Chinas Wirtschaftsentwicklung seit 1978

Die wirtschaftlichen Reformen und rapide Entwicklung der Volksrepublik (VR) China seit den 1970er-Jahren erstaunen viele Beobachter*innen weltweit. Jedoch ist das, was häufig als Chinas wirtschaftlicher „Aufstieg“ tituliert wird, eigentlich eine Rückkehr an die Position, die das Land noch bis etwa 1820 über Jahrhunderte innehatte (Bairoch 1982, Maddison 2007). Damals war China die weltweit größte Volkswirtschaft nach Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das Land wird Schätzungen zufolge bis Ende dieses Jahrzehnts (2020er-Jahre) wieder an jene erste Stelle vorrücken. Seit 1980 ist der Anteil der VR China am globalen BIP von 2,26% auf 18,73% (2023) gestiegen (Statista 2024). Dabei vermochte das Land über einen langen Zeitraum hohe einstellige und zweistellige Wachstumsraten zu erzielen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt China mit 12.359 USD pro Kopf jedoch noch weit hinter entwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland zurück (50.795 USD, jeweils 2021; Statistisches Bundesamt 2022). Das zeigt, dass der Weg zur voll entwickelten Industrienation für die VR China noch lange nicht geschafft ist.

Wirtschaftliche Entwicklung: Ein historischer Abriss

Bis 1978: Marktwirtschaftliche Ideen, planwirtschaftliches Entwicklungsmodell

Chinas marktwirtschaftliche Reformen unter dem Paradigma „Reform und Öffnung“ (gaige kaifang 改革开放) werden gängig mit dem Jahr 1978 demarkiert, als der reformorientierte Kader Deng Xiaoping 邓小平 (1904-1997) sich in einem zweijährigen innerparteilichen Machtkampf nach dem Tod Mao Zedongs 毛泽东 (1893-1976) gegen konservative Kräfte um Hua Guofeng 华国锋 (1921-2008) durchsetzen konnte. Hierbei trafen – wie so häufig zwischen 1949 und 1978 – gegensätzliche wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ideologiekonzepte aufeinander. Marktwirtschaftliche Strukturen hatte es in der VR China aber auch zuvor gegeben:  Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 gab es durchaus privates Unternehmertum, welches aber bis etwa 1956 in allen wichtigen Wirtschaftszweigen verstaatlicht wurde. Grundsätzlich folgte China dem Modell der Sowjetunion, die eine zentralstaatlich gelenkte Wirtschaft auf Basis ihrer Fünfjahrespläne verfolgte und besonders die Schwerindustrie in den Fokus nahm. Da China jedoch sehr viel mehr Arbeitskräfte auf dem Land als die UdSSR hatte und außerdem ideologische Differenzen zwischen beiden ausbrachen, ging man schließlich einen anderen Weg. Das Resultat war der fehlgeschlagene Versuch von Mao eine dezentralisierte Industrie auf dem Land im „Großen Sprung nach vorne“ (Dayuejin 大越进, 1958-1961) aufzubauen. Dieser ließ stattdessen die Nahrungsmittelsicherheit zusammenbrechen und löste eine Hungerkatastrophe aus.

Zusammen mit Staatspräsident Liu Shaoqi 刘少奇 (1898-1969) wollte Deng bereits im Anschluss hieran Korrekturen am Wirtschaftsmodell durchsetzen. Sie planten den Märkten wieder eine größere Rolle zuzumessen und materielle Anreize für Arbeiter*innen. Dies brachte beide in Konflikt mit Mao, der innerparteilich nach dem Großen Sprung zwar in die Defensive geraten war, seine Autorität nun aber wieder herstellen konnte. Liu Shaoqi und Deng Xiaoping wurden entsprechend in der nun folgenden Zeit der Kulturrevolution (wenhua dageming 文化大革命) ab 1966 für ihre Ideen als „kapitalistische Wegbeschreiter“ gebrandmarkt. Trotzdem ist festzuhalten, dass die später verwirklichten Ideen für markwirtschaftliche Elemente bereits lange vor 1978 entwickelt wurden. So baut die erste wegweisende Reform ab 1978 – die „Vier Modernisierungen“ (sige xiandaihua 四个现代化) in Landwirtschaft, Industrie, Technik/Wissenschaft und Verteidigung – eigentlich auf einer Politik auf, die Premierminister Zhou Enlai 周恩来 (1898-1976) schon 1963 vorgeschlagen hatte. Charakteristisch für die Reformen wurde dabei ein schrittweises Vorgehen, welches mit marktwirtschaftlichen Elementen in immer neuen Bereichen des Wirtschaftslebens (meist) lokal begrenzt in Testgebieten (shidian 试点) experimentieren ließ (Heilmann 2008). Bei Erfolg wurden diese Maßnahmen schließlich auf weitere Gebiete oder das ganze Land ausgeweitet. Gleichzeitig erkannte man aber den hohen Bedarf nach ausländischem Wissen, welches man aktiv in die VR China holen wollte. Es gab aber in der VR China keine radikale Umstellung des Wirtschaftsmodells vergleichbar wie in Osteuropa nach 1990 (Raiser 2007).

