Chinas Wirtschaftsentwicklung seit 1978
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Lerneinheit 1: Wie viel Reform, wie viel Öffnung? Zwischen Debatten, Umsetzung und Auswirkungen3 Materialien|2 Aufgaben
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Lerneinheit 2: Dimensionen des wirtschaftlichen Umbruchs3 Materialien|6 Aufgaben
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Lerneinheit 3: China in der Globalisierung4 Materialien|4 Aufgaben
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Lerneinheit 4: Chinas wirtschaftliche Transformation heute5 Materialien|5 Aufgaben
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M4.1: Lohnkurven in Ost- und Südostasien im Vergleich, 1990-2022
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M4.2: Plan zur Modernisierung: Industriepolitische Strategie „Made in China 2025“
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M4.3: Heutige Technologie-Expertise der VR China
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M4.4: Die Volksrepublik China in der Chipindustrie
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M4.5: Die Volksrepublik China und Deutschland in der Elektromobilität
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M4.1: Lohnkurven in Ost- und Südostasien im Vergleich, 1990-2022
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Lerneinheit 5: Wirtschaftsentwicklung und Lebensrealitäten7 Materialien|9 Aufgaben
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M5.1: Der Index Menschlicher Entwicklung in Chinas Provinzen (1990-2021)
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M5.2: Pro Kopf-Einkommen und Ungleichheit, 1978 und 2021
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M5.3: Armut in der Volksrepublik China
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M5.4: Auswirkungen von Wirtschaftswachstum: Das Beispiel Luftverschmutzung
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M5.5: Auf in die Stadt: Vom Bauer zum Schneider in den 1980er-Jahren
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M5.6: Arbeitsmigration in der VR China nach Covid-19
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M5.7: Jugendarbeitslosigkeit in der VR China nach Covid-19
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M5.1: Der Index Menschlicher Entwicklung in Chinas Provinzen (1990-2021)
M5.5: Auf in die Stadt: Vom Bauer zum Schneider in den 1980er-Jahren
In einem Artikel des einzigen chinesischen Nachrichtenmagazins Ausblick (Liaowang) kommt der Autor zu folgender Stellungnahme: Lediglich ein kleiner Prozentsatz der chinesischen Bauern produziert durch intensiven Anbau die vom Staat geforderten Mengen an Getreide, Gemüse, Baumwolle und Zucker. Somit werden fast 70 Prozent der Landbevölkerung nicht mehr in der landwirtschaftlichen Produktion benötigt. Dadurch dürfte sich im landwirtschaftlichen Bereich das Konzept von Sozialismus verändern: Fast 600 Millionen chinesische Bauern werden in der traditionellen Landwirtschaft keine Verwendung mehr finden; eine Kraft, mit der in Zukunft zu rechnen ist. Gegenwärtig beleben die zugeströmten Bauern die Straßenmärkte in Peking, sie bezeichnen sich selbst nicht als Landflüchtlinge, obwohl ihre Beziehungen zur Heimat bereits lockerer geworden sind als die der Landflüchtigen in anderen Städten. Zhang Bojian, männlich, ist 29 Jahre alt. Als wir das Interview machten, trug er einen wollenen Anzug, über seinen Hals hing ein weißes Maßband. Das Interview entstand auf dem Straßenmarkt am Donghuamen-Tor, nahe der Wangfu-Jing-Allee in Peking.
