Taiwan – „Schöne Insel“, fragiler Status
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Lerneinheit 1: Annäherung an Taiwan1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 2: Die Geschichte Taiwans1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 3: Das politische System der Republik China (Taiwan)3 Materialien|3 Aufgaben
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Lerneinheit 4: Der aktuelle Konflikt - Einzelarbeit2 Materialien|2 Aufgaben
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Lerneinheit 5: Der aktuelle Konflikt - Gruppenarbeit1 Material|2 Aufgaben
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Lerneinheit 6: Interview: Eine taiwanesische Perspektive auf den Taiwan-Konflikt1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 7: Taiwan auf internationaler Ebene3 Materialien|4 Aufgaben
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Lerneinheit 8: Die wirtschaftliche Bedeutung Taiwans
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Lerneinheit 9: Facetten taiwanesischer Identität2 Materialien|3 Aufgaben
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Lehreinheit 10: Taiwans digitale Demokratie – Ein Vorbild für Deutschland?5 Materialien|6 Aufgaben
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Ergänzende Materialien: Taiwanesische Jugendkultur im Buch3 Materialien|3 Aufgaben
EM 11.1: „Nur Wichser mögen Grüntee-Bitches“
Der Wichser
Am Tag nachdem ich mir bei Alan die Haare hatte schneiden lassen, fand der Schreibkurs statt. Ich hatte zugesagt, an der Dorfschule eine Stunde zu halten. Der Chinesischlehrer kam mit neun Vierzehnjährigen in das Café der Einsamkeit. Der Gutsherr überließ uns den hellen, geräumigen Gastraum und sagte lässig: „Nichts zu danken, es kommt ohnehin niemand ins Café.“
Vierzehnjährige sind Zwischenwesen: Weder Kind noch erwachsen, Mädchen sehen aus wie Jungen, Jungen wie Mädchen. Im einen Moment sitzen sie wie depressiv da und geben derartig erschreckende Sprüche von sich, dass sie ihre Eltern damit um den Schlaf bringen. Wie zum Beispiel: „Weißt du, ich finde das Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“ Die entsetzten Eltern diskutieren bis tief in die Nacht hinein, ob man nicht schleunigst einen Kinderpsychologen aufsuchen sollte. Doch schon im nächsten Augenblick toben die kleinen Monster ausgelassen über den Spielplatz, voller Energie, unkontrollierbar. Und sie sind nie zufriedenzustellen: Sitzen sie im Zimmer, wollen sie hinaus, sind sie draußen, wollen sie rein.
Gegenüber dem anderen Geschlecht verspüren sie bereits ein vages Interesse, da sind versteckte Fantasien, die sie gern aussprechen würden, es aber nicht wagen. Nachts, unter der Bettdecke, empfinden sie rätselhafte Impulse, doch sobald sie auf das Gegenüber treffen, fühlt es sich an, als hätten sie zwei linke Füße und sie stolpern förmlich über die eigene Verlegenheit. Heimlich betrachten sie sich im Spiegel. Steht vor dem Spiegel eine Katze, erscheint im Spiegel ein Tiger. Ich sah in den Augen dieser Zwischenwesen vermutlich so aus: Grauhaarig - aber nicht dieses gut aussehende, elegante Silbergrau, dem ein Glas Rotwein gut steht - sondern dieses verstaubte Mausgrau, unansehnlich und peinlich. Dazu hatte ich diese Wulst, die alternden Frauen im Nacken wächst, so dass sie von der Seite betrachtet aussehen, als trügen sie ein Fleischpaket um den Hals.
[…]
Ich hatte befürchtet, dass mich die Zwischenwesen, die sich im Café der Einsamkeit versammelt hatten, für eine kinderfressende Hexe halten könnten, deswegen hatte ich Hühnerbeine, Hamburger, Cola und Pizza mitgebracht, um mich einzuschmeicheln. Gierig schmatzend verputzten die Jungen die fettigen Hühnerbeine.
