Chinas Minderheitenpolitik – Infrage gestellte Harmonie
-
55 Minderheiten, eine Mehrheit?
Lerneinheit 1: Patriotische Harmonie1 Material|1 Aufgabe -
Lerneinheit 2: Mehrheit und Minderheiten – eine Nation definiert sich3 Materialien|3 Aufgaben
-
Die Autonome Region Xinjiang im Blick der WeltöffentlichkeitLerneinheit 3: Medien machen Meinung1 Material|1 Aufgabe
-
Lerneinheit 4: Modularisierung: Facetten des Konflikts7 Materialien|8 Aufgaben
-
M4.1: Tourismus als Gefahr?
-
M4.2: Satellitenbild des Gartens der Xiangfei
-
M4.3: Eine Botschaft an Deutschland: „Tatsachen über Xinjiang“
-
M4.4: Worte weise wählen – Xinjiang und die Genozid-Frage
-
M4.5: Xinjiang Data Project: Kulturelle Auslöschung
-
M4.6: Wer profitiert? Textilindustrie in Xinjiang
-
M4.7: „Zusammenführung von Verwandten“ – zwei Sichten
-
M4.1: Tourismus als Gefahr?
-
Lerneinheit 5: Persönliche Berichte von Uighur*innen – eine Zusammenstellung2 Materialien|2 Aufgaben
-
Ergänzende Materialien2 Materialien|1 Aufgabe
ZM1: Das Mausoleum des Afaq Khoja in Kashgar – eine akademische Annäherung
Stefanie Elbern 08.09.2021
ZM1: Das Mausoleum des Afaq Khoja in Kashgar – eine akademische Annäherung
Rian Thum, Autor des Buches „Die heiligen Routen der uigurischen Geschichte“, aus dem hier Auszüge aus Kapitel 6 „Der Staat“ aufgenommen worden sind, ist Dozent für Ostasiatische Geschichte an der Universität Manchester. Die Auszüge wurden um solche Stellen gekürzt, die für den Modulkontext zu weit gehende historische Verweise enthalten.
Richten wir also (...) unseren Blick auf seine [Afaqs] Grabstätte, das Grab der sogenannten Weißen Berg-Khojas. Es ist vielleicht das schönste Beispiel der Altishahri-Architektur und steht inmitten hoher, schlanker Pappeln am ländlichen Stadtrand von Kashgar. (...) Dieser wunderschöne Ort ist täglich Zeuge einer überraschenden Manifestation historischer Praktiken an der Schnittstelle zwischen uigurischer und chinesischer Kultur. Die Khojas vom Weißen Berg, die unter der massiven Kuppel liegen, waren eine Linie von Sufi-Führern, die für mehr Aufstände gegen die chinesische Herrschaft verantwortlich waren als jede andere Bewegung in der Geschichte von Altishahr. Heute könnte man erwarten, dass der Schrein von uigurischen Nationalist*innen verehrt wird, die sich gegen die chinesische Herrschaft auflehnen, oder dass er zu den vielen uigurischen Schreinen gehört, die die chinesische Regierung für alle Besucher*innen geschlossen hat. Stattdessen ist er ein beliebtes Ziel gut betuchter Han-chinesischer Tourist*innen, von denen viele in Gruppen anreisen, sich mit Regenschirmen und Cowboyhüten aus Stroh mit der Aufschrift "Marlboro" vor der Sonne schützen und vielleicht sogar für ein Foto Kleidung im Qing-Stil tragen oder auf dem Rücken eines bunt gekleideten Kamels sitzen, das vor dem Schrein angebunden ist. Gleichzeitig wird dieser potenzielle Ort des Widerstands von vielen jungen Uigur*innen verachtet. Die Abscheu ist so groß, dass ein uigurischer Reiseleiter mir sagte: "Ich bitte Gott jedes Mal um Vergebung, wenn ich dorthin gehe." Sogar einige der uigurischen Mitarbeiter*innen des Schreins äußern Abscheu vor dem Ort, wenn sie nicht in Hörweite ihrer Vorgesetzten sind. Diesen Uigur*innen geht es nicht um die Entweihung der Stätte durch Tourist*innen. Vielmehr verabscheuen sie einen der Heiligen, der unter der Kuppel begraben ist. Es ist eine überraschende Wendung für einen Schrein, der einst Tausende von Altishahri/Ugurischen-Pilger*innen beherbergte. (...) Die Han-Chines*innen, die das Grab besuchen, kommen wegen Xiang Fei, der Duftenden Konkubine, einer Altishahri-Frau aus der