
Queer in China – Ein Angriff auf die kindliche Pietät?
Thematische Einführung
Familie wird in China großgeschrieben. In den vergangenen Jahrhunderten spielte eine konfuzianische Tugend, die kindliche Pietät (xiao 孝), im Rahmen der Familienstrukturen eine besonders wichtige Rolle. Gemeint ist damit, dass ein Kind den Eltern und Großeltern, solange diese am Leben sind, Respekt und Rücksicht entgegenbringen muss (mehr dazu siehe unten). Auch heute ist das Konzept noch von großer Relevanz und seine Einhaltung wird von den meisten chinesischen Eltern vorausgesetzt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sie von ihren erwachsenen Kindern erwarten, eine Familie zu gründen. Da innerhalb der sozialen Norm eine Familie allerdings einzig aus Vater, Mutter und Kind(ern) bestehen kann, entsteht ein immenser Druck auf queere Menschen in China – sogenannte tongzhi (同志).1In seiner eigentlichen Bedeutung meint der Begriff tongzhi (同志) gemeinsamer Wille, gemeinsame Ideale und Ziele. Daraus wurde im sozialistischen Gebrauch Kamerad*in, Genoss*in. Der Ausdruck hat eine lange Geschichte in China und wurde im Laufe derer in unterschiedlichen Kontexten verwendet (siehe dazu Glossar). Im Rahmen der LGBTIQ*-Bewegung im Taiwan der 1990er-Jahre hat sich tongzhi als Selbstbezeichnung für Mitglieder der chinesischen queeren Community durchgesetzt und ist heute auch in der VR China gebräuchlich.
Die Familiengründung wird weiterhin als essenziell angesehen, da das Prinzip der Altersversorgung bis heute auf dem Konzept der kindlichen Pietät basiert. Aufgrund mangelhafter Sozialsicherungssysteme lastet die Altenpflege noch immer größtenteils auf der Familie. Zugespitzt hat sich die Situation durch ein als „4-2-1 Problem“ bezeichnetes Phänomen, das infolge der Einführung der Ein-Kind-Politik (yihai zhengce 一孩政策) im Jahr 1979 und der extrem schnell verlaufenden Verlängerung der Lebenszeit innerhalb der letzten 25 Jahre in China entstanden ist (Messner 2017, 32). Das „4-2-1 Problem“ beschreibt, dass gegenwärtig theoretisch eine einzige Person „für zwei alternde Elternteile und für vier Großelternteile sorgen“ müsste, da nun die erste Generation von Eltern der Ein-Kind-Familien in Rente geht (Messner 2017, 32). Die im Jahr 2015 geänderte Bevölkerungspolitik Chinas, die es heterosexuellen Paaren erlaubt, zwei Kinder in die Welt zu setzen, könnte die Problematik in Zukunft entschärfen. Weitere Lockerungen hinzu Drei-Kind-Familien wurden im Mai 2021 verkündet, um der Überalterung der chinesischen Gesellschaft entgegenzuwirken.
Um dem sozialen Druck standzuhalten und die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, die sich nichts sehnlicher als ein Enkelkind wünschen, führen viele queere chinesische Menschen ein Hetero-Leben. Nach außen hin wahren sie den Eltern zuliebe den Schein und sind oft nur im Freundeskreis geoutet. Gleichgeschlechtliche Paare sind besonders von dem Konzept der kindlichen Pietät betroffen, weil es ihnen in China nicht erlaubt ist, Kinder zu adoptieren (UNDP und USAID, 2014: 43), geschweige denn mittels Reproduktionsmedizin andere Arten der Familiengründung wie Leihmutterschaft, künstliche Befruchtung oder Eizellenspende anzuwenden. Für queere Menschen in China stellt sich also die Frage, ob sie den alternden Eltern gegenüber – in Form einer heterosexuellen Scheinehe mit Nachkommen – ein Höchstmaß an Achtung und Fürsorge entgegenbringen wollen, auch wenn dies bedeutet, auf die individuelle Entwicklung zu verzichten und die eigene Identität zu verstecken, oder ob es auch andere Wege gibt, ein pietätvolles (erwachsenes) Kind zu sein, die sich besser mit dem Queersein vereinbaren lassen.
Im vorliegenden Modul werden verschiedene Facetten des Alltagslebens queerer Menschen im gegenwärtigen China präsentiert: Die Rolle, die das familiäre Umfeld in der Frage eines Coming-outs spielt, Formen der Unterstützung außerhalb der Familie, Optionen der Selbstorganisation sowie die Möglichkeiten, die sich durch die Nutzung des Internets für die Gestaltung des Privatlebens ergeben haben. Der Schwerpunkt des Moduls liegt dabei auf der Situation in der Volksrepublik China (VR China), wobei an manchen Stellen aber auch Hongkong und Taiwan sowie die chinesische Diaspora im Ausland miteinbezogen werden.
