Chinas Sozialkreditsysteme als Bestandteil von datengesteuertem Regieren
M1.3: Hauptakteure und Funktion des chinesischen Kreditbewertungswesens
Frederike Schneider-Vielsäcker 16.03.2025
M1.3: Hauptakteure und Funktion des chinesischen Kreditbewertungswesens
Der eigentliche Schwerpunkt des Systems lag auf der Durchsetzung der Einhaltung von Vorschriften. Behörden in ganz China erstellten schwarze Listen für Einzelpersonen und Unternehmen, die schwere Verstöße gegen Gesetze und Vorschriften in der Marktwirtschaft begangen hatten. Zu diesen Verstößen gehörten Betrug, illegale Einleitung von Schadstoffen in Gewässer, Herstellung minderwertiger Medikamente und vieles mehr. Die Aufsichtsbehörden konnten Zuwiderhandelnde manuell auf schwarze Listen setzen, die sie mit allen Regierungsstellen und online mit der Öffentlichkeit teilen wollten. Mindestens zehn Millionen Bürger*innen stehen derzeit auf einer dieser schwarzen Listen. Die Folgen sind schwerwiegend: Je nach schwarzer Liste können einige nicht mit dem Flugzeug oder der Hochgeschwindigkeitsbahn reisen, und bei anderen können staatliche Subventionen, Berufsqualifikationen oder Darlehen gestrichen werden. Da der Schwerpunkt auf der Bestrafung von Gesetzesbrechern lag, dauerte es zwanzig Jahre (bis 2019), bis die Zentralbehörden tatsächlich eine „Kreditreparatur“ ermöglichten, d. h. einen Prozess, bei dem Personen oder Organisationen die Streichung von einer schwarzen Liste beantragen können sowie einen Prozess, durch den im Rahmen der jährlichen Bewertung von Städten, die Pilotprojekte für Sozialkreditsysteme durchgeführt hatten, ein Vorgang zur Kreditreparatur eingerichtet wurde. Es gab keinen großen Masterplan. Die vage Natur des großen Experiments des Sozialkreditsystems ließ den lokalen Behörden im Wesentlichen freie Hand. Nur wenige von ihnen machten sich Gedanken darüber, ob diese Maßnahmen verhältnismäßig waren, überhaupt etwas mit „Kredit“ zu tun hatten oder mit Xi Jinpings „rechtsstaatlicher Regierungsführung“ vereinbar waren.
Auch Privatunternehmen experimentierten [mit Sozialkrediten]. Die Alibaba-Tochter Ant Financial entwickelte 2015 Sesame Credit 芝麻信用. Ziel war es, alternative Wege zur Vergabe der Finanzkredit-Bewertung zu schaffen, da die meisten Bürger in China noch immer keine Kreditkarten oder umfangreiche Bonitätsnachweise hatten, auf die sie zurückgreifen konnten. Sesame Credit setzte Big Data ein, um die Einkaufsgewohnheiten der Bürger*innen zu monitoren und daraus einen dreistelligen Kreditpunktestand abzuleiten. Eine der Führungskräfte von Ant Financial schlug vor, dass Menschen, die Bier kaufen, als weniger „vertrauenswürdig“ angesehen werden könnten als Menschen, die Windeln kaufen, oder dass das Spielen von Online-Spielen den eigenen Score senken könnte. Die Punktzahl der Nutzer*innen wurde auch von ihrem Freundeskreis beeinflusst: 5 Prozent der Sesame Credit Score-Punktzahl ergaben sich aus der Summe der Punktzahlen im eigenen Netzwerk. Zum Leidwesen von Ant [Financial] genehmigte die chinesische Zentralbank, die People's Bank of China, das Programm, bei dem Alibaba gleichzeitig als Kreditprüfer, Kreditgeber, Zahlungsdienstleister und Marktplatz fungierte, jedoch letztendlich nicht. Sesame Credit belohnte Menschen für Einkäufe bei Alibaba, stellte damit aber kein effektives Kreditbewertungssystem dar. Im Jahr 2017 verweigerte die Bank Sesame Credit eine offizielle Kreditlizenz. Sesame Credit existiert zwar noch heute, erfüllt aber kaum eine sinnvolle Funktion und die Nutzung ist nach wie vor vollkommen freiwillig.
Die Probleme [in den Kreditsystemen] führten zu heftigen Reaktionen von chinesischen Juristen, die eine übermäßige Verallgemeinerung des Konzepts des „Kredits“ kritisierten. Sie argumentierten, dass „Kredit“ ein finanzielles oder mit der Einhaltung von Vorschriften verbundenes Konzept bleiben sollte, das nur sehr wenig mit sozialem Verhalten oder geringfügigen Verstößen wie dem Essen in einer U-Bahn zu tun hat. Sie kritisierten die schwarzen Listen als ungerechtfertigte Einschränkung der Bürgerrechte. Im Jahr 2019 ordnete Chinas oberstes Wirtschaftsplanungsgremium, die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission, an, dass lokale Punktesysteme nur für Anreize, nicht für Strafen verwendet werden dürften. Während der COVID-19-Pandemie wurde das Konzept zunehmend kritisiert, da viele Kommunalverwaltungen es nun auch zur Durchsetzung der Maskenpflicht einsetzten. Ein weiteres Problem bestand darin, dass Unternehmen plötzlich Gefahr liefen, wegen Nichteinhaltung von Verträgen und Kreditrückzahlungen aufgrund von Lockdowns auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden. Ende 2020 ging die Zentralregierung mit einem regulatorischen Durchgreifen gegen die Experimente vor und stellte klar, dass die Aufnahme auf eine schwarze Liste nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen Gesetze und Vorschriften angebracht ist. Lokale Regierungen, die sich nicht daran hielten, mussten dabei zusehen, wie ihre Pilotprojekte abgeschafft wurden. In den folgenden Jahren wurden die meisten der oben genannten Experimente abgebrochen oder stillschweigend eingestellt.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-sozialkredit-m1-3]