Chinas Minderheitenpolitik – Infrage gestellte Harmonie
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55 Minderheiten, eine Mehrheit?
Lerneinheit 1: Patriotische Harmonie1 Material|1 Aufgabe -
Lerneinheit 2: Mehrheit und Minderheiten – eine Nation definiert sich3 Materialien|3 Aufgaben
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Die Autonome Region Xinjiang im Blick der WeltöffentlichkeitLerneinheit 3: Medien machen Meinung1 Material|1 Aufgabe
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Lerneinheit 4: Modularisierung: Facetten des Konflikts7 Materialien|8 Aufgaben
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M4.1: Tourismus als Gefahr?
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M4.2: Satellitenbild des Gartens der Xiangfei
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M4.3: Eine Botschaft an Deutschland: „Tatsachen über Xinjiang“
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M4.4: Worte weise wählen – Xinjiang und die Genozid-Frage
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M4.5: Xinjiang Data Project: Kulturelle Auslöschung
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M4.6: Wer profitiert? Textilindustrie in Xinjiang
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M4.7: „Zusammenführung von Verwandten“ – zwei Sichten
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M4.1: Tourismus als Gefahr?
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Lerneinheit 5: Persönliche Berichte von Uighur*innen – eine Zusammenstellung2 Materialien|2 Aufgaben
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Ergänzende Materialien2 Materialien|1 Aufgabe
M4.6: Profitieren europäische Unternehmen von Zwangsarbeit in Xinjiang?
Das Material ist ein Auszug aus einem Factsheet der deutschen Nicht-Regierungsorganisation Südwind: Zwangsarbeit in Xinjiang – Europäische Unternehmen profitieren von der Unterdrückung der Uigur*innen. Der Autor, Patrick Wulf, ist Geograph und hat als Werkstudent für Südwind e.V gearbeitet.
Zwangsarbeit in Xinjiang Europäische Unternehmen profitieren von der Unterdrückung der Uigur*innen
Die Autonome Region Xinjiang im Westen Chinas gehört zu den wichtigsten Baumwollanbauregionen der Welt. Seit Jahren ist bekannt, dass die dort lebende muslimische Minderheit – die Uigur*innen – massiv unterdrückt wird. Aktuelle Recherchen zeigen nun, dass Uigur*innen und andere Minderheiten in Xinjiang auch zur Arbeit in globalen Wertschöpfungsketten, u.a. der Textilproduktion, gezwungen werden. Damit besteht ein hohes Risiko, dass Textilien und Bekleidung, die in Europa verkauft werden, unter Einsatz von Zwangsarbeit hergestellt werden.
- Xinjiang – die zukünftig wichtigste Textil-Region Chinas
Seit Jahren wächst die Bedeutung Xinjiangs für die chinesische (und damit auch für die weltweite) Textilwirtschaft: mittlerweile werden mehr als 20 % der weltweit produzierten Baumwolle hier angebaut. Die chinesische Regierung ist sich dieser Bedeutung und Marktmacht bewusst und investiert seit dem Jahr 2011 in die Baumwollproduktion Xinjiangs, um – laut eigener Aussage - Arbeitsplätze zu schaffen und die Entwicklung der strukturschwachen Region zu fördern. Hierzu gehört seit dem Jahr 2014 ein für Xinjiang exklusives Baumwoll-Subventionsmodell: Alle drei Jahre legt die Regierung einen Mindestpreis fest und fällt der tatsächliche Marktpreis von Baumwolle unter diesen Wert, zahlt der Staat die Differenz an die Produzent*innen aus. Mit der massiven Subventionierung der Baumwollproduktion Xinjiangs löst China auch ein weiteres Problem: Seit Jahren steigen die Löhne an der Küste und im Inland Chinas. Anstatt ins Ausland abzuwandern, bewegten sich chinesische Produzent*innen in den Nordwesten des Landes, wo sie billige Arbeitskräfte und ein für den Baumwollanbau günstiges, trockenes und stabiles Klima erwartete. Die chinesische Regierung konnte so zum einen Arbeitsplätze schaffen, das strukturschwache Xinjiang fördern, chinesische Unternehmen stärken und die Baumwollproduktion im eigenen Land sichern. Außerdem kündigte die chinesische Regierung im Jahr 2014 die Unterstützung einer weiteren Westwanderung von Unternehmen an. Die Region sollte durch die Ansiedlung von Textilbetrieben gefördert werden, in denen die geerntete Baumwolle weiterverarbeitet werden kann. Im Einklang mit der Strategie zur Entwicklung von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Förderung von Xinjiang soll dort bis 2023 die größte Textilproduktion Chinas entstehen. Die Gründung von Industrieparks, billiger Strom, Transportsubventionen und Steuererleichterungen sollten den Aufbau einer vollständigen Textilwertschöpfungskette fördern. Der wirtschaftliche Erfolg der massiven Subventionen in Xinjiang wurde schnell deutlich. Seit 2014 ist die Produktion von Baumwolle um 130 % und die Produktion von weiterverarbeiteten Garnen und Stoffen um über 450 % gestiegen.