Queer in China: Fokus Recht im Alltag
Zwischen 1949 und 1997 wurde Homosexualität strafrechtlich verfolgt und Betroffene waren als nicht-sozialistische Elemente „Säuberungskampagnen“ ausgesetzt. Offiziell fiel vorwiegend die männliche Homosexualität seit 1979 unter das Gesetz gegen sogenannte „Hooliganismus-Verbrechen“ (liumangzui 流氓罪), das zur Bestrafung von unsittlichem Benehmen diente (Worth et al. 2019: 42–45). Erst in der Phase, in der das gesellschaftliche Leben sich in eine liberalere Richtung entwickelte, wurde 1997 gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr in China entkriminalisiert. Im Jahr 2001 strich die Chinesische Gesellschaft für Psychiatrie (Zhonghua Yixuehui Jingshenbingxue Fenhui 中华医学会精神病学分会) Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten (CCMD-3).
Dennoch gibt es heute nach wie vor kein Gesetz, das queere Menschen vor Diskriminierung schützt. (Schneider-Vielsäcker 2018, siehe Erklärvideo M0). In einem Bericht aus dem Jahr 2017 informierte die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch darüber, dass die oft vom familiären Umfeld veranlassten Konversionstherapien weiterhin auch gegen den Willen queerer Menschen durchgeführt werden (Human Rights Watch 2017).
Die queere Szene, die sich auf dem Festland seit den späten 1990er-Jahren entwickelt und ab der ersten Dekade des neuen Millenniums vor allem in größeren Städten verfestigt hat, berichtete zuletzt – wie viele andere chinesische zivilgesellschaftliche Organisationen auch – von schwieriger werdenden Bedingungen: So hat zum Beispiel die mehrtägige LGBTIQ*-Veranstaltung ShanghaiPRIDE 2020 unmittelbar nach Abschluss des Festivals beschlossen, aus Gründen des Selbstschutzes für die Engagierten viele ihrer Aktivitäten bis auf Weiteres zu stoppen. (Jiang 2020)
Einen ersten Versuch, die Legalisierung der Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare zu erwirken, startete die Sexologin Li Yinhe 李銀河 (1952– )2Li Yinye 李銀河 (1952– ) ist eine chinesische Sozialwissenschaftlerin, die sich für die Rechte von queeren Menschen in der VR China einsetzt. im Jahre 2003 (Hildebrandt 2011, 1313; siehe auch Abb. 1). Nach Ablehnung ihres Vorschlags legte Li ihre Forderung nach einer Änderung des Ehegesetzes mehrere Male vor – bisher jedoch erfolglos. Im Jahr 2019 wurde das Anliegen im Vorlauf zu den 2020 verabschiedeten Änderungen am Zivilgesetzbuch vom Nationalen Volkskongress erneut abgewiesen. (Zeit online/Reuters/dp 2019) Anders in Taiwan: Im Mai 2019 implementierte das taiwanische Parlament die im Mai 2017 beschlossene Gesetzesänderung, durch die erstmals die Heirat von gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglicht wurde. Dadurch nimmt Taiwan eine Vorreiterstellung in Asien ein. Der Beschluss zur Eheöffnung in Taiwan ist insbesondere für die LGBTIQ*-Community in der VR China von großer Bedeutung, denn dieser wichtige Schritt beweist, dass die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Paare in der chinesischen Kultur möglich ist, und gibt somit vielen queeren Menschen auf dem Festland Hoffnung (Li 2017). Zahlreiche Presseberichte aus der Zeit unmittelbar nach dieser Gesetzesänderung berichteten davon, dass Homosexuelle in Taiwan von den neuen Regelungen regen Gebrauch machten (Fornahl 2019).