»Lasst uns über Sprache reden, während ihr esst“, schlug ich vor. Sie hatten sich bisher kaum getraut, mich anzuschauen und die Köpfe gesenkt. Doch nun, offenbar durch das Essen ermutigt, blickten sie mich neugierig an. An die Mädchen gewandt fuhr ich fort: „Wie bezeichnet ihr Mädchen des 21. Jahrhunderts denn Jungs, die euch auf die Nerven gehen?“ Sie sahen einander ratlos an. Schließlich erklärte eine von ihnen: „Dafür gibt es keine eigene Bezeichnung. Wir nennen sie meist ‚Wichser‘. „Was macht einen ‚Wichser‘ denn aus?“, fragte ich. Das Interesse der jungen Frauen war geweckt, nun wollten sie alle gleichzeitig ihre Meinung kundtun: „Er ist nicht vertrauenswürdig.“ „Spricht hinter dem Rücken schlecht über andere Menschen.“ „Schleimt sich beim Lehrer ein, ein Mensch mit zwei Gesichtern.“ „Verführt Mädchen und lässt sie dann hängen.“ „Ein Kleingeist, einer, der sich für jede Kleinigkeit rächt!“
„Moment, - ‚einer, der sich für jede Kleinigkeit rächt‘?“ fragte ich. „Fällt euch zu ‚Rache‘ ein Sprichwort ein?“ Wieder sahen die Mädchen einander ratsuchend an.
Der Lehrer, der am Ende des langen Tisches saß, war selbst erst Anfang zwanzig und unterrichtete noch nicht lange. Seine strubbeligen Haare sahen aus, als hätte er sie schnell mit den Fingern durchgekämmt, kurz bevor er das Haus verließ. Nun blickte er nervös zu seinen Schülern hinüber, besorgt, dass sie etwas Falsches sagen könnten. Er schien darauf zu brennen, die Frage selbst zu beantworten, zögerte jedoch. Keiner meldete sich. „Was denkt denn Euer Lehrer?“ warf ich dem jungen Mann den Ball zu. Der erwiderte: „Es gibt ein Zitat, das Konfuzius zugeschrieben wird. Es heißt: ‚Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.‘ Es besagt, dass man sich mit einer Racheaktion auch selbst schadet.“ Gemeinsam applaudierten wir und der Lehrer errötete.
Ich wandte mich fünf Mädchen zu, die an einer Seite des Tisches saßen. „Welche Arten von Mädchen finden denn alle nervig? Gibt es dafür eine Bezeichnung?“ Die Mädchen warfen einander vielsagende Blicke zu und ein mutiges mit einem hübschen Pferdeschwanz sprach die Bedenken aller aus: „Dürfen wir alle Schimpfwörter benutzen?“ Ich überlegte einen Augenblick, wie schlimm die Schimpfwörter dieser Generation wohl sein könnten. Dann entschied ich: „Mit ästhetischer Distanz ist alles erlaubt." „Was ist ästhetische Distanz?“, fragte das Mädchen mit den großen Augen. „‘Kacke‘“ zum Beispiel ist ziemlich ekelhaft, oder?“, begann ich zu erklären. „Ja…“, stimmten die Kinder mit angewiderten Gesichtern zu. „Wenn man nun aber Kacke -oder zumindest etwas, das so aussieht, zum Beispiel weiche Schokolade – in ein gläsernes Rohr füllt und es mithilfe einer Maschine rotieren lässt, und -ganz wichtig- diese Installation dann in einem Museum für Moderne Kunst ausstellt, dann hat Kacke eine ästhetische Distanz, nicht wahr?“ Die Schüler verdrehten amüsiert die Augen. Die Herausforderung gefiel ihnen, sie waren ganz bei der Sache.