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- Unterdrückung der Uigur*innen
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Seit einigen Jahren berichten aber betroffene Zeug*innen, die meist ins Ausland geflohen sind, von einer systematischen, alle Lebensbereiche umfassenden Unterdrückung in Xinjiang. Grundlage der politischen Maßnahmen sind sogenannte Ausbildungs- und Umerziehungslager, die laut Aussage der Regierung für die berufliche Aus- und Weiterbildung genutzt werden. Zeug*innenaussagen und veröffentlichte Regierungsdokumente bestätigen jedoch, dass in den Lagern Angehörige der muslimischen Minderheiten eingesperrt und politisch indoktriniert werden. Insass*innen werden gezwungen, Mandarin zu lernen, die Nationalhymne zu singen und mehrmals am Tag an Unterricht in chinesischer Kultur teilzunehmen. In den Lagern leben die Menschen abgeriegelt von der Außenwelt, haben kaum Kontakt zu ihren Familien und werden oft mehrere Jahre festgehalten. Ungefähr eine Million Uigur*innen befinden sich in diesen Lagern oder offiziellen Gefängnissen in Haft. Gründe für die Inhaftierung können beispielsweise das Fasten oder die Schließung von Geschäften während des Fastenmonats Ramadan sein, aber auch die Beantragung eines Reisepasses, bestimmte Formen von Bartwuchs, die Benutzung ausländischer Messenger-Dienste, Verwandte im Ausland, zu viele Kinder oder das Ausüben religiöser Handlungen. (…)
- Zwangsarbeit der Uigur*innen
Anfang 2020 bestätigte eine australische Studie Gerüchte, die bereits seit 2018 kursieren: Die Uigur*innen werden zur Arbeit in internationalen Wertschöpfungsketten gezwungen. Zwischen 2017 - 2019 wurden mindestens 80.000 Uigur*innen zur Fabrikarbeit in verschiedene Provinzen Chinas gebracht. Offizielle Regierungsdokumente zeigen, dass die Regierung Xinjiangs Prämien für die Anstellung uigurischer Arbeiter*innen vergibt. Diese können beispielsweise online von Firmen bei privaten Vermittler*innen angefordert werden. Offiziell ist die Fabrikarbeit Teil der „Ausbildung“ von Uigur*innen, weshalb die Arbeitsstätten oftmals direkt in oder bei den Internierungslagern und Umerziehungslagern liegen. Wenn Uigur*innen in anderen chinesischen Provinzen arbeiten müssen, leben sie in staatlich finanzierten, isolierten Behausungen, die an die Fabriken angrenzen. Dort leben sie unter ständiger Überwachung. Religiöse Praktiken und der Kontakt zu Familien und Freund*innen sind ihnen verboten und sie erhalten Mandarin- und Kultur-Unterricht. Die Löhne, die sie für die erzwungene Arbeit erhalten, schwanken stark. Einige Arbeiter*innen bekommen gar keinen Lohn, andere wiederum erhalten eine Bezahlung, ihr Verdienst ist jedoch weitaus geringer als der ihrer Han-Kolleg*innen. Mit dieser Praxis können die Produktionskosten auch in den Provinzen mit ansonsten höheren Lohnkosten geringgehalten werden. Die Anstellung und Ausbeutung von Arbeiter*innen turkischer Minderheiten sichert Firmen somit eine günstigere Herstellung ihrer Produkte. Durch Auswertung von Satellitendaten, Zeug*innenaussagen und Regierungsdaten, konnte globalen Konzernen wie Apple, Samsung, Lenovo, BMW, Adidas, H&M oder Nike nachgewiesen werden, direkt oder indirekt von der Zwangsarbeit der Uigur*innen zu profitieren. Die Zwangsarbeit scheint dabei ein zentraler Bestandteil der chinesischen Pläne zur Stabilisierung und wirtschaftlichen Entwicklung der Autonomen Region Xinjiang zu sein. Sie wird sogar in der staatlichen Wirtschaftsförderung genutzt. Das zeigt sich z.B. in den sogenannten Partnerschaftsprogrammen zwischen Regionen innerhalb Chinas. Unternehmen aus anderen Provinzen Chinas können besonders gefördert werden, wenn sie einen Teil ihrer Produktion nach Xinjiang verlagern. Je nach Wirtschaftssektor profitieren die Firmen so von günstigerer Textilproduktion, günstigerem Abbau von seltenen Erden oder geringeren Kosten in der landwirtschaftlichen Produktion. Recherchen zeigen, dass auch in dieser staatlichen Wirtschaftsförderung Zwangsarbeit genutzt wird. Zwangsarbeit ist somit ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung in Xinjiang und betrifft mit hoher Wahrscheinlichkeit jede Branche in der Region und jedes Produkt, das dort hergestellt wird.
