Queer in China – Ein Angriff auf die kindliche Pietät?
- Lerneinheit 1: Elterliche Erwartungen und eigene Lebensentwürfe1 Material|1 Aufgabe
- Lerneinheit 2: Homosexuell in einer chinesischen Familie1 Material|1 Aufgabe
- Lerneinheit 3: Queeres Leben in China1 Material|1 Aufgabe
- Lerneinheit 4: Der Wunsch nach Normalität1 Material|1 Aufgabe
- Lerneinheit 5: Diskriminierungserfahrungen in China – Das Beispiel Transgender5 Materialien|3 Aufgaben
- M5.1: Erklärvideo: Transgender in China (Erweiterung Transgender)
- M5.2: Studie: Diskriminierung von trans* Menschen in China: Familie
- M5.3: Studie: Diskriminierung von trans* Menschen in China: Gesundheitswesen
- M5.4: Studie: Diskriminierung von trans* Menschen in China: Bildungswesen
- M5.5: Studie: Diskriminierung von trans* Menschen in China: Arbeitsmarkt
- M5.1: Erklärvideo: Transgender in China (Erweiterung Transgender)
- Ergänzende Materialien2 Materialien|1 Aufgabe
M4.1: Personenprofile für Rollenspiel
Die Personenprofile basieren auf realen queeren Menschen sowie Eltern queerer Menschen aus der Volksrepublik China (VR China) und Hongkong. Sie stammen aus ethnographischen Studien sowie Dokumentationen. Zusammengestellt und übersetzt wurden die Personenprofile von der Sinologin Frederike Schneider-Vielsäcker.
Die queeren Figuren des Rollenspiels haben unterschiedliche Bildungs- und berufliche Hintergründe, leben in chinesischen Großstädten wie Shanghai 上海, Beijing 北京, Guiyang 贵阳, Chongqing 重庆, Hangzhou 杭州, Hongkong (Xianggang 香港) und sind unterschiedlich stark in der LGBTIQ*-Community involviert. Sie gehen auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrer eigenen sexuellen oder geschlechtlichen Identität um und vertreten unterschiedliche Meinungen zum Auftreten queerer Menschen in der Öffentlichkeit und dem Outing. Auch die Eltern verhalten sich ganz verschieden zur Homosexualität ihrer Kinder.
Kommentar: Durch das Rollenspiel erhalten die Schüler*innen ein tieferes Verständnis für den aktuellen Diskurs. Indem sie sich in einen queeren Menschen oder dessen Eltern hineinversetzen, werden die familiären und sozialen Herausforderungen in deren Leben persönlich erfahrbar und bleiben ihnen somit nachhaltig im Gedächtnis. Zudem lernen sie dabei, andere – möglicherweise von der eigenen Meinung abweichende – Standpunkte zu vertreten und somit die eigene Einstellung zum LGBTIQ*-Diskurs allgemein oder speziell in Deutschland zu hinterfragen. Darüber hinaus werden die bisher bearbeiteten Themen im Rollenspiel um die Perspektive der Eltern und der von trans* Personen erweitert. Die in M3 erarbeiteten Themenkomplexe Coming-out, sozialer Druck, gesellschaftliche Akzeptanz, Eheschließung (heterosexuelle Scheinehen und „kooperative Ehen“ (xinghun 形婚) und Familiengründung werden im Rollenspiel vertieft. Die Thematik der kindlichen Pietät lässt sich in den Profilen von May, Matty, Chris, Coral, Ling, Mu, Heng, Liu, Cheng, Tao, Edwin, Tom, Mr. C, Xiaowei Mama, Xiaoli Mama, Xiaotao Mama, Xiaoxin Baba und Ye Mama weiterverfolgen. In den Profilen von Qi, Ying, Moon, Qing, Yang, Xing, Tian, Weiyan, Mr. C und Xiaomi geht es weiterhin um die queere Identität sowie Identitätsfindung in China.
Anleitung: Je ein Personenprofil soll per Zufall an die Schüler*innen verteilt werden. Falls in der Klasse weniger Schüler*innen sind, als Personenprofile vorhanden (insgesamt 29), oder falls die Variante des Rollenspiels in Kleingruppen gewünscht ist, sollte auf eine differenzierte Mischung der einzelnen Positionen sowie auf die Vielfalt der Personenprofile (gleichmäßige Verteilung von Eltern und Kindern sowie männlicher und weiblicher Homosexueller; die beiden Profile von trans* Personen sollten immer inkludiert werden) geachtet werden. Nach kurzem Durchlesen des jeweiligen Profils seitens der Schüler*innen eröffnet die Lehrkraft das Gespräch. Hier kann beispielsweise ein Communitytreffen für queere Menschen und deren Eltern simuliert werden, wie sie u.a. von der Nichtregierungsorganisation PFLAG China (Tongxinglian Qinyouhui 同性恋亲友会) organisiert werden. Sollte das Gespräch einmal ins Stocken kommen, kann die Lehrkraft die Diskussion mit Fragen, die sich auf die Personenprofile / Zitate bzw. Themengebiete (sozialer Druck, gesellschaftliche Akzeptanz, Coming-out, Eheschließung und Familiengründung) beziehen, wieder anregen.
Qi
- 29 Jahre
- Aus einer Kleinstadt in Südchina; lebt in Shanghai (ohne Familienangehörige)
- Genießt ein eher anonymes Leben in Shanghai, was in ihrem Heimatort niemals möglich gewesen wäre, da sich dort alle untereinander kennen und alle darüber Bescheid wissen, was eine andere Person tut und mit wem sie Kontakt hat
- Hochschulabsolventin
- Unverheiratet, lebt alleine
- Fernbeziehung mit einer Frau, die in einer anderen Stadt lebt
- Selbstständige Webdesignerin
- Aktives Mitglied der lokalen lesbischen Community in Shanghai
„Abgesehen von großen chinesischen Städten wie Shanghai haben einige kleinere Städte oder ländliche Dörfer grundsätzlich keinen Zugang zu Informationen. Bevor das Internet populärer wurde, hatte ich noch nichts von [Homosexualität] gehört. Ich war schon um die zwanzig und es war an der Zeit, mit Jungs auszugehen. Während des Studiums hatte ich intime Erfahrungen mit Kommilitoninnen. Aber wir haben es nicht als große Sache angesehen, und niemand … absolut niemand hätte uns sagen können, was es war. Ich hätte auch niemanden gefragt. Es gab keine Bücher, kein Internet – wir wussten einfach nicht, was es war. Dann haben wir es als einen Prozess betrachtet, den wir durchliefen. Wir dachten, dass die Zeit für uns kommen würde, Männer zu daten und irgendwann zu heiraten. So war es. … Ich bin sehr glücklich, dass ich Zugang zum Internet bekam, nachdem ich mich von meinem Freund getrennt habe. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich darum sehr glücklich schätzen konnte, sonst hätte ich ihn sicher geheiratet. Wenn ich erst nach meiner Heirat von meiner Identität erfahren hätte, kannst du dir vorstellen, wie schwer das alles gewesen wäre, wenn dann all meine Erinnerungen mit meinen Kommilitoninnen wieder aufgekommen wären? Aus diesem Grund halte ich den Zugang zu Informationen und Kommunikation mit anderen aus der Community für sehr wichtig.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 27, 113–115.
