr Dr. Dieu berichtet, dass besonders die jüngeren Leute die Gefahr ernsthafter nehmen als früher. Deswegen gibt es momentan viele Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die sich zum Beispiel der Frage widmen, wie man sich bei einem etwaigen Angriffskrieg richtig verhält, wie man erste Hilfe leisten könnte oder wie man Selbstverteidigungsgruppen ausbildet. Die Erfahrungen des Ukraine-Krieges machen deutlich, dass man Selbstverteidigungswillen zeigen muss, um einen solchen Angriffskrieg zu vermeiden.
Innenpolitisch hat die nach dem Taiwan-Besuch von US-Politikerin Nancy Pelosi angespannte Situation seit Sommer 2022 Folgen. Herr Dr. Dieu berichtet, dass die Wehrdienstpflicht von früher vier Monaten auf jetzt ein Jahr verlängert wurde und dass diskutiert wird, ob auch Frauen Wehrdienst leisten sollten. Darüber hinaus gab es politische Unterstützung für höhere Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit des Landes.
Die Frage des richtigen Umgangs mit der aktuellen Situation bestimmt auch den Präsidentschaftswahlkampf im Vorlauf zu den Wahlen in Taiwan in 2024. Herr Dr. Dieu sieht die politischen Auseinandersetzungen, die sowohl innerhalb der beiden großen Parteien DPP (Demokratische Fortschrittspartei) und GMD (Nationale Volkspartei) wie auch im Parlament ausgetragen werden, als Zeichen einer gesunden Demokratie. Diese lebe auch von den Meinungsverschiedenheiten der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in Taiwan:
Wenn man den aktuellen Konflikt verstehen möchte, ist ein Blick in die Geschichte notwendig. Herr Dr. Dieu berichtet in einem Schnelldurchgang durch die Geschichte von wichtigen Eckdaten: Während die japanische Kolonialzeit Taiwan zwischen 1895 und 1945 ein modernes Rechtssystem und erste industrielle Entwicklung beschert hat, bezeichnet er das Regime unter Chiang Kai-shek als diktatorisch. Über diese Zeit von 1949 bis in die 1970er Jahre sagt er:
Erst die Aufhebung von Kriegsrecht und Notstandsgesetzgebung im Jahr 1987 brachten den notwendigen Freiraum für einen Demokratisierungsprozess, allerdings keine wesentlichen Veränderungen, was die Frage der Ein-China-Politik angeht. Herr Dr. Dieu erzählt, dass 1992 erste direkte Kontakte zwischen Taiwan und der VR China stattfanden: Man verständigte sich darauf, dass die Beibehaltung von zwei verschiedenen Interpretationen der Ein-China-Politik ein guter Kompromiss sei. Dass dies aus seiner Sicht keine dauerhafte Lösung sein konnte, formuliert er wie folgt:
Die Vorgehensweise der USA sieht er als Beleg dafür, dass auch die USA die Ein-China-Politik nur mittelbar angenommen haben. Dafür spreche auch die Lieferung von Waffen zur Selbstverteidigung von den USA an Taiwan:
Aktuelle Umfragen in Taiwan beleuchten die Frage nach der Selbstwahrnehmung der Bewohner*innen der Republik China auf Taiwan – sehen sie sich selbst als Chines*innen, Taiwanes*innen oder eine Mischung aus beidem? Den Umfragen zufolge sehen sich nur noch etwa 2% der Befragten ausschließlich als „Chinesisch“. Herr Dr. Dieu verweist darauf, dass der Begriff „chinesisch sein“ zunächst mal die Staatsangehörigkeit der VR China meint, darüber hinaus aber auch eine kulturelle Dimension hat. Als Beispiel verweist er auf die Nachkommen von chinesischen Auswandernden früherer Zeiten, deren Nachkommen heute beispielsweise in Südasien, in Malaysia und Singapur leben und die sich selbst immer noch als „chinesisch“ bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen dem staatlichen und dem kulturellen Aspekt des Wortes ist also sehr wichtig:
Historisch betrachtet hat Taiwan enge Beziehungen zu Deutschland, die sich aus der Übernahme zentraler Elemente aus der Weimarer Verfassung (darunter Konzepte wie das Verhältnis von Staat zu Bürger) ergeben – diese wurden 1946 mit der Verfassung der Republik China nach Taiwan importiert. Im Zuge des Demokratisierungsprozesses ab den 1980er Jahren war dies, zusammen mit ebenfalls übernommenen Elementen aus deutschem Straf- und Verwaltungsrecht, eine sehr hilfreiche Grundlage. Und auch im Bereich der sozialen Sicherung erfolgte und erfolgt eine Orientierung am deutschen Sozialstaatssystem:
Gefragt nach seiner Einschätzung zum Stand der deutsch-taiwanesischen Beziehungen Anfang 2023 wünscht sich Herr Dr. Dieu eine stärkere deutsche Unterstützung der werteorientierten internationalen Ordnung – was gleichbedeutend damit ist, sich gegen den Autoritarismus zu stellen und auch die wirtschaftlichen Beziehungen mit Taiwan zu pflegen. Dies entspreche nicht zuletzt auch den Interessen der deutschen Industrie.