Linie der Weißen Berge, die nach einer populären chinesischen Legende während der Eroberung des Altishahr für den Qianlong-Kaiser gefangen genommen, in den kaiserlichen Harem nach Peking geschickt und schließlich von der Mutter des Kaisers erwürgt wurde, weil sie ihre neuen sexuellen Pflichten nicht erfüllte. Archivquellen erzählen eine andere Geschichte, aber die staatlich genehmigten Schilder an der Stätte überlassen die meisten Details den Mutmaßungen der Besucher*innen und sagen lediglich, dass die Duftende Konkubine "für den Harem ausgewählt wurde" und an einer Krankheit starb.1Dieses Datum (1289 AH) ist in einer der Säulen der Moschee in feiner Kalligraphie eingemeißelt. Der architektonische Stil ist typisch für die Yaqub Beg-Periode, mit seiner Mischung aus lokalen und Khoqandi-Formen. […]. Die Schilder sind jedoch eindeutig in Hinblick darauf, dass die Besucher*innen in der Geschichte der Duftenden Konkubine ein Beispiel für die Einheit der Ethnien sehen sollten, da "von diesem Zeitpunkt an viele Geschichten über die Duftende Konkubine zirkulierten und diese das seit jeher bestehende Streben aller Ethnien nach Einheit und gegenseitiger Liebe zum Ausdruck brachten. "2Genauer gesagt fanden diese Besuche von Juli 2004 bis Juli 2005, von Juni 2007 bis Januar 2008 und im Spätsommer 2009 statt. Die meisten Besuche konzentrierten sich auf den Zeitraum 2007-2008. Die Regierung hat die Idee der ethnischen Einheit in Xinjiang weit verbreitet, über Zeitungsanzeigen bis hin zu Schildern auf Militärfahrzeugen, um die Feindseligkeit zwischen Uigur*innen und Han zu verringern.3[…] Es ist wahrscheinlich gut für Chinas "ethnische Einheit", dass die meisten Uigur*innen die ganze Geschichte der sexuellen Versklavung nicht kennen, die die Standardversion der Han-Chinesen über die Duftende Konkubine beinhaltet. Seit der staatlichen Förderung der Geschichten über die Duftende Konkubine am Grabmal haben einige Uigur*innen ihre eigenen Vorstellungen von der Frau entwickelt, die sie nun Iparkhan (Duftende Königin) nennen, aber die meisten Uigur*innen assoziieren den Schrein mit einer anderen Figur, dem Anführer der Weißen Berge namens Apaq Khoja (ursprünglich Afaq Khoja). Die Verbindung der Linie der Weißen Berge mit den Rebellionen des neunzehnten Jahrhunderts ist heute vergessen. Zu seiner Zeit und für Jahrhunderte nach seinem Tod (1694) wurde Afaq Khoja von den Menschen in Kashgar als der heiligste Mann seiner Zeit verehrt.(...) Für die meisten Uigur*innen ist er heute jedoch ein nationaler Schurke, ein Intrigant, der auf dem Rücken einer ungläubigen mongolischen Armee an die Macht kam, den Weg für die chinesische Eroberung ebnete und unzählige Gräueltaten beging. (…)
Das jüngste Schicksal von Afaq und seinem Heiligtum: Staatliche Enteignung
Der Tourismus am Schrein des Weißen Berges begann nicht erst in der Reformära. Sogar in den letzten Tagen der Kulturrevolution, (...) [A]ls China in den folgenden drei Jahrzehnten immer mehr ausländische Besucher*innen empfing und der steigende Lebensstandard den Inlandstourismus zu einer bedeutenden Wirtschaftskraft machte,4Zwischen 1978 und 2007 stiegen die Einnahmen aus dem Inlandstourismus von 1,84 Milliarden Yuan auf 777,1 Milliarden Yuan. Chris Ryan und Gu Huimin, Hrsg., Tourism in China: Destination, Cultures and Communities (New York: Routledge, 2008). wurde der Schrein zu einem entscheidenden Faktor für die staatliche Förderung von Kashgar als Touristenziel. Während die lokalen Regierungen in verschiedenen Teilen Altishahrs große Schreine als Bedrohung für die Sicherheit der chinesischen Herrschaft angesehen haben, hat