- Aktionsaufruf gegen Zwangsarbeit
Auf den Zusammenhang von Baumwolle, Textilprodukten und Zwangsarbeit in Xinjiang macht [seit 2020] ein Bündnis von rund 250 Organisationen aufmerksam, dem auch das SÜDWIND-Institut angehört. Obwohl der Zugang der Zivilgesellschaft zu Xinjiang von der chinesischen Regierung aktiv verhindert wird, konnten viele Fälle von Zwangsarbeit in der Textilwertschöpfungskette aufgedeckt werden. Die New York Times wies z.B. die Nutzung von Zwangsarbeit in der Produktion von Hygiene-Masken nach. Da textile Vorprodukte, die ganz oder teilweise in Xinjiang hergestellt wurden, nicht nur in China, sondern auch in anderen Ländern weiterverarbeitet werden, ist das Risiko der Zwangsarbeit noch umfassender als es zunächst scheint. Unübersichtliche Wertschöpfungsketten machen es dabei nahezu unmöglich, genau zu bestimmen, welche Textilien oder welche Kleidungsstücke betroffen sind. In einem globalen „Aktionsaufruf gegen Menschenrechtsverletzungen im Textil- und Bekleidungssektor in der uigurischen Autonomen Region Xinjiang“ ruft das zivilgesellschaftliche Bündnis deshalb alle Unternehmen mit globalen Wertschöpfungsketten auf, ihre Zulieferer zu prüfen und ihre Wertschöpfungsketten vollständig von Xinjiang zu lösen. Dazu sollen die Unternehmen eine Selbstverpflichtung unterzeichnen und innerhalb eines Jahres alle erforderlichen Maßnahmen umsetzen, um das Risiko der Zwangsarbeit bei der Herstellung ihrer Produkte zu eliminieren. Hierfür gibt es bereits Positivbeispiele von Unternehmen, die zumindest Schritte in die richtige Richtung gehen. So wies Adidas seine Zulieferer an, keine aus Xinjiang stammenden Garne mehr zu nutzen. Und bereits 2019 verkündeten Cotton On und Target Australia, in ihren Produkten keine Baumwolle aus Xinjiang mehr zu verwenden. Inwieweit diese Maßnahme tatsächlich ausreicht (und umgesetzt wird), bleibt abzuwarten.
Die verwendete Literatur ist abrufbar unter https://bit.ly/3mBA9Om
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mxj-l4-m4-6]
Weiterführende Informationen
Autor | Titel | Datum | Objektbeschreibung | Inhalt | Rechte | Einordnung |
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Autor*in: Patrick Wulf | Titel: Zwangsarbeit in Xinjiang - Europäische Unternehmen profitieren von der Unterdrückung der Uigur*innen | Entstehungsdatum & -ort: September 2020 | Objektbeschreibung: Factsheet | Thema/Bildinhalt: Baumwollindustrie in Xinjiang – Zwangsarbeit; Profite europäischer Unternehmen | Bildrechte: Südwind hat die Nutzung der Materialien gestattet. | Einordnung: Zur Einordnung der Inhalte des Materialtextes werden im Folgenden Informationen zur herausgebenden Organisation Südwind e.V. sowie zum Kernthema des Factsheets bereitgestellt: den Arbeitsbedingungen, denen Uigur*innen in- und außerhalb Xinjiangs unterliegen. Ferner wird das Maß an Zwang, das mit verschiedenen Formen der Arbeit verbunden ist, beurteilt. Ausgeweitet wird dies durch einen Blick auf die Frage der Verantwortung internationaler Unternehmen („Lieferkettengesetz“ in Deutschland) und schließlich eine Übersicht über Handlungsoptionen auf verschiedenen Ebenen (Staat, Unternehmen, Privatpersonen) geboten.