Queer in China: Fokus Entstehung der Tongzhi-Identität
Nicht nur in rechtlichen Belangen ist Taiwan wegweisend, in der Entwicklung der LGBTIQ*-Community in der VR China spielte die queere Bewegung im Taiwan der 1990er-Jahre ebenfalls eine entscheidende Rolle. Ähnlich einflussreich waren auch die Entwicklungen in Hongkong. Ein kultureller Austausch zwischen Taiwan, Hongkong und China fand – und findet heute noch immer – in dieser entscheidenden Zeit der Entstehung einer chinesischen queeren Identität statt. Bevor die Menschen in China Zugang zum Internet hatten (dieses wurde 1995 eingeführt), gelangten chinesisch-sprachige, kulturelle Texte über Homosexualität – zumeist Literatur und Filme – von Taiwan und Hongkong im Gepäck von Reisenden in chinesische Städte auf dem Festland (Kam 2012, 22). Auf diese Weise konnten queere Menschen in der VR China von der lesbischen und schwulen Community in anderen chinesischen Gesellschaften lernen. Einer dieser prägenden Texte ist der im Jahr 1983 veröffentlichte Roman „Der pietätlose Sohn“ (Niezi 孽子) des bekannten taiwanischen Schriftstellers Pai Hsien-yung 白先勇 (1937– ). Die Handlung ist im Taiwan der 1960er-Jahre verortet und erzählt von einem Jugendlichen, der aufgrund seiner Beziehung zu einem Mitschüler zuerst der Schule verwiesen und anschließend von seinem Vater ausgestoßen wird. Der Roman gilt als Klassiker der chinesischen queeren Literatur. (Huang 2011: 114–117, 139) Der Titel des Romans suggeriert, dass nicht-heterosexuelle Menschen in der chinesischen Kultur als Personen angesehen werden, die ihren Eltern gegenüber keine kindliche Pietät zeigen, und somit als pietätlos stigmatisiert werden.
Warum also die queere Kultur in Taiwan und Hongkong einen größeren Einfluss auf die Formierung einer LGBTIQ*-Community in China hatte als die westliche queere Kultur, lässt sich durch die kulturelle Nähe der VR China zu Taiwan und Hongkong sowie durch die einfachere sprachliche Zugänglichkeit erklären (Kam 2012, 22). Dies zeichnet sich auch in der Etablierung einer chinesischen queeren Terminologie zur Selbstbezeichnung queerer Menschen ab. Ende der 1990er-Jahre wurden Begrifflichkeiten wie tongzhi (同志) und lala (拉拉), die dem queeren Diskurs in Taiwan und Hongkong entstammen, auf dem Festland eingeführt (Chou 2000, 1–2; Engebretsen, 2014, xv-xvi; Kam 2012, 22). Als Selbstbezeichnung für die Mitglieder der chinesischen queeren Community tauchte tongzhi – was in der ursprünglichen politischen Bedeutung Genoss*in meint und unter Mao Zedong 毛泽东 (1893–1976) als Anrede für Frauen und Männer diente – erstmals 1989 im Rahmen des ersten Lesbisch-Schwulen-Filmfestivals in Hongkong auf (Chou 2000, 2). Kurz darauf etablierte sich der Gebrauch durch die queere Bewegung in Taiwan, von wo aus sich der neu belegte, von der LGBTIQ*-Community beanspruchte Begriff tongzhi in der VR China verbreitete. Tongzhi stiftet mithin eine Gruppenidentität der chinesischen queeren Community über die Landesgrenzen hinaus. Vergleichbar entwickelte sich lala aus der queeren Kultur Taiwans, abgeleitet von der Bezeichnung lazi (拉子) für homosexuelle Frauen hinzu der Transkription des englischen Begriffs lesbian (Kam 2012, 22). Lazi geht wiederum auf den Namen der homosexuellen Protagonistin aus dem kulturprägenden Roman „Aufzeichnungen eines Krokodils“ (Eyu shouji 鳄鱼手记, 1994) der taiwanischen Autorin Qiu Miaojin 邱妙津 (1969–1995) zurück.3In deutscher Übersetzung von Martina Hasse ist Qiu Miaojins Roman 2020 im Ulrike Helmer Verlag erschienen. Siehe Qiu, Miaojin. Aufzeichnungen eines Krokodils. Übersetzt von Martina Hasse. Roßdorf bei Darmstadt: Ulrike Helmer Verlag, 2020. Der Roman porträtiert lesbisches Begehren aus der Perspektive der Studentin Lazi, deren Liebe zu einer Kommilitonin ihren Platz in der Gesellschaft infrage stellt und dadurch einen inneren Konflikt auslöst.4Der innere Konflikt der Protagonistin Lazi zeigt sich darin, dass sie gleichermaßen von Leidenschaft und Selbstzweifeln erfüllt ist. Scham und schmerzliche Gefühle treiben sie in ein selbstzerstörerisches Verhalten. Durchbrochen ist die Handlung von Episoden, die von einem sich als Mensch tarnenden Krokodil erzählen, das von anderen geliebt und anerkannt werden möchte. Sinnbildlich steht es für all jene Individuen, die sich im Taiwan der 1980er- und 1990er-Jahre für das Anderssein ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verstecken mussten.