die Regierung in Kashgar den Schrein auf dem Weißen Berg mit seiner imposanten architektonischen Schönheit als Chance für die wirtschaftliche Entwicklung durch den Tourismus genutzt. Ironischerweise ist wahrscheinlich kein anderer Schrein so eng mit der Rebellion gegen die chinesische Herrschaft verbunden wie der Schrein am Weißen Berg. Sowohl Jahāngīr Khoja, ein Khoja aus den Weißen Bergen, der 1826 einen Aufstand anführte, als auch Ya'qub Beg, der die Rebellionen von 1864 anführte, begannen ihre kurzen Regentschaften mit Pilgerfahrten zum Schrein, der noch lange nach der Ankunft der Qing-Herrschaft ein Symbol der Souveränität der Weißen Berge blieb. Der Staat ist mit dieser potentiellen Bedrohung umgegangen, indem er Änderungen sowohl der Funktion als auch der Bedeutung des Schreins vorantrieb. Der Versuch des Staates, die Funktion des Schreins von einem Ort der rituellen Pilgerfahrt zu einem Ziel für den Tourismus zu verändern, war äußerst erfolgreich. Die alten Artefakte der Pilgerschaft - Fahnen, Schafshörner, Opfergaben - sind längst entfernt worden, vielleicht während der Kulturrevolution.5[…]
Eine saftige Eintrittsgebühr von 15 Yuan schreckt die ärmeren ländlichen Besucher*innen ab, die die Mehrheit der Pilger*innen an anderen Schreinen ausmachen. Ein Wächter an der Stätte berichtete 2007, dass die wenigen Pilger*innen, die noch zum Schrein kommen, ältere Bürger sind, die von der Eintrittsgebühr befreit sind. Respektlose Han und ausländische Tourist*innen untergraben jeden Sinn für rituelle Ernsthaftigkeit. Die Shaykhs wurden durch Reiseleiter und Sicherheitspersonal ersetzt. Im Jahr 2003 übertrug die lokale Regierung von Kashgar die Kontrolle über die Stätte an ein privates Unternehmen, Zhongkun, das von einem ehemaligen Funktionär der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei geleitet wurde. (...)Trotz des allgemeinen Bestrebens, den Einfluss der Sufi-Orden in Xinjiang zu untergraben, hat sich die chinesische Regierung also weder dafür entschieden, den Apaq-Khoja-Schrein zu schließen, noch sich völlig von Apaq zu distanzieren. Vielmehr hat sich die Regierung in bewundernswerter Weise an die Tradition angepasst und ihre eigene beispielhafte Persönlichkeit gefördert, Xiang Fei, die kaschgarische Frau, die in den 1760er Jahren als Konkubine an den Hof des Qianlong-Kaisers kam. Ein chinesischsprachiges Dokument aus Kashgar zeigt, dass chinesische Einwohner*innen dieser Stadt bereits 1903 populäre Xiang Fei-Legenden mit dem Schrein verbunden hatten.6[…] Allerdings hatten die historischen Traditionen der kleinen Han-Bevölkerung in Kashgar so wenig Einfluss auf den Schrein, dass ausländische Beobachter*innen (...) die Xiang-Fei-Legende nicht zur Kenntnis nahmen. Die Geschichte mag sogar ausgestorben sein, nur um nach der steigenden Popularität von Fernsehfilmen über Xiang Fei aus dem eigentlichen China reimportiert zu werden.7[…] Nicht nur, dass die Verbindung der Xiang Fei-Legende zum Schrein des Weißen Berges schwach war, zuverlässige historische Beweise für eine tatsächliche Verbindung zu Xiang Feis eigener Zeit gibt es nicht. Der Wert von Xiang Fei als Symbol für "die Einheit aller Ethnien Chinas"8Schild am Apaq Khoja-Schrein, fotografiert im Sommer 2004. Genau derselbe Text ist in einem anonymen, fotokopierten Buch über die Sehenswürdigkeiten von Kashgar enthalten, das den Titel Daoyou Shouce (Handbuch für Fremdenführer) Mai 2005 trägt. für die kommunistische Partei überwiegt jedoch bei weitem die Schwierigkeiten, in einem Mausoleum in Kashgar einer Frau zu gedenken, die eigentlich in der Nähe von Peking begraben ist (wo ihr