Über den Herausgeber des Materials:
Die deutsche Nichtregierungsorganisation Südwind e.V. (Herausgeber des Factsheet) arbeitet Spenden-finanziert sowie mit Hilfe staatlicher Fördermitteln daran, zu weltweiter wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit beizutragen (Selbstauskunft, Vereinswebseite https://www.suedwind-institut.de/verein.html). Auf der Grundlage von Studien und Factsheets, wie dem hier in M 4.5 verwendeten, möchte die Organisation „Instrumente und Handlungsmöglichkeiten für entwicklungspolitische Organisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Politik und Unternehmen“ entwickeln.
Arbeitsbedingungen in Xinjiang – zwei Perspektiven
Die chinesische Regierung hat ihre Sicht auf die Arbeitsbedingungen in Xinjiang in einem 2020 erschienenen Weißbuch festgehalten und reagiert auf internationale Vorwürfe mit dem immer gleichen Hinweis, es handele sich dabei um Lügen. In den Vordergrund gestellt werden vielmehr die Erfolge in der Armutsminderung. Laut Regierungsangaben sind in Xinjiang die Armutsraten auch in den vormals besonders betroffenen südlichen Regionen extrem gesunken. Beschäftigungsförderung im Rahmen von Transferprogrammen ist demgemäß eines der Kernelemente der Armutsminderung (Fang und Chen 09.04.2021; The State Council 2020). Das landesweit bereits seit den 1950er Jahren durchgeführte Programm für Provinzpartnerschaften (duikou zhiyuan 对口支援), das auch in Material M 4.5 erwähnt wird, umfasst für die Autonome Region Xinjiang Kooperationen mit 19 entwickelten Küstenprovinzen und -städten.
Der Austausch besteht konkret:
Der Erfolg bzw. Schwächen des Programms werden von chinesischen Wissenschaftler*innen diskutiert, so wird z.B. angemerkt, dass das für Bau- und Infrastrukturprojekte angeworbene Kapital nicht immer so genutzt wird, dass die lokale ethnische Kultur und Lebensgrundlagen Berücksichtigung finden. Bemängelt wird ferner, dass lokale Firmen nicht einbezogen werden und damit von den Investitionen auch nicht profitieren.
Basierend auf der Analyse von online eingesehenen wissenschaftlichen Arbeiten und Regierungswebseiten in China hat der für einen konservativen amerikanischen Thinktank als Senior Fellow in China Studies arbeitende deutsche Sozialanthropologe Adrian Zenz im März 2021 einen Bericht über Arbeitsbedingungen für Uigur*innen in- und außerhalb Xinjiangs erstellt, der Teile der Arbeiten anderer nicht-chinesischer Quellen (wie z.B. (Ruser u. a. 01.03.2020) aufgreift, zugleich aber darüber hinaus geht. Ein spezifischer Bericht über die für das Factsheet relevante Situation im Baumwollsektor erschien bereits Ende 2020 (A. Zenz 2020).
Diskutiert, aber oft nicht hinreichend voneinander unterschieden werden demnach verschiedene Formen von staatlich organisiertem Arbeitskräfteeinsatz. Innerhalb Xinjiangs erfolgen Verlagerungen von Insass*innen der sog. Umerziehungseinrichtungen in (oft nahegelegene) Fabriken während der Zeit der „Ausbildung“ und auch im Anschluss daran.
Dies geschieht seit etwa 2018 mit dem Ziel einer „gesellschaftlichen Resozialisierung“.