Chinesische Selbstbezeichnungen wie tongzhi und lala verweisen auf eine Intersektion der queeren Identität und der chinesischen Identität. Denn die Erfahrungen einer queeren chinesischen Person weichen deutlich von denen des Queerseins in westlichen Kulturen ab, was an den komplexen Eltern-Kind-Beziehungen, welche auf dem Verständnis von und der Forderung nach kindlicher Pietät basieren, festgemacht werden kann. Dementsprechend sind englischsprachige Begriffe wie queer und gay nicht als vollständig äquivalent zu tongzhi zu betrachten, da diese es nicht vermögen, die Erfahrung eines queeren Individuums im sozio-kulturellen Kontext chinesischer Gesellschaften abzubilden.
Queer in China: Fokus Geschichte
Was heute kaum noch in China bekannt ist: In der Kaiserzeit wurde männliche Homosexualität in der Elite toleriert. Als akzeptabel galten gleichgeschlechtliche Verbindungen zumindest so lange, wie sie einzelne Personen nicht davon abhielt, im Rahmen einer heterosexuellen Partnerschaft Nachkommen zu zeugen (siehe Erklärvideo M0). Dokumentiert sind Biografien berühmter Persönlichkeiten, die ihrer Neigung unter der zuvor genannten Prämisse öffentlich nachgingen wie beispielsweise Kaiser Han Aidi 汉哀帝 (27–1 v. Chr.). Im klassischen Chinesisch gab es keinen medizinischen oder wissenschaftlichen Begriff für Homosexualität. Hingegen kursierte eine Vielzahl an poetischen Ausdrücken, die Homosexualität nicht im Sinne von sexueller Identität, sondern das Handeln oder die Präferenzen einer Person beschreiben. Aus diesem Verständnis heraus sind die gleichgeschlechtlichen Beziehungen, die sowohl chinesische Kaiser als auch Gelehrte neben ihren heterosexuellen Ehen unterhielten als homosexuelle beziehungsweise vielmehr als bisexuelle Praktiken zu verstehen (Hinsch 1990, 7). Entsprechend dem Prinzip von Yin und Yang (阴阳) wurden diese bisexuellen Beziehungen als nichts Bedenkliches angesehen.
Durchaus besteht heute aber auch Uneinigkeit darüber, ob man das alte China tatsächlich deswegen als tolerant ansehen darf. So wird zum Beispiel angeführt, dass die praktizierte Form einer stillschweigenden Toleranz eine speziell chinesische, homophobe Form der Übergriffigkeit gewesen ist, die sich (besonders seit der Zeit des Neokonfuzianismus ab dem 11. Jahrhundert) über eine Rhetorik der kosmischen Harmonie (hexie 和谐) äußerte und zugleich mit einer Verbannung alles Sexuellen ins Private verbunden war (Engebretsen 2014, 67). Strategien der Anpassung an die angenommene „Normalität“, so die Annahmen, können nicht wirklich zu einer dauerhaften Befreiung beitragen.
Mit dem Wissen, dass während der Kaiserzeit über mehrere Jahrhunderte gleichgeschlechtliche Beziehungen offen geführt werden konnten, drängt sich die Frage auf, wie es bezüglich des Verständnisses von Homosexualität zu einem epistemischen Bruch in der chinesischen Geschichte kommen konnte. Die heute überwiegende Intoleranz, gar Ignoranz gegenüber den von der Norm abweichenden sexuellen und geschlechtlichen Identitäten wurzelt allerdings nicht in der chinesischen Kultur, sondern ist tatsächlich ein Importprodukt aus dem Ausland. Im auslaufenden 19. Jahrhundert wurden westliche Konzepte und Werte mit dem Ziel der Modernisierung des Landes übernommen. So wurde beispielsweise das christliche Schamgefühl nach China eingeführt und die Wahrnehmung von Homosexualität als etwas Abnormales im chinesischen Denken verankert. Aufgrund der wachsenden Exposition mit westlichen Moralvorstellungen, westlicher Sexologie und aufgrund des Mithaltenwollens mit dem Westen verschärfte sich die Sittenstrenge im 20. Jahrhundert: „Und genau deswegen wurde Sex plötzlich zum Objekt biopolitischer Kalkulation und Manipulation. Man wollte gesunde Körper für eine gesunde Bevölkerung für eine starke chinesische Nation“ (Kierst 2019). Homosexualität wurde „(…) nun zur Abweichung, die es zu korrigieren galt. Wenn darüber gesprochen oder geschrieben wurde, dann wie über eine Krankheit“ (Kierst 2019).