Ying
- Anfang 30
- Hochschulabsolventin
- War mit einem Mann verheiratet; hatte vor und nach der Ehe Beziehungen mit Frauen (ihr Ehemann wusste jedoch nichts davon)
- Ursprünglich aus Nordchina, ist zum Studium nach Shanghai umgezogen und um eine Pause von der Ehe zu nehmen, sie lebt dort ohne Familienangehörige
- War für vier Jahre in einer Beziehung mit einer Frau, bevor sie einer Onlinecommunity für Lesben beitrat
- Wehrte sich dagegen, sich als Homosexuelle zu bezeichnen; erst nachdem sie der Onlinecommunity beitrat, konnte sie ihre Identität akzeptieren
- Hat einige lesbische Freundinnen in der lokalen Lala-Community (Community lesbischer Frauen, lala 拉拉), nimmt aber nicht aktiv an Treffen teil
„In diesem Chatroom waren sowohl männliche als auch weibliche Tongzhi [Homosexuelle, tongzhi 同志]. Sie waren alle ziemlich jung. Als ich zum ersten Mal in den Chatroom ging, beobachtete ich nur. Ich habe mir nur angesehen, worüber sie gesprochen haben. Ich war absolut überrascht, dass es so viele Menschen gab, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben. Ich hatte das nie mit gleichgeschlechtlicher Liebe [tongxinglian 同性恋, medizinische und akademische Bezeichnung für Homosexualität, Homosexuelle, homosexuell] in Verbindung gebracht, schon gar nicht damit, selbst homosexuell zu sein. Zu Beginn neigte ich dazu, sie zu verurteilen. Ich sagte mir, ich sei anders als sie. Aber in Wirklichkeit habe ich mehr und mehr eine Bestätigung dessen bekommen, je mehr ich gelesen habe – dann wusste ich, ich bin eine von ihnen. Später, als ich in einen Audio-Chatroom und auf andere Webseiten ging, fand ich immer wieder Dinge über sie heraus, die auch auf mich zutreffen.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 54, 113–115.
Moon
- 22 Jahre
- Hochschulabsolventin
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Unverheiratet
- Lebt alleine, aber ihre Freundin bleibt des Öfteren über Nacht in ihrer Wohnung
- Angestellte
- Aktives Mitglied der Lala-Community (Community lesbischer Frauen, lala 拉拉) in Shanghai
- Initiatorin eines Lala-Webradios
- Aus Neugier und dem Bedürfnis folgend, sich selbst besser verstehen zu können, begann sie im Internet nach Informationen zu suchen
„Ich habe in die Baidu-Suche nütong [女同, Lesbe] eingegeben und schon fand ich eine Webseite sowie einige akademische Berichte. Ich habe mich nicht dafür entschieden, die Webseite zu lesen, sondern stattdessen die akademischen Berichte, das waren einige Schriften von Professor*innen und meist sehr wissenschaftliche Texte. Sie diskutierten den Begriff nütong sehr breit, zum Beispiel darüber, dass es in der Welt der Nütong Kategorien wie „T“ [Tomboy]), „P“ [abgeleitet von po 婆, Großmutter; entspricht Femme] und „bufen“ [不分 (别), ohne Zuordnung; wörtl. keinen Unterschied machen] gibt. Diese Konzepte beeindruckten mich sofort und ich wandte sie in Bezug auf meine Beziehung zu [meiner Freundin] an. Dadurch wurden mir diese Konzepte klarer. Später habe ich einige Webseiten durchsucht. Die erste davon hieß ,Wenn ein Traum beginnt‘. Darauf habe ich einige Texte über den Geschlechtsverkehr zwischen Frauen gelesen und dadurch erfahren, wie Frauen miteinander Sex haben. Ich wusste nicht einmal über diese grundlegenden Dinge etwas. Später traf ich eine Nütong und sie hat mir einem Chatroom empfohlen. Sie war die Moderatorin einer Frauenwebseite und es war ihretwegen, dass ich diesen Chatroom betrat. Sobald ich drin war, war ich – wow! Alle Leute hier sind lesbisch. Es gibt so viele von ihnen. Ich bin damit nicht allein. Ich bin kein Freak. Tatsächlich gibt es so viele Leute, die so sind wie ich!“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 54, 113–115.
- 27 Jahre
- Hochschulabsolventin
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Unverheiratet
- Lebt zusammen mit ihren Verwandten
- Hatte mehrere Beziehungen mit Frauen, aber nie eine ernste
- Angestellte
- Nimmt an Treffen der lokalen Lala-Community (Community lesbischer Frauen, lālā 拉拉) teil
„Mein erster Gedanke war: Du denkst, deine eigene Erfahrung, verliebt zu sein, ist einzigartig, weil es dir sehr wichtig ist. Aber wenn du einmal ins Internet gehst und viele ähnliche Beiträge gelesen hast, dann wirst du feststellen, dass alle Menschen sich einmal in jemanden verlieben – und wie schwer es ist, dir deine Gefühle einzugestehen. Dann merkst du, dass es etwas ganz Gewöhnliches ist! Du wirst sehen, dass viele Leute im Netz so sind. Das heisst, meine erste Reaktion war, mir selbst zu sagen: Ich bin nicht die Einzige, wir sind dadurch alle miteinander verbunden. Als nächstes bekam ich Informationen zu Meetings und persönliche Kontaktanzeigen zugeschickt. Wenn du solcherlei Informationen erhältst, erscheint es normal zu sein, sich persönlich zu treffen. Dann fängst du an, zu denken, dass sie [homosexuelle Frauen im Internet] sich nicht von den Menschen unterscheiden, die du jeden Tag siehst – sie können auch ein gutes Leben führen. Schließlich wirst du anfangen, positiv zu denken, wenn du gemeinsam über Ideen für die Zukunft sprichst … Wie damals, als ich nach Beijing ging [und mich mit einigen jüngeren Freund*innen traf], dadurch begann ich zu denken, dass wenn sie als Teenager ein solches Leben führen können, dann kann meine Zukunft nicht so schlecht werden. Sie haben mir beigebracht, zu hoffen. So hätte ich in der Vergangenheit nicht gedacht, weil ich es [diesen Lebensstil] für schwer umsetzbar hielt. Ich hatte keine Rollenmodelle. Aber als ich sie sah, sah ich die Zukunft.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 55, 113–115.