Ebenfalls innerhalb Xinjiangs werden Arbeitskräfte für Ernteeinsätze z.B. im Baumwollsektor entsendet sowie als Teil von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vom agrarischen Sektor in den tertiären Sektor abgeordnet, oft in ländliche Kleinbetriebe. Aus Xinjiang heraus erfolgen im Rahmen der oben beschriebenen Provinzpartnerschaften auf unterschiedlichen administrativen Ebenen (s. Material M 4.2 und Song u. a. 26.06.2019) Arbeitskräfte-Versendungen in andere Provinzen. Die Zielgruppen dieser letztgenannten Programme sind keine Insass*innen der „Trainingszentren“: Das Programm für Arbeitskräfte, die lokal keine Arbeit finden (rural surplus workers), besteht schon seit den frühen 2000er Jahren und schließt keine Inhaftierung in den nach 2018 entstandenen „Trainingszentren“ ein, wohl aber ggf. eine Ausbildung vor Abreise in regulären Berufsbildungszentren. Das Maß an Zwang im Sinne der Zwangsarbeit ist in diesen verschiedenen Programmtypen unterschiedlich stark ausgeprägt. Zur Beurteilung des Ausmaßes herangezogen werden können beispielsweise die Indikatoren für Zwangsarbeit des ILO-Übereinkommens 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO::P12100_ILO_CODE:C105. Allerdings muss insgesamt davon ausgegangen werden, dass die politischen Bedingungen die Möglichkeit zu einer „freien“ Entscheidung Betroffener für oder gegen die Teilnahme erheblich einschränken, wenn politisch missliebiges Verhalten zur „Umerziehung“ in „Trainingszentren“ führen kann. Parallel dazu gibt es auch Bestrebungen, die Zahl der in Xinjiang lebenden Han-Chines*innen noch weiter zu erhöhen, wofür Facharbeiter*innen aus Ostchina angeworben werden sollen. Zenz vermutet, basierend auf Publikationen von chinesischen Wissenschaftler*innen und Regierungsstellen, hinter diesen Bemühungen die Absicht, in uigurischen Siedlungsgebieten durch die erhöhte Anwesenheit von Han-Chines*innen die Dichte der Ansiedelung der uigurischen Bevölkerung zu reduzieren und damit die „soziale Stabilität“ in der Region zu verbessern (A. Zenz 2021, 10,11,15).
Produktionsbedingungen entlang der Lieferkette
Das Factsheet (Material M 4.6) untersucht die Bedingungen in der Baumwollindustrie. Durch Markennamen wie H&M, Adidas und Nike, die in die Kritik gerieten, ist davon auszugehen, dass dieser Sektor einen Lebensweltbezug für die Schüler*innen herstellt. Der Baumwollsektor in Xinjiang zeichnet sich durch einen nach wie vor hohen Einsatz von im Vergleich zu maschinellem Pflücken teurerer Handarbeit aus, wobei der Grad der Mechanisierung uneinheitlich ist: Im Süden, dem Hauptsiedlungsraum der Uigur*innen, ist er sehr niedrig, weil die Felder zu klein für den Einsatz großer Maschinen sind; auch ist nur der kleinere Anteil der Sorten, die genutzt werden, geeignet für mechanisches Pflücken. Während in der Vergangenheit jährlich eine große Zahl von für die Ernte angeworbenen Arbeitskräften aus anderen Provinzen für die Baumwollernte eingesetzt wurden, nahm deren Zahl zuletzt u.a. aufgrund des Lohngefälles sowie 2020 aufgrund der Coronakrise deutlich ab. Der Baumwollsektor ist angesichts dieser Ausgangslage besonders anfällig für ein Lohndumping, das zunehmend stark vor allem die in Xinjiang lebenden ethnischen Minderheiten betrifft, die via Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Armutsminderungsprogramme als Erntehelfer*innen herangezogen werden. (A. Zenz 2020, 3–5)
