M4.3: Eine Botschaft an Deutschland: „Tatsachen über Xinjiang“

Grußwort des Botschafters

Aus dem zweiten, „Tatsachen über Xinjiang“ betitelten Teil: Absatz Religion: „6. Religion - 2020/11/10“

 Verlag: http://de.china-embassy.org/det/zt/7c/P020201113022119693168.pdf

Terrorismusbegriff im chinesischen Kontext

Terrorismus ist in den Augen der chinesischen Regierung eine von drei gleichermaßen ernst zu nehmenden und einander beeinflussenden Kräften (san gu shili 三股势力). Neben Terrorismus zählen dazu ethnischer Separatismus und religiöser Extremismus. In der VR China ist Terrorismus (abgesehen von Vorfällen in Tibet) nahezu ausschließlich mit den Uiguren*innen verbunden. Er wird als Werkzeug verstanden, mit dem das ultimative Ziel der Abtrennung Xinjiangs zugunsten der Errichtung eines eigenständigen Ost-Turkestan erreicht werden soll (ethnischer Separatismus). Religiöser Extremismus bereitet aus dieser Perspektive Terrorismus den Boden und muss bekämpft werden (Roberts 2019, 75). Ein besonderer Fokus auf Terrorismus wurde allerdings erst nach 2001 mit konkretem Verweis auf den globalen Kampf gegen den Terrorismus (war on terror) gelegt – zuvor war weder rechtlich ein Straftatbestand des Terrorismus definiert noch wurden Vorfälle als solche klassifiziert. Anstelle dessen gab es sehr umfassende allgemeine Staatsschutzparagraphen sowie ein Gesinnungsstrafrecht, die spezifische Regelungen für terroristische Akte überflüssig machten. (Gesinnungsstrafrecht legt einen Fokus auf die ggf. lediglich unterstellte, aber nicht nachgewiesene Motivation des Täters.) In den 80er und 90er Jahren lag das politische Augenmerk im Kontext der Autonomen Regionen Xinjiang und Tibet vor allem auf der Gefahr des ethnischen Separatismus.

Historie Xinjiangs und politische Entwicklung in den letzten Jahren

Erste separatistische Bestrebungen werden in der Zeit der stärkeren Anbindung der Region an die Qing-Dynastie (1870er Jahre) verortet. Weitere entsprechende Bemühungen kamen in der Gründung von zwei Republiken (1933 und 1944) zum Ausdruck, die jedoch regional beschränkt und kurzlebig waren (vgl. auch Hintergrundinformationen zum Modul). Noch vor den Anschlägen auf das World Trade Centre und damit auch vor Beginn des internationalen „war on terror“ gründete China im Juni 2001, basierend auf einer bereits 1996 entstandenen Vorgängerorganisation, zusammen mit vier anderen zentralasiatischen Mitgliedern und Russland die Shanghai Cooperation Organization (Shanghai hezuo zuzhi 上海合作组织), eine Anti-Terror-Organisation, die u.a. den gemeinsamen Kampf gegen die oben vorgestellten drei Kräfte koordinieren sollte. (Eder, Lang, und Rudolf 07.09.2017, 9)

Alle bis 2001 als Fälle des ethnischen Separatismus gewerteten Ereignisse wie die „Zwischenfälle“ in Baren/Xinjiang 1990 und in Ghulja/Xinjiang 1997 wurden von der Regierung Anfang 2002 rückwirkend als terroristische Akte eingestuft (Sprick 2020). Als Gründe für die Zunahme der Unzufriedenheit und den erstarkenden Wunsch nach (größerer) Unabhängigkeit für die Autonome Region Xinjiang Ende der 1980er und 1990er Jahre werden außerhalb der VR China mehrere Einflussfaktoren angeführt, darunter die folgenden: Die Auflösung des Sowjetreiches und die damit verbundene Gründung unabhängiger Staaten in den an Xinjiang angrenzenden Gebieten mit ethnisch uigurischen Bevölkerungsgruppen; das erneute Erstarken des Einflusses des Xinjiang Produktions- und Aufbaukorps (Xinjiang shengchan jianshe bingtuan 新疆生产建设兵团), das die Dominanz und physische Präsenz der Han-Chines*innen in der Region weiter erhöhte; vielleicht auch die Zerstörung der Hoffnung, dass der von den Demonstrant*innen auf dem Tian’anmen-Platz 1989 geforderte gesellschaftliche Wandel auch für Xinjiangs stärkere Eigenständigkeit positive Effekte hätte bedeuten können. Keineswegs gleichermaßen relevant werden hingegen religiöse Gründe für die separatistischen Bestrebungen eingestuft. (Sprick 2020, 184–85)