May
- Mitte 20
- Freischaffende Autorin und freiwillige Beraterin bei der lokalen Lala-Hotline (Hotline für homosexuelle Frauen, lala 拉拉)
- Hochschulabsolventin
- Ursprünglich aus Nordchina, lebt nun in Shanghai und hat in der Stadt auch Verwandte
- Unverheiratet
- Lebte lange Zeit alleine und ist vor Kurzem bei ihrer Freundin eingezogen
- Ihre Freundin hatte früher eine „kooperative Ehe“ (xinghun 形婚) mit einem homosexuellen Mann, ließ sich aber scheiden
- Betrachtet die Notwendigkeit des Coming-out mit Skepsis
„Ich bewundere Menschen, die sich outen. Trotzdem denke ich, dass das von der jeweiligen Situation abhängig ist. Du bist dadurch keine Märtyrerin. Ich rate den Anruferinnen der Lala-Hotline auch nicht zu einem Coming-out. Es ist eine ernste Angelegenheit und muss wohl überlegt sein, insbesondere, wenn es die Umstände, in denen du lebst, dir nicht erlauben. Das sollte man realistisch sehen. Ich frage die Anruferinnen oft ganz direkt: ‚Kannst du es dir leisten, dich zu outen?‘“
Quelle:Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 75, 113–115.
Matty
- Mitte 20
- Hochschulabsolventin, Vielverdienerin
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Unverheiratet
- Lebt mit ihren Verwandten zusammen
- Nimmt selten an der lokalen Lala-Community teil (Community lesbischer Frauen, lala 拉拉)
- Hatte ein luxuriöses Leben in Shanghai, entschied sich jedoch dazu, China zu verlassen, um im Ausland mit ihrer Freundin ein weniger komfortables, aber glückliches Leben zu führen
- Verschwieg ihre dreijährige Beziehung zu einer Frau vor ihrer Familie und auf der Arbeit
- Sieht ein Leben im Ausland als einzige Möglichkeit, dem sozialen Druck zu entfliehen
„Obwohl manche Leute sagen würden, dass die Liebe zwischen zwei Menschen andere nichts angeht, solltest du die Menschen um dich herum nicht unter Druck setzen oder belasten. Du solltest andere Menschen nicht mit deinem Handeln negativ beeinflussen … Ich habe das Gefühl, dass sie einfach nicht wissen, wie sie [mit meiner Situation] umgehen sollen. Wenn du deine Familie aus dieser Sache raushalten kannst, dann halte sie raus. Du weißt doch, dass du angeschrien wirst, wenn du mit ihnen darüber redest. Also macht es erst gar keinen Sinn. Warte bis zu dem Tag, an dem du keine andere Wahl hast, als es ihnen zu sagen. Verstecke es für den Moment. Sprich nicht darüber. Es würde dir nur schaden …“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 77–78, 113–115.
Chris
- Anfang 30
- Hochschulabsolventin; Angestellte
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Ist kürzlich eine „kooperative Ehe“ (xinghun 形婚) mit einem homosexuellen Mann eingegangen, den sie auf einer entsprechenden Plattform im Internet gefunden hat
- Ihre Partnerin war in alle Schritte der Planung der Scheinehe einbezogen
- Lebte vor der Hochzeit bei ihren Eltern und plant nun, mit ihrer Freundin zusammenzuziehen
- Ihre Eltern waren sehr erleichtert über die Neuigkeit, dass ihre Tochter heiraten wird; für sie selbst ist die Heirat eine große Belastung und sie hätte diesen Schritt am liebsten nicht getan
„Sie [Eltern] kümmern sich am meisten darum, was andere Leute über sie sagen. Sie sind besorgt um ihre Beziehung zur Verwandtschaft. Sie denken, dass wenn [die Ehe] entsprechend verläuft, sei das ‚Problem‘ gelöst. Sie denken auch, sobald das ‚Problem‘ gelöst sei, könne ich ausziehen, die Leute würden sich nicht mehr so sehr um mich kümmern und sie könnten sich als Eltern wieder entspannen. Aber was ist mit meinen Gefühlen?“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 86, 113–115.
Coral
- Anfang 30
- Promoviert
- Ursprünglich aus Nordchina, lebt in Shanghai und hat dort keine Verwandte
- Zog nach Shanghai, um mit ihrer damaligen Freundin zusammenzuleben
- Mit einem heterosexuellen Mann verheiratet
- Ihr Ehemann weiß, dass sie außereheliche Beziehungen hat, weiß aber nicht, dass sie diese mit Frauen führt; ihr Ehemann möchte sich nicht scheiden lassen, aus Angst, sein Gesicht1 vor der Familie zu verlieren; das Leiden unter einer schlechten Ehe ist nicht so hoch wie die Auswirkungen einer Scheidung auf die soziale Stellung
- Hat Kontakt zu ihren lesbischen Freundinnen, nimmt aber nur selten an Community-Veranstaltungen teil
- Spricht über die Schwierigkeiten, eine gleichgeschlechtliche Beziehung außerhalb der Ehe aufrecht zu erhalten und darüber, dass sie unter der Dreiecksbeziehung leidet
„Im ersten Jahr unserer Ehe hat mein Ehemann bereits von meinen außerehelichen Beziehungen erfahren … Ich bin jetzt der Meinung, dass eine verheiratete Frau nicht … eine andere Frau lieben sollte. Wenn ich vor drei Jahren gewusst hätte, dass es so enden würde, ich hätte, unabhängig davon wie stark ich für sie empfinde, [meine Gefühle] kontrolliert, weil man letztendlich drei Personen verletzt. Alle drei Personen leiden darunter. Wenn ich gewusst hätte, dass es so sein würde, hätte ich am Anfang besser ein bisschen Liebeskummer gehabt. Es ist wirklich zermürbend … Sie erleidet wirklich großen Schmerz. Sie hat das Gefühl, keine Sicherheit zu haben. Ich kann ihr keine Sicherheit und auch keine Versprechen geben. Auf der anderen Seite leidet mein Ehemann, weil ich ihm nicht geben kann, was andere Ehemänner haben. Ich leide auch selbst sehr unter der Situation. Manchmal möchte ich einfach nur ein simples Leben führen und keine Last verspüren, wenn ich morgens meine Augen öffne. Einfach nur die simple Freude beim Lachen, Arbeiten und Lesen verspüren. Aber so empfinde ich jeden Morgen, wenn ich aufwache, eine schwere Bürde auf mir, ein Gewicht, das mich nach unten drückt … Eigentlich wollte ich mich scheiden lassen. Aber als ich mit meinem Ehemann darüber sprach, war er sehr nachsichtig und sagte: ‚Keine Sorge, kümmere dich nicht um mich. Mach einfach, was du tun musst. Es macht mir nichts aus. Ich bin immer hier, wenn du dich entscheidest, nach Hause zu kommen.’ Wäre er nicht so zuvorkommend und verständnisvoll gewesen, wäre ich entschlossener gewesen, mich scheiden zu lassen. Aber seine Einstellung hat mich in meinen Plänen entkräftet.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 83, 113–115.