Queer in China: Fokus kindliche Pietät
Was verbirgt sich hinter dem Konzept „kindlicher Pietät“ (xiao 孝)?
Kindliche Pietät ist eine der Kardinaltugenden des Konfuzianismus (Darimont 2005, 6). Im klassischen Konfuzianismus verband sich damit die Idee, dass jemand, der die Unterordnung unter die eigenen Eltern akzeptiert, auch eher selten oder gar nicht gegen staatliche Hierarchien aufbegehren oder diese infrage stellen wird. Ein Schüler des Konfuzius drückt dies im zentralen konfuzianischen Werk „Gespräche“ (Lunyu 論語) wie folgt aus: „Nur wenige, die Kindespietät (xiao 孝) und Bruderachtung (ti 悌) zeigen, attackieren gerne ihre Vorgesetzten“5Im chinesischen Original: 其為人也孝弟,而好犯上者,鮮矣;不好犯上,而好作亂者,未之有也。(Ctext 2021, online abrufbar unter: https://ctext.org/confucianism?searchu=孝#n1103 [zuletzt eingesehen am 24.08.2021]) (Ctext 2021, übersetzt von Stefanie Elbern). Damit hatte xiao zunächst eine stabilisierende Funktion innerhalb der gesamten Gesellschaft. (Roetz 2016, 26)
Das Phänomen der kindlichen Pietät schloss verschiedene Facetten ein, wobei für den vorliegenden Kontext vor allem eine respektvolle und zuvorkommende Haltung gegenüber den älteren Familienmitgliedern, hauptsächlich den Eltern, relevant ist. Kinder müssen die Pflege der Eltern übernehmen und ihnen gehorsam sein. (Roetz 2016, 53, 66) Mit diesen inner- und extrafamiliären Dimensionen prägt xiao bis heute verschiedenste Bereiche des Soziallebens in China: von der persönlichen Haltung gegenüber Autoritäten, der Selbstwahrnehmung, Hochzeitsbräuchen, Geschlechtspräferenz, dem emotionalen Leben und den sozialen Beziehungen bis hin zum Konzept der Altersversorgung (Roetz 2016, 26; Messner 2017, 32). So wurde beispielsweise Ende 2012 das „Gesetz zum Schutz der Rechte und Interessen älterer Menschen“ dahingehend geändert, dass erwachsene Kinder dazu verpflichtet wurden, „ihre ‚bejahrten‘ Eltern ‚oft‘ zu besuchen. Andernfalls haben ältere Menschen nun das Recht, ihre Kinder zu verklagen“ (Krawczyk 2013). Die gesellschaftliche Realität, in der die Lebensräume von Eltern und Kindern nicht selten räumlich voneinander entfernt sind, erschwert die tatsächliche Umsetzung und ist mithin nicht völlig anders als die in Deutschland.
Tradiert wurden die Inhalte des Konzepts in beispielgebenden Geschichten über kindliche Pietät, die zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Zusammenstellungen in allen sozialen Schichten kursierten und sich sowohl an minderjährige wie auch an erwachsene Kinder richteten. Erzählt werden – mit inhaltlich über die Jahrhunderte abweichender Gewichtung – Geschichten von Kindern, die zugunsten der Eltern auf Dinge wie Essen, Kleidung, Karriere oder Reichtum verzichten, tief um sie trauern und dafür auf spiritueller Ebene entlohnt werden.
Über Jahrhunderte hinweg erschienen bildliche Darstellungen zu diesen Geschichten auf allen möglichen Kulturgegenständen und einzelne Geschichten wurden – häufig in Form von Biografien – auch in kaiserliche Annalen aufgenommen. Gutes Betragen wurde und wird auch heute noch in bestimmten sozialen Zusammenhängen daran festgemacht, wie man sich als Kind den Eltern gegenüber verhält. Mädchen und Frauen mussten sich vor allem dann als pietätvolle Töchter beweisen, wenn kein Bruder diese Aufgabe an ihrer statt übernehmen konnte. Dies trifft gerade heutzutage auf junge Frauen zu, die während der Ein-Kind-Politik als Einzelkind groß wurden (Mittler 2013, 202–203).