Vorkommnisse, die von chinesischer Seite als terroristische Akte eingestuft wurden, ereigneten sich in der Folge in Xinjiang in Wellen ab 2008/2009, dann 2013/14. Eine Übersicht über die bzw. Einordnung der Vorfälle gibt Chan. (17.11.2020, 60–62).

Einordnung der Vorfälle

Die Verwendung des Begriffes Terrorismus ist schwierig, da es keine international akzeptierte Definition dafür gibt, was Terrorismus genau ist, dafür aber vielerlei politisch motivierte Definitionen, die hinterfragt werden können. (Roberts 2019, 100) Für viele der von chinesischer Seite als terroristische Akte eingestuften Vorkommnisse wurde von der Regierung die ETIM (East Turkestan Islamic Movement) als verantwortliche Kraft identifiziert. Eine ausführliche Analyse des Vorgehens der chinesischen Regierung nach dem 11. September 2001, zu der auch die hier erwähnte Fokussierung auf die ETIM als Hauptakteur des Terrorismus in Xinjiang zählt, liefert der amerikanische Anthropologe S. Roberts (2019, 106–7), der darauf hinweist, dass die USA und die UN die ETIM erst nach der diesbezüglichen chinesischen Einschätzung zur Terrororganisation erklärten.

Einen politischen Rahmen in der VR China bildete der Slogan des „Volkskriegs gegen den Terrorismus“ (fankong renmin zhanzheng 反恐人民战争), der nach dem Anschlag auf den Bahnhof in Kunming 2014 geschaffen wurde. Im Bereich des Rechts hatte dies zur Folge, dass Strafmaße erhöht, Straftatbestände ausgeweitet und Verfahren beschleunigt wurden. Die auf nationaler Ebene bereits angeflaute „Kampagne des harten Zuschlagens“ (yanda 严打, gerichtet zunächst gegen gewöhnlichere kriminelle Straftatbestände) wurde in Xinjiang fortgesetzt. In den Volkskrieg sind alle Bevölkerungsgruppen eingebunden und zur Mitwirkung (z.B. durch Meldung Verdächtiger) verpflichtet. (Sprick 2020)

In der Zeit vor und auch noch nach dem Erlass des Anti-Terror-Gesetzes gab es vermehrt westliche Medienberichte, die über Kontakte uigurischer Personen zum Islamischen Staat und über die Beteiligung uigurischer Kämpfer z.B. im Syrien-Krieg berichteten China wurde auch unmittelbarer Adressat repressiver Maßnahmen des IS, der Ende November 2015 erstmals eine chinesische Geisel hinrichtete (Kupfer 2017). 2018 wurden in Thailand gestellte Uiguren*innen nach China deportiert, die der Anklage zufolge versucht hatten, in Syrien und im Irak für den IS zu kämpfen (Sprick 2020, 186). 2020 hielt ein Bericht des Sicherheitsrates fest, dass ETIM-Kämpfer*innen weiterhin in Syrien und Afghanistan zum Einsatz kommen . Zusammengenommen verstärkten diese Ereignisse die Angst davor, dass aus dem Ausland zurückkehrende Kämpfer*innen in China terroristisch aktiv werden könnten.

Rechtsrahmen

Neben einem 2016 in Kraft getretenen Anti-Terror-Gesetz sind davor und danach auch in anderen Gesetzen und Richtlinien Bezüge zur Antiterror-Bekämpfung hergestellt sowie spezielle Vorschriften erlassen worden. So gab es u.a. mehrfach Revisionen im Strafrecht und Strafprozessrecht sowie zahlreiche neue, auf Xinjiang beschränkte Bestimmungen wie z.B. die 2017 erlassenen Bestimmungen über De-Radikalisierung. Erkennbar ist hier zunächst der Wille, gesetzliche Grundlagen zur Anti-Terror-Bekämpfung zu schaffen. Eine Liste legt fest, welche Organisationen und Personen als terroristisch eingestuft werden und soll u.a. die internationale Kooperation in der Terrorismusbekämpfung stärken. (Auf dieser Liste steht z.B. auch der Präsident des in München ansässigen Weltkongresses der Uiguren.) Überschneidungen bei Personen und Institutionen mit der Einschätzung von UN und z.B. den USA gibt es, diese sind aber nicht durchgängig vorhanden. Zugleich legte das Anti-Terror-Gesetz aber auch die rechtlichen Grundlagen für die Einrichtung von Lagern fest, die der „Umerziehung“ der Inhaftierten dienen sollen.