Ling
- Anfang 30
- Hochschulabsolventin
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Ihre Eltern setzen sie unter Druck, sich heterosexuell zu geben; sie haben über die Freundin der Mutter sogar ein Date mit einem Mann arrangiert und die beiden haben sich für einige Zeit getroffen
- Hat ihr äußeres Erscheinungsbild angepasst, um weiblicher aufzutreten, obwohl sie sich als T (Tomboy) identifiziert; das heterosexuelle Auftreten ist für sie eine geschlechtliche Performance (gender performance)
„Ich dachte, es wäre die ideale Lösung … immerhin war [der Typ, den ich gedatet habe] nicht allzu schlimm. Gut, dann heirate ich eben! Wenn’s nicht klappt, dann werde ich mich scheiden lassen. Dann habe zumindest ich keinen Druck mehr. Dann wäre ich wenigstens einmal verheiratet gewesen. Und was ich nach der Scheidung mache, geht niemanden etwas an.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 81, 113–115.
Mu
- Mitte 30
- Hochschulabsolventin; Führungskraft in einer internationalen Firma
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Mit einem Mann verheiratet, hat mit ihm ein Kind
- Seit vielen Jahren in einer Fernbeziehung (im Ausland) mit einer Frau, die ebenfalls mit einem Mann verheiratet ist
- Lebt zusammen mit ihrem Ehemann, besucht ihre Freundin regelmäßig
- Beide Ehemänner wissen von der gleichgeschlechtlichen Beziehung ihrer Frauen und beide tolerieren diese aus ähnlichen Gründen
- Nimmt gelegentlich an Treffen von homosexuellen Frauen in Shanghai teil
„Wie er reagiert hat? Er war überrascht. Es war als hätte er einen Roman über sein Leben schreiben können. Wie konnte so etwas ihm passieren? Aber es ist nun einmal passiert und da es sich bei der anderen Person um eine Frau handelt, stellt meine außereheliche Beziehung eine geringere Gefahr für ihn dar. Da wir unsere Beziehung über eine große räumliche Distanz führen, hat er sie schließlich akzeptiert. Wenn es ein Mann gewesen wäre, hätte er das nicht getan. Genauso war es auch bei ihrem Ehemann. Er denkt, zwei Frauen können es ja nicht wirklich tun! (Lacht.) Aber ihr Ehemann war anfangs ziemlich sauer … wirklich sauer. Wie konnte seine Frau eine Affäre haben? Als er später herausfand, dass die Affäre mit einer Frau ist, hat er es dann nach und nach akzeptiert.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 84, 113–115.
Heng
- Mitte 30
- Sekundarschulabschluss; selbstständig
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Mit einem Mann verheiratet, hat mit ihm ein Kind
- Ist in einer Beziehung mit einer Frau, die in einer anderen Stadt lebt
- Hat mit ihrem Ehemann vereinbart, die Ehe zu öffnen und für beide außereheliche Beziehungen zu erlauben
- Ihr Ehemann würde ihre Forderung nach dem Sorgerecht für ihr Kind im Falle einer Scheidung ablehnen
- Hat Lala-Freundinnen (homosexuelle Freundinnen, lala 拉拉), nimmt aber selten an Veranstaltungen der Community teil
„Kinder sind ein entscheidender Faktor. Wenn du keine Kinder hast, kannst du dich ohne große Probleme scheiden lassen, solange die Finanzen geklärt sind. Aber wenn Kinder im Spiel sind, wären diese stark [von einer Scheidung] betroffen. Wir haben absolut nicht das Recht, unserer Lust auf Kosten der Zukunft und der Zufriedenheit unserer Kinder freien Lauf zu lassen. Ökonomische Faktoren sind auch Teil dieser Erwägung, aber ein Kind wird davon persönlich betroffen sein. Das wird gravierende Folgen für das Wachstum und Wohlbefinden eines Kindes haben. Wir können nicht in die Zukunft eines Kindes eingreifen, nur um unser eigenes Glück zu erfüllen. Das ist ein wirklich sehr wichtiger Faktor bei einer solchen Entscheidung.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 84, 113–115.
Liu
- Anfang 30
- Hochschulabsolventin; Vielverdienerin
- Aus Shanghai; ihre erweiterte Familie lebt ebenfalls in Shanghai
- Unverheiratet, Single
- War bereits in vielen Beziehungen mit Frauen
- Lebt allein in ihrer Eigentumswohnung
- Hat Lala-Freundinnen (homosexuelle Freundinnen, lala 拉拉), nimmt aber selten an Veranstaltungen der Community teil
- Glaubt, dass finanzielle Unabhängigkeit eine Voraussetzung für ein Leben außerhalb der heterosexuellen Ehe und für familiäre Akzeptanz oder soziale Anerkennung sei
„Erstens bin ich eine Lala [homosexuelle Frau]. Zweitens glaube ich an die Ehelosigkeit. Ich kann entschieden sagen, dass ich aufgrund dieser beiden Faktoren nicht heiraten werde. Auf verschiedenste Arten beweise ich meinen Eltern, dass ich ein gutes Leben als Single führe – sei es in Bezug auf meine Karriere, meine sozialen Kreise oder meinen Lebensstandard. Die Realität wird all [ihre] Argumente außer Kraft setzen. Ich kann immerhin sagen, dass ich nicht schlechter dastehe als irgendeine andere Frau in meinem Alter, die verheiratet ist.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 79, 113–115.
Mike
- Anfang 30
- Kumpel von Ying (homosexuelle Frau); sie kennen sich übers Internet
- Spricht mit Ying oft über die finanziellen Probleme von Frauen, besonders von homosexuellen Frauen
„Egal welche Art von Liebesbeziehung man führt, es geht immer noch um finanzielle Unterstützung. Das gilt insbesondere für ‚diese Art von Beziehung‘. Es gibt niemanden, den man um Hilfe bitten könnte. Du wirst keine Hilfe bekommen; du bist alleine. Wenn du nicht einmal dich selbst versorgen kannst, dann wird es extrem schwierig, mit [einer anderen Frau] zusammen zu sein.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S. 79, 113–115.
Cheng
- 26 Jahre
- Spricht über „normale“ (heterosexuelle) und „abnormale“ (homosexuelle) Lebensstile
- Bezeichnet sich als tongzhi (Homosexueller bzw. homosexuell, tongzhi 同志)
„Wenn ein Mensch jung ist, kann er es sich leisten, an einem Ort verrückt zu sein, der nicht dem Tageslicht ausgesetzt ist. Wenn ein Mensch jedoch älter ist und wie ein ,normaler‘ Mensch leben möchte, muss er heiraten und echte, ernsthafte Dinge tun. Er kann nicht mehr herumalbern. Er muss lernen, ,normal‘ zu sein. […] Ja, es ist in Ordnung, sich in jungen Jahren zu vergnügen und nach Stimulation und Spaß zu suchen. Wenn du dich jedoch der Dreißig näherst, musst du dich durch eine heterosexuelle Ehe in die Gesellschaft eingliedern, weil du als ,normale‘ Person akzeptiert werden möchtest. Andernfalls wirst du ausgeschlossen und als ,abnormale‘ Person an den Rand der Gesellschaft verbannt.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 142.