(…)
(Lung 2023, 142–44)
Die Friedenslilie
(…) „Li Yating!“ Ich wählte den Namen aus der Liste in meiner Hand willkürlich aus. „Kannst du uns ein weiteres Beispiel für ästhetische ‚Distanz‘ nennen?“ Li Yating, den Kopf voller Locken, klein und rundlich, saß ganz hinten an dem langen Tisch. Sie erinnerte mich an einen kleinen, runden Medizinball. Sie zögerte. Diesen Augenblick nutzte das Mädchen mit den großen Augen, um das Wort an sich zu reißen: „Ich weiß eins!“ Alle drehten sich zu ihr um. „Hinter dem Haus, in dem ich wohne, ist eine Kleiderfabrik, dort bei dem Kreisverkehr und der Eisdiele. Vor der Fabrik steht eine Reihe von Mülltonnen. Sie sind sehr groß, größer als ich. Die Stoff- und Lederreste, die in der Fabrik anfallen, werden dort haufenweise hineingeworfen. Meine Oma sammelt diese Stoffreste ein, näht sie zusammen und umrandet die Patchworkdecken, die daraus entstehen, schließlich mit rotem Seidenstoff, so dass ein Bettüberwurf daraus wird. Die Decken sehen wirklich schön aus und niemand bemerkt, dass sie eigentlich aus Abfall bestehen.“
Das Mädchen mit den großen Augen hieß Wang Xiaowei. „Was für ein tolles Beispiel, Wang Xiaowei“, sagte ich, „Kann ich deiner Oma so eine Decke abkaufen?“ Wang Xiaowei lächelte verschämt. „Gut, dann greifen wir doch nochmal die Frage auf, welche Art Mädchen die nervigste ist.“ Keiner der Jungen meldete sich, die fünf Mädchen riefen jedoch fast gleichzeitig: „Grüntee-Bitch!“
Ich schluckte. Hätte ich dieses Wort als Vierzehnjährige verwendet, hätte ich wahrscheinlich eine Tracht Prügel bekommen. „Was ist eine Grüntee-Bitch?“ fragte ich vorsichtig. Wang Xiaowei antwortete altklug: „Eine, die aussieht wie Schneewittchen, ganz rein, unschuldig wie grüner Tee, zart und charmant, dabei aber eigentlich äußerst berechnend ist. Sie tut, als sei sie mit einem befreundet, spielt sich als die beste Freundin auf, begleitet einen täglich auf dem Weg zur und von der Schule, sogar auf die Toilette geht sie händchenhaltend mit. Doch in Wirklichkeit will sie dir nur deinen Freund ausspannen. Sie weiß ganz genau, wie man den männlichen Beschützerinstinkt weckt. Damit kriegt sie alle Jungs herum.“ Ein Mädchen namens Zhang Que’er fügte hinzu: „Grüntee-Bitches sind zwar die falschesten Mädchen, trotzdem mögen die Jungs sie am liebsten.“ Eine namens Yang Xiuying fuhr fort: „Am liebsten sagt so eine Grüntee-Bitch: ,Wow!‘“ Sie wechselte den Tonfall und sprach nun übertrieben lieblich, als würde sie flirten: „,Du bist voll toll, das kann ich alles nicht, ich bin ja so doof...‘“
„Dann“, fragte ich, „seid ihr alle also keine Grüntee-Bitches?“ Einstimmig antworteten sie: „Auf keinen Fall.“ „Aber“, sagte ich langsam, „alles, was so eine Grüntee-Bitch, wie ihr sie beschrieben habt, tut, scheint nur darauf abzuzielen, Jungs zu beeindrucken, stimmt’s? Könnte nicht die Abneigung gegenüber solchen Mädchen auch bedeuten, dass ihr sie als Konkurrenz betrachtet? Denn auch für euch stehen Jungs doch im Mittelpunkt, oder?“ Die Mädchen kicherten albern.
(…)
Als ich meine Sinne wieder unter Kontrolle hatte, wandte ich mich an die fünf Jungen und fragte: „Eure Mitschülerinnen behaupten, dass ihr Grüntee-Bitches mögt?“ Schweigend hielten sie die Köpfe gesenkt, als seien sie bei ihren Gedanken ertappt worden. Nur ein schlaksiger Junge meldete sich. Er hatte einen langen, dünnen Hals und lange Gliedmaßen, was ihm das Aussehen einer Giraffe verlieh, der ein Menschenkopf gewachsen war. Seine nach vorne gegelten Haare verdeckten ein Auge, er sah rebellisch aus. Energisch widersprach er: „Nicht unbedingt.“ Und errötend fügte er hinzu: „Nur Wichser mögen Grüntee-Bitches.“ Sofort rief Wang Xiaowei von der anderen Seite des Raumes: „Ihr erkennt doch gar nicht, wer eine Grüntee-Bitch ist!“ Li Yating hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Ohne den schlaksigen Jungen auch nur anzusehen, beharrte sie: „Ihr steht einfach auf Grüntee-Bitches...“ Es entbrannte ein Streit, bei dem alle wild durcheinander schimpften. Die Jungen hatten in der Debatte eindeutig das Nachsehen.
Ich stand auf, ging um den Tisch herum und teilte die Fragebögen aus, die ich vorbereitet hatte. (…) ,,Ihr habt eine halbe Stunde“, sagte ich und setzte mich wieder. „Seid ehrlich mit euren Anworten!“
(Lung 2023, 145–48)
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