Ich komme aus einer Bauernfamilie. Wir hatten keine Getreidemarken. Wir waren es, die das Getreide anbauten. Ich bin zur Mittelschule gegangen, einer landwirtschaftlichen Mittelschule. Als ich meinen Abschluß machte, war es noch nicht üblich, daß unsereins auf die Universität ging. Selbst wenn solche Hinterwäldler wie wir die Aufnahmeprüfung gemacht hätten, wir hätten keine Chance gehabt, sie zu bestehen. Meine Eltern leben noch und bestellen weiterhin das Land. (…) Die Verhältnisse in Qingpu waren schlecht. Vor einigen Jahren gab es in unserem Dorf nicht einmal elektrisches Licht. Weil Shanghai so nahe liegt, hätte das nie jemand geglaubt. In den letzten Jahren ist es viel besser geworden, viele Familien haben sich einen Fernseher gekauft. (…) Meine Schwester und ich haben beide dasselbe gelernt, um Geld zu machen. Nun haben wir Geld, aber keine Bildung. Ich selbst bin jetzt in Peking. (…) Im Jahr 1971, als der Glatzkopf Lin Biao floh und zu Tode stürzte, habe ich meinen Schulabschluß gemacht. Alle aus meiner Klasse kehrten zurück aufs Land, um dort auf den Feldern mitzuarbeiten. Eine andere Wahl hatten Schüler einer Dorfmittelschule nicht. Anfangs hatten wir das Dazhai-Arbeitspunktesystem: auch wenn ich von morgens bis in die Nacht arbeitete, waren das sieben Arbeitspunkte, die Höchstzahl waren zehn Punkte. Doch wieviel Geld die Arbeitspunkte wert waren, stellte sich erst am Jahresende heraus. Das ließ sich nicht vorherberechnen. Im besten Jahr lag der Tageswert von zehn Arbeitspunkten bei 29 Pfennigen. Rechnen Sie selbst, wieviel ich pro Tag verdienen konnte. Das war bitter!
Damals beneidete ich die Shanghaier und haßte mich selbst, weil ich anscheinend in die falsche Familie hineingeboren war. Jetzt ist es anders, die Shanghaier sind für mich nichts Besonderes mehr. Sie haben wenig Geld, keine Farbfernseher und keine angemessenen Wohnungen. Abert sie rümpfen immer noch die Nase über uns und lachen über diese Hinterwäldler. Dafür ist mein Geldbeutel prall voll, sie verdienen lächerlich wenig. (…) Das Zuschneiden lernte ich 1979, im Jahr als das Verantwortlichkeitssystem eingeführt wurde. Da nannte man die Felder noch »Eigenverantwortlichkeitsfelder«. Die neu aufgeteilten Felder waren etwas größer als 2 mu. Wir waren aber zu siebt in unserer Familie, da blieb nicht viel übrig. So wenig Land konnte nicht so viele Köpfe ernähren. Da das Land der Produktionsbrigade gleichmäßig unter den Haushalten verteilt wurde, bedeutete das: Je mehr Arbeitskräfte in einer Familie waren, desto schlechter für sie. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, und mir war klar, daß diese Politik den Sinn hatte, jedem etwas Wohlstand zu bringen. Aber Wohlstand durch ein so kleines Feld, das stank doch zum Himmel! Also lernte ich das Schneidern und überließ das Feld meinem älteren Bruder.
Die Einführung des Verantwortlichkeitssystems bedeutete für mich die Aufteilung der kollektivierten Felder. Das hieß für die einzelnen Bauernfamilien: Je weniger Arbeitskräfte, desto besser der Verdienst. (…) Außer der öffentlichen Getreideabgabe an den Staat muß man noch eine zusätzliche Nutzungsabgabe pro mu-Fläche an die Produktionsbrigade leisten. Vergessen Sie nicht, letztlich gehört das Land weiterhin dem Kollektiv. Während also die anderen noch wie die Narren auf ihren Feldern rumackerten, kam ich lang vorwärts mit meinem Handwerk.
In diesen Jahren gab es in Shanghai viele Nähkurse, manche vom Bezirk oder von den JmS, den „Jugendlichen mit Schulbildung« veranstaltet. Es gab auch private Kurse. Die wollte ich aber nicht machen. Die öffentlichen Kurse fielen unter die Bestimmung, daß Jugendliche, die auf einen Arbeitsplatz warten, also Arbeitslose, umsonst oder zu halbem Preis die Kurse belegen konnten. Ich nahm natürlich einen der kostenlosen. Sicherlich gehörte ich nicht zu den »auf einen Arbeitsplatz wartenden Jugendlichen«. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich bat meinen Onkel um ein Empfehlungsschreiben. In dem stand, daß sein Sohn diesen Kurs belegen wollte. Für die Schule war nicht die Person wichtig, sondern der Empfehlungsbrief. Da kein Foto verlangt war, konnte ich mich als mein Vetter ausgeben. Zum Abschluß erhält man ein Zeugnis. Für mich jedoch war es nutzlos. Ich verließ den Kurs ohne dieses Zeugnis. Es wäre ja ein Witz, wenn da der Name meines Vetters neben meinem Foto gestanden hätte. Für uns Handwerker gilt, was wir können und nicht so ein Stück Papier. Danach besuchte ich einen Fortgeschrittenenkurs und anschließend noch einen Meisterkurs, jedesmal an einem anderen Ort. Es war damals sehr leicht, ein Empfehlungsschreiben von der Fabrik meines Onkels zu bekommen. Ich wollte mich nicht nur durchmogeln, sondern wirklich etwas lernen. Von zu Hause hatte ich keinen Pfennig zu erwarten.