Yang
- 21 Jahre
- Lebt seine Homosexualität nur heimlich aus
- Spricht über gleichgeschlechtliche Ehe und darüber, ob diese in China erlaubt werden sollte
„Wer möchte schon einen Tongzhi [Homosexuellen, tongzhi 同志] öffentlich heiraten? Kannst du deinen Kolleg*innen offen sagen, dass du ein Tongzhi bist? Natürlich nicht! Wir wollen es nicht tun, weil wir nicht einmal diese Gedanken hegen. Wenn zwei Menschen zusammen sind, ist es nur zum Vergnügen und niemand denkt an eine Ehe. Wenn du heiratest, wirst du im Fokus der Aufmerksamkeit der Welt stehen und natürlich möchte das niemand – wie beschämend das wäre! Dies ist eine Sache, die sich nicht im Tageslicht zeigen darf und wir können auf keinen Fall offen tongzhi sein.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 142–143.
- 30 Jahre
- Arbeitet in einer Organisation zur AIDS-Aufklärung; denkt gerade über einen Berufswechsel nach
- Spricht über die Schwierigkeiten, in der Tongzhi-Community (LGBTIQ*-Community, tongzhi 同志) aktiv zu sein und gleichzeitig eine Karriere aufzubauen
- Hat sich von seinem Partner getrennt und denkt über eine Scheinehe mit einer lesbischen Frau nach, um von der Gesellschaft als heterosexuell und somit als „normal“ wahrgenommen zu werden
„Ich möchte meine Verbindung zur Tongzhi-Community beenden. Meine Karriere hat nichts mit tongzhi zu tun, ich muss mich der Gesellschaft stellen, nicht den Tongzhi. Schließlich ist tongzhi kein Mainstream […] Ich möchte Teil des Mainstreams sein. Die Integration in den Mainstream macht mich sozial akzeptabler und weniger marginalisiert. Tongzhi zu sein ist gleichbedeutend mit Marginalität. Sozial akzeptabel zu sein bedeutet, die Tongzhi-Identität auszulöschen. Ich hoffe, ein ‚normales‘ soziales Lebewesen zu sein. Sonst gibt es keine Zukunft für meine Karriere.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 145–146.
Tian
- Mitte 20
- Bewegt sich zwischen der heterosexuellen und queeren Welt
- Kämpft mit seiner doppelten Identität
- Spricht über die Probleme im Freundeskreis
- Ist in einer Beziehung mit einem Mann
„Es ist äußerst schwierig, sowohl mit Tongzhi-Freund*innen [queere Freund*innen, tongzhi 同志] als auch mit heterosexuellen Freund*innen in Verbindung zu bleiben. Wenn meine heterosexuellen Freund*innen mich bitten, am Freitag- oder Samstagabend mit ihnen abzuhängen, muss ich sie anlügen und eine Geschichte erfinden. Wenn sie mich fragen, was ich am Wochenende getan habe, muss ich lügen und wieder eine neue Geschichte erfinden. Wenn sie mich anrufen und ich zufällig in einer Tongzhi-Bar bin, muss ich es vertuschen und mir eine weitere Lüge einfallen lassen. Es ist einfach extrem lästig und am Ende vergesse ich die Lügen, die ich erzählt habe, verärgere meine Freund*innen, schade meinen Freundschaften… [und] wenn ich mit meinem Freund auf der Straße laufe, wage ich es nicht, ihm nahe zu sein. Wir müssen laufen, sprechen, uns kleiden wie ‚normale‘ Männer und Abstand voneinander halten.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 147.
Weiyan
- 29 Jahre
- In einer Beziehung mit einer Frau
- Versteckt seine Tongzhi-Identität (homosexuelle Identität, tongzhi 同志) vor allen, auch vor seiner Freundin
- Spricht über sein Doppelleben
„Ich bemühe mich sehr darum, es [meine Tongzhi-Identität] vor meiner Freundin zu verbergen. Ich wage es nicht, mich piercen zu lassen. Ich wage es nicht, meine Handtasche über der Schulter zu tragen. Meine Freundin beschwert sich, dass diese Verhaltensweisen einen Mann wie eine Frau aussehen lassen. Ich speichere alle Nummern meiner ‚normalen‘ Freunde in einem Softwaresystem und alle Nummern meiner Tongzhi-Freund*innen in einem anderen. Wenn mein Tongzhi-Freund anruft, muss ich ein Passwort eingeben, bevor ich Anrufe oder Textnachrichten annehmen kann.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 152–153.
Tao
- 25 Jahre
- Verheiratet mit einer Frau
- Hat mit Männern Affären
- Spricht über Verantwortung der Familie gegenüber, die Frage nach dem Coming-out und die Beziehung zu seinem Vater
„Wir sollten nicht egoistisch sein. Wir sollten die Verantwortung tragen, die Abstammungslinie fortzuführen [chuanzong jiedai 传宗接代, gemeint ist: vorzugsweise männliche Nachkommen zu zeugen]. Wir sollten an unsere Eltern denken. […] Natürlich kann ich es meinen Eltern niemals erzählen. Mein Vater würde mir das Bein brechen, wenn er wüsste, dass ich ‚diese Art von Person‘2 bin. Ich würde meinen Eltern auf gar keinen Fall etwas sagen, nicht einmal wenn ich kurz davor wäre, in den Sarg zu steigen.“
Quelle: Zheng, Tiantian: Tongzhi Living: Men Attracted to Men in Postsocialist China, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2015, S. 153.
Edwin
- 40 Jahre
- Single
- Aus Hongkong
- Das tiefe Schamgefühl seiner Eltern lässt ihn zögern, sich zu outen
- Kompensiert seine Schuldgefühle ob seiner vermeintlichen Pietätlosigkeit mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern
Ich fühle mich wirklich schuldig, dass ich den Wunsch meiner Eltern, einen Enkelsohn zu haben, nicht erfüllen kann. Alles, was ich tun kann, ist, sie mit Geld zufriedenzustellen. Ich gebe ihnen sehr viel Geld, ein Drittel meines Gehaltes. Alle Verwandten und Freund*innen meiner Eltern wissen, dass ich sehr pietätvoll bin und meinen Eltern sehr viel Geld gebe. Da ich von diesen Leuten hochgelobt werde, können meine Eltern ihr Gesicht bewahren [you mianzi 有面子, gemeint ist: zu verhindern, dass sie ihre Würde und Selbstachtung verlieren, in dem sie vor anderen Menschen gut dastehen].3
Quelle: Chou, Wah-Shan: Tongzhi: Politics of Same-Sex Eroticism in Chinese Societies, New York, London: Routledge, 2000, S. 256.