Viele Aspekte innerhalb dieses Rechtsrahmens werden außerhalb, einige aber durchaus auch innerhalb Chinas kritisiert:

• Die Tendenz dazu, bereits „Gedanken“ unter Strafe zu stellen (laut Anti-Terror-Gesetz sind nicht nur Aktivitäten, sondern auch „Fürsprache“, „advocacy“ (xuanyang 宣扬, wörtl.: „anpreisen“) für Terrorismus unter Strafe gestellt).
• Heimliche Inhaftierungen und geheime Untersuchungen, begleitet von eingeschränktem Zugang zu Rechtsberatung für Betroffene, verhindern zusammengenommen einen fairen Prozess.
• Unter der Prämisse des „harten Zuschlagens“ (yanda 严打) bleiben gesetzlich vorgesehene Schutzmechanismen in der Praxis unberücksichtigt.
• Eine umfassende Kontrolle der Informationsverbreitung - so gab es nach den Anschlägen 2009 zehn Monate eingeschränkte Internetverfügbarkeit, SMS- und ausländische Telefonverbindungen in Xinjiang. Die einschlägigen Vorgaben gehen allerdings auch nicht wesentlich über die Behandlung anderer als sensibel eingestufter Themen im Rest des Landes hinaus.
• Ein breites Spektrum an Deradikalisierungsmaßnahmen, die große Eingriffe in die persönliche Freiheit Betroffener mit sich bringen, z.B. in Form von zeitlich unbegrenztem Freiheitsentzug außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens, die auch auf das Alltagsleben nach einer verbüßten Strafe ausgeweitet werden können, indem die Betroffenen unter Beobachtung von staatlicherseits beauftragten Personen in ihrem Umfeld gestellt werden. Kritisiert wird ebenfalls, dass auch nicht per se gefährliche religiöse Praktiken (wie das Tragen von Bärten oder der Besitz von religiösen Büchern) sanktioniert werden. (zusammengestellt nach (Zhou 2019; Sprick 2020, 192-201 mit Fokus Strafrecht; I. Chan 17.11.2020, 69–74)

Eine im Rahmen eines Forschungsprojekts erstellte rechtsvergleichende Dissertation aus dem Jahr 2014 (entstanden also vor dem Inkrafttreten des chinesischen Anti-Terror-Gesetzes 2016), die die Anti-Terror-Maßnahmen in Deutschland und China zwischen 2006 und 2012 vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass „die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit in der deutschen Terrorismusbekämpfungsgesetzgebung zunehmend zugunsten der Sicherheit verschoben hat. Zwar sind die meisten Gesetze mit den verfassungsrechtli-chen Grundsätzen, die den Schutz der Grundrechte garantieren, vereinbar; einige werfen jedoch andere bedeutsame verfassungsrechtliche Fragen auf. Im Vergleich dazu stehen Terrorverdächtige in China einem repressiven und harten Strafjustizsystem gegenüber. Obwohl der gesetzliche Spielraum zur Terrorismusbekämpfung in China groß ist, weist das geltende Rechtssystem, dessen Grenzen in der Praxis häufig überschritten werden, im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz zahlreiche Schwachstellen auf.“ (Dissertation von Zhou Zunyou; Zusammenfassung zitiert nach: Zhou 2014)

Die Bedenken, die hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit angeführt werden, erscheinen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen weiterhin valide. Der von der chinesischen Regierung konstatierte Terrorbezug ist schon allein aufgrund der hohen Zahl der in Verdacht geratenen Personen unklar und die in der Terrorbekämpfung gewählten Mittel sind nicht zuletzt aufgrund des unzureichenden Rechtsschutzes für „Verdächtige“ und „Täter“ zu hinterfragen.

Verwendete Literatur