Danach habe ich mich um einen Gewerbeschein beworben. Den Leuten vom lokalen Amt für Industrie und Handel mußte ich gut zureden und große Geschenke machen. Natürlich sind Geschenke notwendig, sonst bekommt man entweder gar keine Erlaubnis oder nur eine für den jeweiligen Ort gültige. Aber ich wolle mein Geld nicht in Qingpu verdienen, was gab es da schon zu schneidern. Ich wollte im Norden arbeiten. Auf der anderen Seite des Yangzi ist man als Shanghaier Schneider heiß begehrt. Obwohl ich 1980 dem Mitarbeiter des Amtes ein schönes Geschenk überreicht hatte, wollte er mir aus verschiedenen Gründen keine Genehmigung ausstellen. Ich faßte Mut und schlug mich ohne das Papier durch. Ich blieb dann in Tianjin und Harbin. Innerhalb von sieben Monaten habe ich über 5000 yuan verdient. Ohne Genehmigung durfte ich keinen Stand auf der Straße eröffnen, und keine Herberge war bereit, mir ein Zimmer zu vermieten. Das war schwer! (…) Jetzt ist es allerdings anders geworden. Überall sind die »Shanghaier Schneider«. Es scheint, als ob jeder Shanghaier ein Meister der Schere wäre. Damals verlangte ich für das Zuschneiden einer Hose einen yuan zwei mao, jetzt nur noch 6 mao. Die 5000 yuan waren leicht verdient, und ohne das Genehmigungspapier mußte ich sie auch nicht versteuern. (…) Zum chinesischen Neujahrstag kehrte ich nach Qingpu zurück. Die ganze Familie war schockiert. 5000 yuan! Ich fühlte mich wie so ‘ne Art Raubmörder. Vater hatte es die Sprache verschlagen. (…) Nach dem Neujahrsfest besuchte uns der Leiter der Produktionsbrigade und beschuldigte mich, ein Jahr lang dem »Liberalismus« gefrönt zu haben. Er verlangte von mir plötzlich Getreideabgaben und Verwaltungsgebühren, pro Tag einen yuan. So preßte er 360 yuan aus mir heraus. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm das Geld zu geben, sonst hätte er seine Wut an meiner Familie ausgelassen. Dann hätte ich nicht mehr mit ruhigem Gewissen auswärts arbeiten können. Jetzt habe ich keine derartigen Schwierigkeiten mehr. Ich habe inzwischen einen Vertrag mit der Produktionsbrigade abgeschlossen, so daß ich nur noch die Verwaltungsgebühren zu bezahlen habe. Damals fragte er mich noch, woher ich meine Getreidemarken hatte. Ja, woher? Natürlich habe ich die gekauft. Eine Marke für ein Pfund kostete 2 mao. Jetzt ist es besser, ich kann direkt zu den staatlichen Getreidevertriebsstellen gehen und dort meine Getreidemarken eintauschen, Die Getreidemarken spielen sowieso kaum noch eine Rolle. Früher oder später werden sie wohl wie die Stoffmarken abgeschafft.