Zugleich haben die Geschichten über pietätvolles Verhalten von Kindern, die tradiert wurden, in China spätestens seit den letzten Jahren des Kaiserreiches Kritik ausgelöst, so zum Beispiel bei Lu Xun 鲁迅 (1881–1936), einem der Väter der modernen chinesischen Literatur, der sich lebhaft daran erinnert, wie diese Geschichten ihn selbst als Kind eingeschüchtert haben (Knapp 2005, 1– 9).
Die uneingeschränkte Befolgung des elterlichen Willens, die bis heute in der chinesischen Bevölkerung wie auch in der westlichen (nicht-wissenschaftlichen) Sicht auf den Konfuzianismus vereinfachend als zentral angenommen wird, ist allerdings, in der Deutung des Sinologen Heiner Roetz innerhalb der konfuzianischen Lehre keineswegs sakrosankt. Auch werden Zweifel daran geäußert, dass das gegenüber homosexuellen jungen Erwachsenen vielfach bemühte Konzept „Unter den drei gröbsten Verstößen gegen die Pietät gegenüber Eltern und Ahnen ist Kinderlosigkeit der größte Verstoß“ (buxiao yousan, wuhou weida 不孝有三,无后为大) tatsächlich korrekt aufgefasst wird, wenn es ausschließlich auf das Zeugen eigener Nachkommen hin festgelegt wird. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit sei, Kinderlosigkeit (wuhou 无后) im weiteren Sinne zu verstehen als die Sorge um die Nachkommen der gesamten Familie, da die queeren Kinder eben zumeist Einzelkinder sind und somit die einzige Hoffnung der Eltern auf Enkelkinder (vgl. Interview mit Damien Lu, ergänzendes Material M5 im Anhang). Finden sie heraus, dass ihr Kind homosexuell ist, ist die Hauptsorge der Eltern jedoch in der Tat das mögliche Ausbleiben von Enkelkindern (Wang et al. 2009, 286).
Festzuhalten bleibt, dass trotz dieser theoretisch begründeten Freiräume die familiäre Forderung nach Beachtung der Vorgaben kindlicher Pietät familiäre Bindungen bis heute prägt und insbesondere für queere Menschen weitreichende, negative Folgen für die persönliche Lebensgestaltung und das Wohlbefinden haben kann.
Forschungsperspektiven
Anfang der 2000er-Jahre machte die Forschung zu Homosexualität in China – im In- und Ausland – einen gewaltigen Sprung. Zahlreiche Studien nutzten die Gunst der Stunde, als mehr Informationen zugänglich und die Kommunikation mit einzelnen Personen vereinfacht wurden. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch die Entstehung sozialer Medien und die Entwicklung einer queeren Szene in den Großstädten. Zudem kam es in dieser Zeit zumindest zeitweise nur geringfügig zu politischen Einschränkungen in Forschungsvorhaben zu diesen Themen.
In seiner richtungsweisenden Studie befasst sich Chou (2000) damit, wie sich die Einstellung gegenüber Homosexualität in China im Laufe der Zeit wandelte. Er beschreibt dabei die Entwicklung vom traditionellen Verständnis gleichgeschlechtlicher Erotik während der chinesischen Kaiserzeit über die mangelnde Toleranz während der Republikzeit bis hin zum rechtlichen Diskurs der 1980er- und 1990er-Jahre. Abgesehen von der historischen Entwicklung stehen die kulturelle Konstruktion der Tongzhi-Identität (tongzhi 同志) und deren Aushandlung im privaten wie öffentlichen Raum im Fokus von Chous (2000) Forschungsarbeit. Dabei geht er besonders auf regionale Unterschiede zwischen dem Festland, Taiwan und Hongkong ein. Ergänzend dazu beschreibt Sang (2003) weibliches Begehren in der chinesischen Literatur von der Kaiserzeit bis zu der Zeit nach Mao Zedong 毛泽东 (1893–1976). Ähnlich wie Chous Werk gibt auch Sang (2003) einen Einblick in die Unterschiede zwischen der Volksrepublik Chna (VR China) und Taiwan.
Der weiblichen Homosexualität widmen sich ebenso Kam (2012), Engebretsen (2014) und Tang (2011): Ihre ethnographischen Studien beschäftigen sich mit dem Leben homosexueller Frauen des 21. Jahrhunderts in chinesischen Metropolen wie Beijing 北京, Shanghai 上海 und Hongkong (Xianggang 香港). Kam (2012) und Engebretsen (2014) ergründen Artikulationen sexueller Subjektivität, geschlechterspezifische Rollen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen unter Frauen, den familiären und sozialen Druck, „kooperative Ehen“ (xinghun 形婚) und Formen des queeren Aktivismus. Tang (2011) untersucht Räume, in denen sich homosexuelle Frauen in Hongkong bewegen und miteinander in Kontakt treten.
