Chinas Sozialkreditsysteme als Bestandteil von datengesteuertem Regieren
M1.2: Chinas Sozialkreditsysteme: Ein Gespräch mit der Forscherin Katja Drinhausen (MERICS)
Frederike Schneider-Vielsäcker 16.03.2025
M1.2: Chinas Sozialkreditsysteme: Ein Gespräch mit der Forscherin Katja Drinhausen (MERICS)
In einem Interviewgespräch unterhielt sich Marina Rudyak (China-Schul-Akademie) im August 2023 mit Katja Drinhausen, Programmleiterin für Innenpolitik und Gesellschaft beim Think Tank Merics über das chinesische Sozialkreditwesen. Das Material fasst das Gespräch zusammen.
Man muss zwischen mehreren Sozialkreditsystemen unterscheiden, die derzeit in der Volksrepublik China parallel existieren: Eine Säule des Systems wendet sich an Unternehmen, eine an Bürger*innen. In beiden Bereichen geht es darum, das Verhalten der am Wirtschaftsleben Teilnehmenden gesetzeskonform zu gestalten. Eine weitere, häufig übersehene Säule des Systems ist an staatliche Behörden gerichtet, deren Handeln ebenfalls bewertbar gemacht werden soll.
Die Entwicklung des Sozialkreditwesens resultiert aus den Erfahrungen, die während der Phase der Reform und Öffnung der Wirtschaft gemacht wurden. Da es in den Anfangsjahren bei Wirtschaftsvergehen (wie z.B. Insolvenzverschleppung) keine ausreichende, systematische Datenerfassung über Provinz- und Stadtgrenzen hinweg gab, konnten die gleichen Delikte von Unternehmen und Individuen an verschiedenen Orten wiederholt begangen werden. Dies schwächte das Vertrauen der am Wirtschaftsleben Beteiligten und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung. Während man zu Beginn noch versuchte, mit „roten Listen“ besonderes Wohlverhalten und Regelkonformität (zum Beispiel durch kostenlose Büchereikarten) zu fördern, waren diese Anreize letztlich nicht stark genug, um eine ausreichend große Anzahl an Menschen zu einer freiwilligen Teilnahme zu bewegen. Das Sozialkreditwesen wurde daher als Durchsetzungsinstrument für bestehende chinesische Gesetzesvorschriften konzipiert. Dabei bringt das Wissen um die Existenz der Systeme bereits eine Erziehungsfunktion mit sich.
Im Alltag sind für die allermeisten Bürger*innen Folgen des Sozialkreditwesens nicht unmittelbar spürbar, weil sich die Mehrzahl der eingeführten Mechanismen an Unternehmen richtet. Für Bürger*innen sind vor allem die sogenannten „schwarzen Listen“ von Bedeutung, die Fehlverhalten dokumentieren. Hier werden mit Hilfe einer bei der Geburt (oder bei der Unternehmensgründung) vergebenen Identifikationsnummer z.B. Menschen und Unternehmen erfasst, die trotz entsprechendem Gerichtsurteil Schulden nicht zurückzahlen. Junge Menschen in China betrifft das System erst mit der Erlangung der Strafmündigkeit – ähnlich wie in anderen Rechtsbereichen tragen bis dahin Eltern die Verantwortung für ihre Kinder. Die Aufnahme auf schwarze Listen kann für Individuen z.B. die Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Verkehrsmitteln (Tickets für Flugzeuge und Züge) bedeuten. Insgesamt sind weniger als 1% der chinesischen Bürger*innen auf diesen Listen erfasst, was in absoluten Zahlen natürlich trotzdem viele Menschen betrifft.
Die Sozialkreditsysteme sind am ehesten mit einem digitalen Aktensystem zu vergleichen, in dem Fehlverhalten gegen gesetzlich festgelegte Regeln erfasst wird. Die schwarzen Listen, durch die Vergehen öffentlich gemacht werden, sollen öffentlichen Druck erzeugen, indem sie die mangelnde Vertrauenswürdigkeit transparent machen. Das System ermöglicht dabei für Unternehmen auch Verbundstrafen: Wurde ein Unternehmen, das die Umwelt verschmutzt, früher ausschließlich vom Umweltministerium sanktioniert, können nun z.B. bei großen Umwelt- oder Lebensmittelskandalen auch andere Behörden (u.a. Steuerbehörden) abgestimmt Strafen und Einschränkungen erlassen.
Blickt man auf die Entwicklung des Sozialkreditwesens zurück, dann wird deutlich, dass der chinesische Staat vielleicht zu Beginn noch die Absicht hatte, eine größere Bandbreite von Verhaltensweisen zu erfassen, zu steuern und zu sanktionieren. In zentralstaatlichen Anweisungen wurde aber zunehmend darauf vierwiesen, dass Verwaltungsentscheidungen (z.B. über die Aufnahme auf schwarze Listen) nicht automatisiert getroffen werden dürfen und regelbasiert erfolgen müssen. Für Strafen wurden Vorgaben entwickelt, die die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe gewährleisten sollen.
Zu Beginn der medialen Berichterstattung über das Sozialkreditwesen wurden in Deutschland häufig Fehlinterpretationen veröffentlicht: Beschrieben wurde z.B. ein landesweites Punktesystem, das auf kontinuierlicher, individueller Überwachung basiert und Plus- und Minuspunkte nach Wohl- und Fehlverhalten zuteilt. In der Realität gab es am Anfang Pilotstädte wie die Stadt Rongcheng, wo versucht wurde, mit Hilfe einer 1.000-Punkte-Skala das individuelle Verhalten in Richtung der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zu bewegen. Viele dieser Pilotversuche sind zwischenzeitlich eingestellt worden. Eine weitere Fehlwahrnehmung bestand darin, das Sozialkreditwesen mit dem chinesischen Überwachungsstaat gleichzusetzen. Das, was mit dem Sammelbegriff Überwachungsstaat gemeint ist, umfasst aber andere Maßnahmen und Lebensbereiche, etwa die Online-Zensur oder auch die Überwachung des öffentlichen Raums mit Kameras zur Verhinderung von Protesten , die sich gegen die Zentralregierung richten. Dazu zählen auch Technologien zur Gesichtserkennung, die dem Staat helfen sollen, frühzeitig Gefahren für die Stabilität des Regimes zu erkennen. Überwachungskameras werden aber auch für das Monitoring von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung oder Alltagskriminalität eingesetzt. Alle diese Maßnahmen existieren getrennt von den Sozialkreditsystemen.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-sozialkredit-m1-2]