Ich wollte kein Illegaler mehr sein. Aber ich habe schließlich keinen Pfennig für das Genehmigungspapier bezahlt. Vom Zentralkommitee kam eine neue Verordnung, und der frühere Beamte des lokalen Industrie- und Handelsamtes war ebenfalls abgelöst worden. Hat man aber erst einen Gewerbeschein, dann muß man auch Steuern bezahlen. Die Gewerbesteuer beträgt fünf Prozent, die Verwaltungsgebühr zwei Prozent. Die Steuer steigt mit der Höhe des Einkommens, sie nennen das progressive Besteuerung. Die niedrigste Stufe ist fünf Prozent. Meine Einstufung lag bei sieben Prozent. Die Beamten sind schlau wie Affen, sie dürfen ganz genau dein Grundeinkommen taxieren. Aber in Wirklichkeit ist es reine Gewissenssache. Letztlich bin ich es, der im Amt das letzte Wort über mein tatsächliches Einkommen hat. Aber Steuerhinterziehung! Das niemals! Ich bekäme eine Strafe und mir würde auch noch die Gewerbeerlaubnis entzogen. Das wäre der größte Verlust für mich. Außerdem finde ich die Politik des Zentralkomitees sehr gut. Ich finde es ganz in Ordnung: wer mehr verdient, muss? auch mehr abgeben. Außer der staatlichen Steuer, den staatlichen Verwaltungsgebühren, den Verwaltungsgebühren der Produktionsbrigade und einer Beteiligung am Rücklagenfonds, verlangt der Freie Markt, wo man arbeitet, ebenfalls eine Verwaltungsabgabe. In Peking wollen sie auf manchen Märkten 2 yuan, bei anderen nur 3 mao. Es kommt auf die Lage des einzelnen Marktes an. In der Stadt ist es teurer, Vorstadt billiger. Ist ja klar, in der Vorstadt geht das Geschäft auch nicht so gut. In den letzten zwei Jahren war ich in einigen Dutzend Städten, in großen und in kleinen. Obwohl ich mehr und mehr verschiedene neue Muster zuschneiden kann, ist der Verdienst kleiner geworden. Zu viele haben meinen Beruf. So ist das leider. Ich verdiene im Monat ca. 300 yuan, das ist noch mehr als ein Professorengehalt. Mein bestes Monatseinkommen waren einmal 1200 yuan. Es kommt aber auch vor, daß man Verlustgeschäfte macht.
Die Angestellten auf der Bank sagen von mir, ich sei reich. Ich finde es schön, reich zu sein. Ich bin durch meine Fähigkeiten und dank der klugen Politik des Zentralkomitees reich geworden. Nur mit den eigenen Fähigkeiten, ohne eine gute Politik, wäre sowas nicht möglich. Früher waren sonst so Leute wie ich als >Vier schlechte Elemente< oder als >Neue Kapitalisten< bezeichnet worden. Die beste Politik nützt aber auch wieder nichts, wenn man keine handwerklichen Fähigkeiten besitzt. Ist jemand ohne handwerkliche Fähigkeiten überhaupt ein Mensch? Selbst wenn das Zentralkomitee alle Möglichkeiten böte, er brächte es doch zu nichts. (…) Ich unterstütze voll und ganz das Zentralkomitee, seine Politik ist richtig. Falls Deng Xiaoping sich bei mir einen Anzug zuschneiden lassen wollte, würde ich dafür keinen Pfennig nehmen. Ich würde ihn nur darum bitten, von dieser Politik auf keinen Fall abzugehen. Das ist natürlich nur ein Scherz. Was sollten solche Persönlichkeiten von jemandem wie mir auch wollen?
Warten Sie noch ein paar Jahre, dann werde ich nicht mehr mit meinem Stand herumziehen. Ich werde eine kleine Schneiderei eröffnen. Es macht nichts, wenn ich da möglicherweise etwas weniger verdiene. Hauptsache, ich kann dann bei meiner Frau bleiben, die mich mit einem Sohn beglückt. Wenn ich nicht an mein Kapital heran muß, geht es schon. Dafür brauche ich aber noch einige Jahre. Zuerst muß ich genügend Geld sparen, ich brauche etwa 20000 yuan. Unter dieser Summe mache ich’s nicht, weil ich sonst meine Familie nicht von den Zinsen ernähren kann.
Übersetzung: Udo Hoffmann
Zusammenstellung und Aufgaben: Sascha Zhivkov. 2024. Auf in die Stadt: Vom Bauer zum Schneider. Weiterführende Informationen
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