Bao (2018) hingegen bietet einen Einblick in die Situation männlicher Homosexueller in urbanen Gebieten, insbesondere Shanghai, Beijing und Guangzhou 广州. Auf dem Festland sind es gerade Großstädte wie diese, in denen die chinesische LGBTIQ*-Kultur entsteht. Bao (2018) beschreibt sie in seiner kulturwissenschaftlichen Analyse am Beispiel von queeren Filmfestivals und der LGBTIQ*-Veranstaltung ShanghaiPride. Ergänzt wird seine interdisziplinäre Arbeit durch ethnografische Daten.
In seiner jüngsten Studie untersucht Bao (2020) queere Literatur, Film und andere Formen visueller Kultur in China. Auch Liu (2015) analysiert queere Literatur und Kunst aus der VR China und Taiwan und zeigt dabei – entgegen der Annahme, beide Denkweisen würden einander ausschließen – die Verschränkung aus Marxismus und Queer-Theorie auf. In ihrem Sammelband erweitern Chiang und Heinrich (2014) den Rahmen der kulturwissenschaftlichen Betrachtung über die VR China, Taiwan und Hongkong hinaus nach Malaysia, Singapur und weitere Regionen der chinesischen Diaspora.
Einen Einblick in Transgender-Identitäten sowie deren gesellschaftliche Wahrnehmung und kulturelle Sichtbarkeit in der VR China und Taiwan gibt der Sammelband von Chiang (2010). UNDP und die China Women’s University (2018) bieten einen weitreichenden Überblick über die rechtliche Situation von Transsexuellen in China.
Die genannten Studien behandeln unter anderem folgende Fragestellungen: Wie wirken sich kulturspezifische Phänomene wie kindliche Pietät oder das chinesische Konzept der Gesichtswahrung auf das Leben queerer chinesischer Menschen aus? Wie gehen queere chinesische Menschen mit ihrer Situation um? Welche Strategien entwickeln sie? Wirken sich die patriarchalisch geprägten Anforderungen auf weibliche und männliche Homosexuelle unterschiedlich aus? Liegt entsprechend ein größerer sozialer Druck auf homosexuellen Männern oder auf Frauen? Welche Rolle spielt der soziale oder wirtschaftliche Status von queeren chinesischen Menschen insbesondere auf die Frage des Coming-outs?
Verwendete Literatur
Lernziele/Kompetenzen
Methodische Kompetenzen: Die Schüler*innen ...- können Informationen aus Texten und Videos herausarbeiten und sich aufgrund dieser in die Perspektive anderer Personen hineinversetzen.
- können die Perspektive anderer im Rahmen ihrer Fähigkeiten sprachlich und sachlich angemessen darstellen.
- werden zu Toleranz, Akzeptanz und Einfühlungsvermögen angeregt.
- sich kreativ mit verschiedenen Coming-out-Erfahrungen auseinandersetzen und dabei unterschiedliche Lebensentwürfe und die Vielfalt sexueller Identität akzeptieren.
- sich eigene und fremde Wertorientierungen in ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung bewusst machen, würdigen und reflektieren.
- Generationenkonflikte bzgl. der persönlichen Lebensgestaltungin China analysieren und charakterisieren.
- das Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und sozialen Erwartungen in China beschreiben und mit der Situation in Deutschland vergleichen.
- sich der „kindlichen Pietät“ als Teil des chinesischen Wertekanons und den daraus resultierenden Verhaltensweisen bewusst werden und kulturelle Unterschiede kritisch hinterfragen.
- Sowohl die Gruppenarbeiten, insbesondere das Rollenspiel, als auch die Diskussionen im Plenum fördern die sozialen Kompetenzen der Schüler*innen.
Didaktisch-methodischer Kommentar
Der vorliegende Unterrichtsvorschlag präsentiert die These, dass queere Menschen in der chinesischen Gesellschaft innerfamiliär einem hohen Druck ausgesetzt sind, der aus einer bestimmten Interpretation des Konzepts kindlicher Pietät (xiao 孝) resultiert. Die Lebensrealität von queeren chinesischen Menschen wird außerdem davon bestimmt, dass der Staat zwar stigmatisierende rechtliche Vorgaben aufgehoben hat, nach wie vor aber gleichgeschlechtliche Partnerschaften trotz entsprechender Bemühungen von Einzelpersonen und Interessensvertretungen nicht legalisiert und keinen weitergehenden rechtlichen Schutz vor Diskriminierung bietet. Familie wird somit als ausschließlich heterosexuelle Beziehung mit Kind(ern) definiert.