Tom
- 35 Jahre
- Lebt in Hongkong; seine Familie lebt ebenfalls in Hongkong
- Ist vor seiner Familie nicht geoutet und zieht eine Scheinehe in Erwägung
- Leidet sehr unter dem Druck seiner Familie, zu heiraten, weshalb er von düsteren Gedanken erfüllt ist
Meine Mutter und mein Vater sind beide Anfang 70. Meine Strategie ist es, zu warten – ihr Tod wird meine Befreiung sein. Meine Großmutter drängt mich immer dazu, eine Freundin zu suchen und sagt, dass sie jederzeit sterben könne – ihr einziger unerfüllter Wunsch sei es, meine Heirat mitzuerleben. Sie ist jetzt 93. Was soll ich tun? […] Ich kann nur abwarten. Das ist sehr schmerzhaft für mich – ein chinesischer Sohn, der den Tod der Eltern herbeisehnt. Wie pietätlos! Ich hoffe, ich kann eine lesbische oder irgendeine Frau finden, der es nichts ausmacht, eine Scheinehe zu führen.
Quelle: Chou, Wah-Shan: Tongzhi: Politics of Same-Sex Eroticism in Chinese Societies, New York, London: Routledge, 2000, S. 257.
Roddy
- 29 Jahre
- Geschäftsmann aus Beijing
- Reist oft dienstlich nach Tianjin
- Hat eine Beziehung mit einem Mann, der mit seiner heterosexuellen Frau in Tianjin lebt
Sie weiß von meiner intimen Beziehung mit ihm. Wenn ich zu Besuch bin, lässt sie mich mit ihm im Schlafzimmer schlafen, während sie im Wohnzimmer schläft. Für sie sind Ehe und romantische Liebe zwei verschiedene Dinge – auch romantische Liebe und Sex sind unterschiedlich. Ehe ist eine Verantwortung gegenüber der Familie, die nicht unbedingt mit romantischer Liebe zusammenfallen muss. […] Sie hat mich akzeptiert. Auch sie hat sehr enge Freundinnen, die ihr eine große emotionale Stütze sind. Nun, wir Chines*innen schätzen Freundschaft eben mehr als romantische Liebe.
Quelle: Chou, Wah-Shan: Tongzhi: Politics of Same-Sex Eroticism in Chinese Societies, New York, London: Routledge, 2000, S. 267–268.
Mr. C (Transmann)
- Ende 20
- Lebt allein in Guiyang (Guizhou, Provinz in Südwestchina)
- Arbeitslos
- Engagiert sich in einer aktivistischen Gruppe für die gesellschaftliche Aufklärung in Bezug auf trans* Personen
- Ist mit einer Frau in einer Beziehung und wünscht sich, sie heiraten zu können
„Bevor ich nach Guiyang kam, wollte ich mit niemandem sprechen. Ich habe mich komplett [von der Gesellschaft] zurückgezogen, weil ich dachte, die Leute würden mich schikanieren, wenn ich mit ihnen redete … Früher haben meine Eltern mir vorgegeben wie ich meine Haare frisieren soll. Aber seit der Grundschule gehe ich alleine zum Friseur und lasse mir einen Männerhaarschnitt verpassen. Ich wusste schon immer, dass ich Frauen mag, aber ich wusste nicht, warum ich auf sie stand. Ich wusste nur, dass ich nicht ‚normal‘ bin, weil Homosexualität stigmatisiert ist. Während der Pubertät haben viele Mädchen in meiner Klasse angefangen, BHs zu tragen. Aber ich habe sie nie getragen, stattdessen habe ich mir meine Brüste abgebunden. Dafür haben mich meine Mitschüler*innen geärgert. Sie zeigten mit dem Finger auf mich und riefen: ‚Iiih, was trägt sie da, das ist widerwärtig.‘ Später im Berufsleben begegnete ich immer noch dieser Art von Mensch. Manche Chefs sagen dir, du sollst dich ‚angemessen‘ kleiden … du musst also einen kurzen Rock tragen und dich feminin präsentieren. Ich wurde entlassen und dieses Erlebnis hat mich sehr traumatisiert. Ich fühlte mich hoffnungslos. Andere drohen dir, deine Geschlechtsidentität zu verraten und nutzen dabei das Wort ‚Freak‘. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir die Menschen aufklären und wissenschaftliche Fakten verbreiten. Wir möchten die Menschen wissen lassen, dass es uns gibt und ihnen zeigen, dass wir genauso sind wie sie. Heute setze ich mich für mich selbst ein. Ich habe mich geoutet und alle wissen, dass ich trans* bin. Immer wieder erkläre ich es den Leuten. Meine Freundin hat es ihren Eltern nicht gesagt. Sie setzen sie unter großen Druck zu heiraten und Kinder zu bekommen. Also möchte ich mich operieren und meinen Pass ändern lassen. Sie ist weniger optimistisch als ich, denn eine Geschlechtsumwandlung ist sehr kostspielig und ich habe keinen Job. Ohne den ‚richtigen‘ Pass kann ich sie nicht offiziell heiraten.“
Quelle: Han, Xia und Joshua Frank: Out of Place, Kurzdokumentation, 2016, abrufbar unter: https://video.vice.com/de/video/meet-the-trans-chinese-community-fighting-for-gender-equality/596ce60fa73d045b1abe7f2e [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Xiaomi (genderfluide trans* Person)
- Mitte 30
- Lebt in Beijing
- Selbstständig, besitzt einen kleinen Secondhand-Laden; arbeitete früher als Make-up Artist
- Bewegt sich sehr selbstbewusst in der Öffentlichkeit
„Die Leute sagen mir, ich zähle zu einer Minderheit. Aber ich sehe mich nicht so. Ich beschränke meine Identität nicht auf ein Geschlecht. Für mich ist Geschlecht fluide. Es kommt ganz auf meine Stimmung an, wie ich mich präsentiere. An einem Tag mehr männlich, ein anderes Mal eher weiblich. Das Konzept von Geschlecht ist für mich nicht so wichtig, aber du kannst es nicht loswerden. Versuche mich nicht als Mann oder Frau zu lesen, betrachte mich einfach als ein menschliches Wesen. Als ich zum ersten Mal Frauenkleider trug, habe ich einen jungen Mann getroffen und wir waren einander sympathisch. Ich mochte ihn. Doch eines Tages wollte er, dass ich meine Haare kurz schneiden lasse. Das hat mich wütend gemacht. Ich habe ihn gefragt, ob er mich nur für die Länge meiner Haare möge. Das hat mich wirklich verärgert. Daraufhin ging ich zum Einkaufszentrum und habe mir sehr extravagante High Heels gekauft. Damit ging ich die Straße entlang und fühlte mich einfach nur gut und extrem zufrieden – obwohl ich von den Schuhen Blasen bekam. Manche trans* Menschen wollen sich nicht outen, weil sie sich schämen. Manche trauen sich tagsüber nicht einmal nach draußen, nur nachts, wenn sie niemand deutlich sehen kann. Das käme für mich nicht infrage. Natürlich könnte ich ein gewöhnliches Leben im Körper eines Mannes wählen, eine Scheinehe führen und Kinder bekommen … aber das wäre nicht mein echtes Ich. Nur in einem Kleid bin ich eben wirklich ich. Ich bin bereit, mich jeglicher Feindseligkeit auf dieser Welt zu stellen. Meiner Meinung nach ist manche Art von Schönheit jenseits von Geschlecht. Wenn wir aufhören, die Schönheit eines Menschen nach seinem biologischen Geschlecht zu beurteilen, wird sich der ganze Charme dieser Person aus deren Innern offenbaren. Es geht doch um die Schönheit der Seele und nicht des Äußeren.“
Quelle: Han, Xia und Joshua Frank: Out of Place, Kurzdokumentation, 2016, abrufbar unter: https://video.vice.com/de/video/meet-the-trans-chinese-community-fighting-for-gender-equality/596ce60fa73d045b1abe7f2e [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Bing
- Mitte 40
- Mutter von Moon (homosexuelle Tochter)
- Nach dem Coming-out ihrer Tochter hat sie diese unterstützt und hatte selbst ein öffentliches Coming-out als Mutter einer Lala (homosexuellen Frau, lala 拉拉)
- Spricht über das Coming-out ihrer Tochter
„Meine Tochter und ich lieben die Finalistinnen der ‚Super Girls‘. Ich weiß, dass es Gerüchte über die beiden gibt, sie seien ein Paar. Meine Tochter hat mir davon erzählt. Manche Unterhaltungsmedien berichten auch davon, dass die Sängerin Li Yuchun [eine der Finalistinnen] einige Mädchen geküsst. Ich mochte sie schon immer und auch wenn es diese Gerüchte gibt, ich mag sie trotzdem. Ich habe sogar meine Freundinnen und Kolleginnen mit meiner Euphorie angesteckt und jetzt folgen sie ihr auch.