Taiwans Teilhaberecht an der (Mit)-Gestaltung der internationalen Ordnung ergibt sich für Herrn Dr. Dieu nicht zuletzt aus den Erfahrungen der dreijährigen Hochphase der Corona-Pandemie: Taiwan hat vorbildlich die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bereits 2005 nach der SARS-Epidemie für globale Pandemien entworfen worden waren, nach entsprechender Verankerung in der eigenen nationalen Gesetzgebung befolgt. Nicht nur im Fall der WHO, sondern auch bei anderen wichtigen internationalen Organisationen und Zusammenkünften wie etwa Interpol (Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität), der Internationalen Luftfahrtbehörde (IAO) oder der Klimarahmenkonferenz (UNFCCC) nutzt die VR China ihren Einfluss und ihr politisches Gewicht, um Taiwan auszuschließen:
In der Praxis, berichtet Herr Dr. Dieu, scheiterte aber bisher die Aufnahme Taiwans stets am Veto der VR China, obwohl in vielen der genannten Institutionen neben völkerrechtlich anerkannten Staaten auch anderen Entitäten Mitwirkung zugestanden wird, z.B. über einen Beobachterstatus.
Aktuell berichten auch deutsche Medien immer wieder über die Situation in Taiwan. Herr Dr. Dieu beschreibt, dass die zunehmende Einflussnahme durch propagandistische Quellen aus der VR China aber weltweit auch zu Desinformation führen kann. Deswegen sei ein genauer Blick auf die jeweils verwendeten Quellen der Texte, die man liest, wichtig:
Innerhalb Taiwans hat sich eine breite Bewegung etabliert, die für Bürger*innen Plattformen anbieten, auf denen Informationen einem Faktencheck unterzogen werden können. Denn angesichts der Weiterentwicklung von KI sei es schwierig geworden, so Herr Dr. Dieu, als Medienkonsument*in diesen Fakten-Check alleine zuverlässig durchzuführen.
Neben den aktuell politisch brennenden Themen interessieren sich junge Deutsche vor allem für den taiwanesischen Bubble Tea, an dem Herr Dr. Dieu vor allem die große Vielfalt der Rezepturen schätzt. Längst hat sich für taiwanesische Jugendliche dieses Getränk, das mittlerweile auch in Deutschland sehr bekannt ist, zu einem Symbol entwickelt: Wer noch nicht genau weiß, was er in der Zukunft machen möchte, sagt von sich selbst: „Ich eröffne eine Bubble Tea – Theke“ – und meint damit: Ich werde mit innovativen Ideen und nicht allzu anspruchsvoller Technik ein eigenes Geschäft starten. Die taiwanesische Küche, aber auch Tanzgruppen wie das immer wieder auch mal in Deutschland auftretende Cloud Gate Dance Theatre sind weitere Anknüpfungspunkte in Gesprächen mit Deutschen. Aber Herr Dr. Dieu stellt fest, dass die tagesaktuellen Ereignisse momentan das Interesse an Themen wie diesen in den Hintergrund drängen:
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-taiwan-m6-1]
Weiterführende Informationen
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