Ein thematischer Einstieg ist durch einen Videoausschnitt (M1) gegeben, der die familiäre Problematik aus der Perspektive zweier homosexueller Frauen darstellt. Das Gesehene soll im Anschluss in Murmelgruppen diskutiert und mit den eigenen Erfahrungen mit queeren Menschen oder dem bisherigen Wissen über die Situation queerer Menschen in Deutschland verglichen werden.
Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema werden Internetquellen herangezogen (M2, M3), in denen persönliche Erfahrungen queerer Menschen aus China geteilt werden. Das Material eröffnet den Raum, das Internet als zentrales Kommunikationsmittel in einem Umfeld wahrzunehmen, das für persönliche Meinungsäußerungen zu politisch als sensibel eingestuften Themen ansonsten sehr eingeschränkt ist (siehe dazu auch das Modul „Great Firewall“).
Eine Vertiefung der Thematik bietet ein Rollenspiel (M 4), bei dem die Schüler*innen eine queere Person bzw. ein Elternteil verkörpern und deren Haltung zu den Themengebieten sozialer Druck, gesellschaftliche Akzeptanz, Coming-out, Eheschließung und Familiengründung in einem Gespräch mit den Mitschüler*innen einnehmen sollen. Die Personenprofile und Zitate stammen aus ethnografischen Studien zur queeren chinesischen Community (Interviews) und aus audiovisuellen Dokumentationen (Internetquellen). Die Figuren des Rollenspiels basieren also auf realen Personen und deren Erfahrungen. Auf diese Weise erhalten die Schüler*innen ein tieferes Verständnis für die familiären und sozialen Herausforderungen im Leben queerer Menschen in China, behalten das Gelernte nachhaltig im Gedächtnis und lernen, andere – möglicherweise von der eigenen Meinung abweichende – Standpunkte zu vertreten und somit die eigene Einstellung zu hinterfragen.
Die Auseinandersetzung mit queeren Identitäten bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche und familiäre Einflüsse auf die persönliche Lebensgestaltung chinesischer und deutscher Jugendlicher zu reflektieren und damit Lebenswelten zueinander in Bezug zu setzen. Wenn das Thema tiefergehend bearbeitet werden soll (bis zu 180 Minuten), stehen ergänzende Materialien zur Verfügung, die den Diskussionsschwerpunkt in Richtung Diskriminierungserfahrungen am Beispiel von trans* und nichtbinären Menschen erweitern können.
Thematische Erweiterungsmöglichkeit: Transgender
Siehe Materialien unter Lerneinheit 5
Lerneinheit 5 dient zur thematischen Erweiterung und bietet mehrere alternative Materialien und Aufgaben zum Themenkomplex Transgender. Eine Einführung bietet das Erklärvideo (M5.1). Da in dem Video auch die Problematik von Depression, Suizidversuchen und Selbstverstümmelung infolge von verbaler und physischer Gewalt an trans* und nichtbinären Menschen thematisiert wird, ist es empfehlenswert, vor dieser Unterrichtseinheit eine Triggerwarnung auszusprechen. Die Schüler*innen, die von Darstellungen physischer Gewalt sowie mentaler Probleme und Suizidgedanken getriggert werden könnten, sollten Min. 2:27–3:12, 3:37–3:53 und 4:03–4:09 des Videos auslassen.
Zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen in China am Beispiel von trans* und nichtbinären Menschen dient eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie (M5.2), welche die institutionelle und interpersonelle Diskriminierung gegenüber trans* und nichtbinären Menschen in den Bereichen Familie, Gesundheitswesen, Bildungswesen und Arbeitsmarkt aufzeigt. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass trotz kultureller, gesellschaftlicher und institutioneller Unterschiede zwischen der VR China und Deutschland, die Diskriminierungserfahrungen chinesischer trans* Menschen in einigen Bereichen nicht unähnlich zu denen in Deutschland lebenden trans* Personen sind. Daraus lässt sich schließen, dass die die Diskriminierung auslösenden Faktoren in der VR China und in Deutschland zwar andere sind, sich die Diskriminierung allerdings auf emotionaler Ebene bei den davon betroffenen, chinesischen und deutschen trans* Menschen auf vergleichbare Weise auswirkt.
Ablauf
Weiterführende Informationen
Frederike Schneider-Vielsäcker
Inhalt
Autor*in
Frederike Schneider-Vielsäcker
2 Lernmodule