Als ich das Finale der ‚Super Girls‘ zusammen mit meiner Tochter angeschaut habe, fragte sie mich auf einmal: ‚Ma, warum magst du Li Yuchun?‘ Also erzählte ich ihr, dass ich ihre Stimme und ihre Ausstrahlung auf der Bühne einfach toll finde. Sie ist wirklich sehr talentiert. Dann fragte mich meine Tochter, ob ich wisse, dass Li Yichun auf Frauen stehe. Ich antwortete: ‚Das macht nichts. Sie ist so jungenhaft, ich dachte mir das schon.’ - ‚Glaubst du mir, dass sie früher auf mich stand?‘ Ich schaute meine Tochter an und sagte: ‚Ihr beiden seid doch zusammen zur Uni gegangen und wart im gleichen Jahrgang, nicht wahr? Unmöglich …’ – ‚Ich hab‘ ihr einen Korb gegeben.’ - ‚Warum denn?‘ Meine Tochter lächelte nur und sagte: ‚Schau weiter Fernsehen, Ma.‘ Ich wollte sie aufmuntern und meinte, dass es in jeder Stadt ein Mädchen wie Li Yuchun gebe. Ich habe schon vorher geahnt, dass meine Tochter so wie Li Yuchun ist. Sie spricht nicht von Jungs. Ich bin froh, dass sie mit mir darüber gesprochen hat. Wir hatten schon immer eine gute Beziehung zueinander.“
Quelle: Kam, Lucetta Yip Lo: Shanghai Lalas: Female Tongzhi Communities and Politics in Urban China, Hong Kong: Hong Kong University Press, 2012, S.75, 113–115.
Xiaowei Mama
- In den 1960er-Jahren geboren
- Mutter von Xiaowei (homosexueller Sohn)
- Leitet eine Tanzgruppe mit über 100 Eltern und deren queeren Kindern; die Gruppe hatte bereits mehrere Aufführungen
„In meiner Jugend dachten wir, dass Homosexualität eine Straftat ist, denn es war per Gesetz so festgelegt. Als Xiaowei im Ausland studierte, habe ich eines Tages seine Sachen durchsucht. Ich fand einige DVDs und ein Film stach mir aufgrund seines merkwürdigen Namens ins Auge: ‚Der pietätlose Sohn‘ (Niezi 孽子, 1986/2003)4. Das hat mich sehr verwirrt. Mein Sohn ist immer sehr pietätvoll, warum sollte er sich solch einen Film ansehen? Ich habe mir den Film unter Tränen angeschaut. Nachdem sich mein Sohn bei mir geoutet hat, hat er mich nie dazu gedrängt, seine Sexualität zu akzeptieren. Ich glaube, mein Sohn musste von dem Zeitpunkt, als er herausgefunden hat, dass er homosexuell ist, bis zu seinem Coming-out die ganze Last all die Jahre alleine tragen. Und ich habe ihn auch noch über zweieinhalb Jahre unter Druck gesetzt … also hatte ich das Gefühl, ich schulde ihm etwas.“
Quelle: Jiang, Ashley (2020): „悬停HovERing“, OutChina, Episode 7, abrufbar unter: https://www.chinalgbt.org/hovering [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Xiaoli Mama
- Mutter von Xiaoli (homosexuelle Tochter)
- Rentnerin
- Aus Chongqing
- Arbeitete früher als Grundschullehrerin
„Als meine Tochter studierte, wollte sie mit einer Kommilitonin zusammenziehen. Sie sagte mir, sie wolle ein eigenverantwortliches Leben führen. Monatelang ist sie nicht nach Hause zu Besuch gekommen. Nachdem ich sie immer wieder nach einem Grund fragte, sagte sie mir: ‚Mama, ich kann nicht nach Hause kommen, ich bin homosexuell.‘ Sie erklärte, sie lebe mit ihrer Partnerin zusammen. Das hat mich schwer getroffen. Es hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ich bin vom Himmel in die Hölle heruntergefallen, in einen tiefen Abgrund. Damals war ich zwiegespalten. Ein Teil von mir wusste, dass sich daran nichts ändern ließe, aber ein anderer Teil von mir hatte immer noch Hoffnung, dass meine Tochter wieder zu einem Leben zurückkehren könnte, das dem Mainstream entspricht. Zu Beginn habe ich versucht, die Beziehung meiner Tochter mit dieser Frau zu zerstören. Ich war oft bei ihrer Wohnung. Ich war auch bei einem Psychologen, der mir versicherte, er könne eine Konversionstherapie machen. Aber dann habe ich andere Eltern von homosexuellen Kindern kennengelernt, Bücher gelesen und Filme geschaut, wodurch ich mit der Situation nach und nach besser umgehen konnte. Ich bin der Meinung, wenn nicht wir Eltern für diese Community einstehen, wenn wir sie nicht akzeptieren und unterstützen, was glaubt ihr, wer eure Kinder dann akzeptieren und unterstützen soll? Es ist nicht ihre Schuld, dass sie homosexuell sind. Schließlich sind wir diejenigen, die homosexuelle Kinder zur Welt gebracht haben. Für diejenigen, die sich noch nicht geoutet haben (ich sage nicht, ihr sollt es tun): Unterschätzt nicht die Aufgeschlossenheit eurer Eltern. Die Gesellschaft wird inklusiver und weltoffener.