Die Textilindustrie ist aber – wie die mediale Diskussion z.B. um die Rolle der Volkswagen AG zeigt, vgl. Material M 3 – nicht der einzige Sektor, für den sich die Frage nach den Produktionsbedingungen in Xinjiang stellt. Auch der Technologiesektor und die Automobilbranche sowie die Lebensmittelbranche sind betroffen und dies wirft die Fragen nach der individuellen Verantwortung jedes/jeder Einzelnen als Konsument*in auf. Verschiedene Zählungen kommen auf unterschiedlich viele Unternehmen bzw. Produkte, die unter dem Verdacht stehen, unter nach internationalen Standards nicht akzeptablen Bedingungen unter Einbezug von uigurischen Arbeitskräften produziert worden zu sein. Die australische Forschungseinrichtung Australian Strategic Policy Institute ASPI beispielsweise verweist auf der Grundlage einer Befragung auf 82 international bekannte Marken, die besonders von verschiedenen Formen der vermuteten Zwangsarbeit in- und außerhalb Xinjiangs betroffen sind, darunter Apple, BMW, Gap, Huawei, Nike, Samsung, Sony und Volkswagen. (Ruser u. a. 01.03.2020; Batke und Ohlberg 19.02.2020)
Handlungsoptionen
Eine finale Beurteilung der tatsächlichen Situation entlang der Lieferkette wird erheblich erschwert, solange Inspektionen vor Ort eingeschränkt oder gar nicht möglich sind. Die Better Cotton Initiative BCI (Sitz: Genf; Mitglieder: viele große Unternehmen wie adidas, H&M, IKEA sowie Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam) beispielsweise sah sich 2020 nicht mehr in der Lage, die Produktionsbedingungen in Xinjiang zu evaluieren und Produkte aus der Region zu lizensieren. Wie politisch aufgeladen die Situation ist, zeigt allerdings, dass entsprechende Informationen über das Aussetzen der BCI-Aktivitäten in Xinjiang auf der Webseite des Unternehmens in der Folge unter Vermeidung der Erwähnung von Xinjiang ersetzt wurden durch Hinweise auf die Einrichtung einer Task Force zu Zwangsarbeit und menschenwürdige Arbeit: Task Force on Forced Labour and Decent Work - Better Cotton Initiative. (Abdulla 30.03.2020; Glover 21.05.2021)
Das Europäische Parlament hat Ende 2020 eine (von ihrem Charakter her nicht rechtsverbindliche) Entschließung verabschiedet, in der Zwangsarbeit einschließlich der Arbeitskräftetransferprogramme in Xinjiang problematisiert werden. (Europäisches Parlament 17.12.2020) Die USA haben in Xinjiang agierende Baumwoll- und Textilproduzenten 2020 und 2021 auf schwarze Listen gesetzt und damit den Handel mit diesen Unternehmen für US-Firmen unter Strafandrohung unterbunden. Ähnlich gingen 2021 parallel Großbritannien und Kanada vor. (Blinken 22.03.2021) Dem standen besonders zu Beginn der Sanktionen Konsument*innenproteste in China gegenüber, die sich in Internetdebatten und Protestaktionen vor Geschäften derjenigen Marken äußerten, die offiziell die Einhaltung der Sanktionen gelobt hatten. Nachfolgend wurde – neben Sanktionen gegenüber Einzelpersonen und Institutionen in der EU und in Deutschland – ein neues Gesetz erlassen, das diejenigen Firmen und Organisationen u.a. durch Konfiszierung von Eigentum in der VR China oder den Ausschluss vom Wirtschaftsleben in China sanktioniert, die amerikanische und europäische Sanktionen mitgestalten oder umsetzen. (Wurzel 25.03.2021; X. Liu und Chen 10.06.2021)
Auf rechtlicher Ebene hat die deutsche Regierung mit dem „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (am 25. Juni 2021 via Bundesrat gebilligt) ähnlich wie z.B. Frankreich im Jahr 2017 einen Ansatz gewählt, der nicht unumstritten ist. Zugleich ist das Gesetz aber ein erster Versuch, die Verantwortung von (zunächst mal nur großen) Unternehmen für die Achtung der Menschenrechte im Herstellungsprozess ihrer Produkte sowie Sanktionen bei Verstößen rechtlich festzulegen.
Einige der Herausforderungen, die für die Wirtschaft gesehen werden:
Hinsichtlich des Nutzens der Gesetzgebung wird hinterfragt, ob
(zusammengestallt nach (Franke 2021; Herzog 17.06.2021; Vapaux 17.06.2021, 5; 27 f.; Ankenbrand 13.01.2021, vgl. Material M3)
Verwendete Literatur
Eine gute und aktuelle Zusammenstellung (Stand: Sommer 2021) mit Einschätzungen zu den verschiedenen Berichten, die von A. Zenz im Kontext der Xinjiang-Politik der VR China erstellt wurden und die in dieser Einordnung herangezogen werden, enthält der Wikipedia-Artikel zu Adrian Zenz. („Adrian Zenz“ 14.07.2021) |