ironischerweise weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird). (…) . Im Fall von Xiang Fei waren die Werbemaßnahmen der Regierung recht erfolgreich, da sie sowohl an die bereits existierende Legende als auch die Macht einer geheiligten Stätte anknüpften. Xiang Fei hat nun eine sehr reale Präsenz im lokalen uigurischen Geschichtsbewusstsein, auch wenn die Einstellungen ihr gegenüber etwas ambivalent sind. (...) Junge Männer in Kashgar zeigten sich neugierig auf die Rolle von Xiang Fei, obwohl sich noch kein Konsens darüber abzeichnet, ob sie eine Heldin oder eine Verräterin ist. Das Grab und der Wallfahrtsort sind ein traditioneller Ort der uigurischen Begegnung mit der Vergangenheit, und diese Resonanz hat als Scharnier für Xiang Feis Aufwertung gewirkt und dazu beigetragen, dass Xiang Fei in Kashgar wieder zu einem Thema der historischen Diskussion geworden ist. Xiang Fei ist emblematisch für den Umgang des chinesischen Staates mit der Geschichte Altishahrs im Allgemeinen, da sie einen historischen Typus aus Zentralchina ist, der der eroberten Region aufgezwungen wird. (...)Xiang Feis Geschichte ist eindeutig chinesisch; ihre Geschichte erreichte die Gegenwart nicht in altishahrischen Texten oder Denkmälern, sondern in chinesischsprachigen Historien und Dramen, die in Zentralchina zirkulierten. Die populäre Xiang Fei-Legende spiegelt die lange Tradition des chinesischen Schreibens über Frauen wider, die ihr Leben aufgaben, um ihre Keuschheit zu wahren. (…)
Professionelle akademische Historiker*innen in Chinas offiziell sanktionierten Einrichtungen schreiben über "Xinjiang-Lokalgeschichte" (Xinjiang difang shi) und betonen, dass die Region lediglich "die nordwestliche Grenzregion unseres großen Mutterlandes" ist, die keine eigene Geschichte haben kann, sondern eine Lokalgeschichte als Bestandteil der Geschichte der chinesischen Nation. (…)
Uigurische nationalistische Vereinnahmung
Wie erfolgreich Zhongkun und die zuständigen Regierungsministerien auch darin gewesen sein mögen, die Verbindung von Xiang Fei zum Schrein zu fördern, so gedeihen auch andere Ansichten. Unter den älteren Generationen gibt es immer noch viele Muslim*innen, die Apaq als Heiligen betrachten,9[…] und nach Angaben des Personals am Schrein gibt es immer noch ein Rinnsal von Pilger*innen während der einschlägigen Feiertage. Auch die Bewohner des umliegenden Dorfes scheinen Apaq immer noch als eine wichtige und positive Figur zu sehen, obwohl es ihnen (in vielen Fällen) an spezifischem Wissen über seine Aktivitäten mangelt.10[…] Vielleicht am interessantesten ist jedoch die Sichtweise der jungen uigurischen Männer unter den Angestellten des Schreins, für die Apaq ein nationaler Schurke ist, eine Sichtweise, die von vielen städtischen Uigur*innen geteilt wird.
Thum, Rian Richard. 2014. The sacred routes of Uyghur history. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press (211–13; 232–36).
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mjx-zm-1]
Weiterführende Informationen
Autor | Titel | Verlag | Datum | Inhalt | Einordnung |
---|---|---|---|---|---|
Autor*in: Thum, Rian Richard | Titel: Auszug aus Kapitel 6, „Der Staat“; Titel des Buches: The The sacred routes of Uyghur history; Übersetzung: Stefanie Elbern | Verlag: Harvard University Press | Entstehungsdatum & -ort: Cambridge, Mass., 2014 | Thema/Bildinhalt: Verschiedene historische Interpretationsansätze und Nutzungsweise für das Mausoleum des Afaq Khoja, das heute als „Garten der Xiang Fei“ für Tourist*innen präsentiert wird. | Einordnung: Weiterführende Informationen siehe Material M4.1 und M4.2 des Moduls |