Quelle: Jiang, Ashley (2020): „悬停HovERing“, OutChina, Episode 6, abrufbar unter: https://www.chinalgbt.org/hovering [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Xiaotao Mama
- 62 Jahre alt, Rentnerin
- Mutter von Xiaotao (homosexueller Sohn)
- Kommt aus der Provinz Jiangxi
- Engagiert sich für die LGBTIQ*-Community und klärt andere Menschen in der Öffentlichkeit über Homosexualität auf
„Das Coming-out meines Sohnes habe eigentlich ich erzwungen. Als er 26, 27 Jahre alt war, fand ich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Einige Leute stellten ihm Mädchen vor, aber er war an keiner von ihnen interessiert. Ich habe ihn gefragt: ‚Gibt es eine Person, die du magst?‘ Und er antwortete mit Ja. Also habe ich weitergefragt: ‚Wer ist dieses Mädchen?‘ Er antwortete mit einer Gegenfrage: ‚Warum gehst du davon aus, dass es ein Mädchen ist?‘ Als ich diese Information verarbeitet hatte, dachte ich, mein Sohn habe psychische Probleme und dass ich mit ihm zum Arzt gehen müsse. Aber er war ziemlich entschlossen und versicherte mir: ‚Mama, es geht mir gut, ich bin mental gesund. Ich habe kein Problem. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du mich zum Arzt bringen. Aber ich kann dir sagen, der Arzt weiß nicht so viel über Homosexualität wie ich.’ Mein Sohn hatte einiges an Material vorbereitet, das er mir zeigte. Darunter war eine Reportage von Chai Jing5 und der Film ‚Der pietätlose Sohn‘ (Niezi 孽子, 1986/2003)6. Das hat mir ein Grundverständnis von Homosexualität vermittelt. Er ist mein Sohn, es ist meine Pflicht, ihn so zu akzeptieren und ihn zu beschützen. Deshalb wollte ich damals niemandem etwas davon erzählen. Ich dachte, ich würde sein Geheimnis mit ins Grab nehmen … Schaut her, heute wissen es alle. Ich will ihnen zeigen, dass homosexuelle Menschen genauso wie wir sind. Sie sind ganz normale Menschen.“
Quelle: Jiang, Ashley (2020): „悬停HovERing“, OutChina, Episode 2, abrufbar unter: https://www.chinalgbt.org/hovering [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Xiaoxin Baba
- Vater von Xiaoxin (homosexueller Sohn) und Schwiegervater von Xiaotao (Xiaoxins Partner)
- Aus Guizhou
- Laut seiner Frau hat er seinen Sohn innerhalb von 30 Minuten akzeptiert, sie beschreibt ihren Mann deswegen als außergewöhnlich
„Unser traditionelles Denken ist auf Nachkommen fixiert. Von Männern wird erwartet, dass sie Frauen mögen. Sie sind zwar in der Minderheit, aber da diese Community existiert, stehen sie im Konflikt mit unseren Vorstellungen. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, diese Problematik zu verstehen wenn sich ein Konflikt ergibt. Ich habe meinen Sohn nicht direkt akzeptiert. Ich war sehr deprimiert. Zwanzig Minuten nach dem Coming-out hat Xiaoxins Mama [meine Frau] angefangen zu weinen. Meine Gefühle überkamen mich, also habe ich auch geweint. Ich teilte den Schmerz meines Sohnes. All die Jahre musste er diese Last ganz alleine tragen. Er konnte seinen Eltern nichts sagen. Erst mit 30 hat er sich geoutet. Also rief ich ihn zu mir und sagte: ‚Sohn, du hast all die Jahre viel durchgemacht. Dein Vater weiß das. Ich verstehe dich, unterstütze dich und respektiere dich.‘“
Quelle: Jiang, Ashley (2020): „悬停HovERing“, OutChina, Episode 3, abrufbar unter: https://www.chinalgbt.org/hovering [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
Ye Mama
- Mutter von Ye (homosexuelle Tochter)
- Aus Hangzhou
- Da es kein offenes Gespräch zwischen ihr und ihrer Tochter gab, litt sie sehr unter der Situation und konnte nur schwer verarbeiten, dass ihre Tochter homosexuell ist
„Sie musste sich vor mir outen, weil ich entdeckt habe, dass sie jemand auf QQ [ein Instant-Messenger] ‚Ehemann‘ nannte. Also fand ich es heraus. Ich dachte, meine Tochter habe psychische Probleme und ich bin mit ihr in ein großes Krankenhaus gegangen. Der Arzt sagte: ‚Ihre Tochter ist als Homosexuelle geboren.‘ Trotzdem konnte ich es wirklich nicht glauben. Mein Mann und ich sind doch beide heterosexuell. Wir sind eine heterosexuelle Familie. Wie kann sie dann homosexuell sein? Damals habe ich nicht aufgegeben. Ich wollte sie umdrehen, dass sie auf unsere Seite kommt. Drei Jahre später erzählte sie mir, dass sie einen Mann date und ich war total aufgeregt. Sie zeigte mir ein Foto von ihm auf dem Handy. Er kam aus ähnlichen Verhältnissen wie meine Tochter. Es war eine großartige Hochzeitszeremonie. Ich dachte damals, wenn sie erst einmal die Hochzeitsurkunde in der Hand halten, dann ist es echt. Aber das gute Gefühl hielt nicht lange an. Ich bekam den Eindruck, dass die beiden nicht intim miteinander waren. Sie hatten ein sehr großes Bett und schliefen weit entfernt voneinander. Meine Tochter hatte auch immer lange Hosen an. Sie ist eine T [Tomboy]. Ich habe mich aber nicht getraut, irgendwelche Fragen zu stellen. Als ich eines Tages in ihrer Wohnung war, um beim Putzen zu helfen, fand ich unter dem Bett eine blaue Sporttasche. Sie war sehr verstaubt. Darin fand ich ein Tagebuch und ich habe es geöffnet. Darin stand in der Handschrift meiner Tochter: ‚Um in der Zukunft ein besseres Leben zu haben, entscheide ich mich für eine kooperative Ehe.‘ [xinghun 形婚] Da habe ich zum ersten Mal diesen Ausdruck gehört. Außerdem fand ich in dem Buch einige Fotos von ihr und ihrer Freundin. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich war sehr deprimiert, aber habe so getan, als wüsste ich es nicht. Ich litt wirklich sehr darunter … ich ging zu einem Psychologen, er sagte mir ich solle versuchen, weiterhin mit meiner Tochter zu kommunizieren. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und schrieb ihr auf WeChat: ‚Egal was du bist, du bist meine einzige Tochter, Mama muss dich bedingungslos akzeptieren.‘ Es hat sechs Jahre gedauert, bis ich so weit war. So viel Leid und Schmerz. Ich war ganz allein auf mich gestellt.“
Quelle: Jiang, Ashley (2020): „悬停HovERing“, OutChina, Episode 4, abrufbar unter: https://www.chinalgbt.org/hovering [zuletzt eingesehen am 26.01.2021].
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