Wichtigster erster Reformbereich der Vier Modernisierungen war die Landwirtschaft. Die im Großen Sprung eingeführten Volkskommunen (renmin gongshe 人民公社) und somit die kollektivierte Landwirtschaft wurden stufenweise abgeschafft. Statt großer Produktionseinheiten wurden Verträge mit den Familien geschlossen, die das Land vom Staat pachteten und eigenverantwortlich bestellten. Es mussten bestimmte planwirtschaftliche Quoten für die Nahrung erfüllt werden, aber der darüber hinausgehende Überschuss durfte gewinnbringend verkauft werden. Diese Anreize führten zu einem enormen Produktionsanstieg und zu materiellen Gewinnen für die Bauernfamilien.

Dieses sogenannte duale Preissystem (shuangguizhi 双轨制), wobei der Staat die planwirtschaftlichen Quotenpreise festsetzte und der Rest marktwirtschaftlich gehandelt werden konnte, wurde bald auch auf die städtische Industrie angewandt. 1989 schafft man das System endgültig zugunsten von Marktpreisen ab. Die Industrie selbst war ebenfalls vielen Reformen ausgesetzt – Geschäftsführer mussten nun eigenverantwortlich wirtschaften, moderne westliche Management-Methoden hielten Einzug in China und die staatlichen Betriebe mussten sich der Konkurrenz anderer Unternehmen aussetzen.

Zwei neue wichtige Gruppen wirtschaftlicher Akteure entstehen in den 1980er-Jahren: die Township and Village Enterprises (TVE; xiangzhen qiye 乡镇企业) auf dem Land und das Kleingewerbe in den Städten als Selbständige mit bis zu 8 Mitarbeiter*innen (getihu 个体户). Die TVE teilten Eigentum (welches beim landwirtschaftlichen Kollektiv blieb) und Nutzungsrechte (welches individuell ausgeübt wurde) auf. Als Zwitter zwischen staatlicher und privater Rechtsform konnten sie sich von viel gesetzlicher Regulierung unberührt im ländlichen Raum entfalten. Bis 1996 entstanden so 135 Millionen Betriebe. Da gleichzeitig viele landwirtschaftliche Arbeitskräfte wegen der steigenden Produktivität nicht mehr gebraucht wurden, zogen sie für bessere Verdienstmöglichkeiten in die Städte als Arbeitsmigranten oder mit ihrem Kleingewerbe, zum Beispiel als Händler (Naughton 2018). In der VR China gab es seinerzeit zudem begünstigend eine große demographische Dividende, d.h. viele junge Arbeitskräfte, welche nun in neuen wirtschaftlichen Sektoren an der wirtschaftlichen Entwicklung partizipieren konnten.

Zu den oben genannten Maßnahmen kam als zweites Element der „Reform und Öffnung“ die Zulassung ausländischen Kapitals in China. Dies wurde ab 1980 in zunächst vier Sonderwirtschaftszonen (SWZ) Shenzhen 深圳, Xiamen 厦门, Zhuhai 珠海 und Shantou 汕头 erlaubt und später auf über 2000 Zonen mit unterschiedlichen Schwerpunkten ausgeweitet. Damit verbunden war die Gründung von Joint Ventures, also ausländisch-chinesischer Gemeinschaftsunternehmen, sowie ein Technologie- und Knowhow-Transfer. Die entstehenden Produktionsnetzwerke beschäftigten viele der vom Land kommenden Arbeitsmigrant*innen. Die Zonen entwickelten sich unterschiedlich, waren insgesamt aber eine erfolgreiche Politik, wobei Shenzhen besonders herauszuheben ist (Zeng 2010). Die VR China öffnete sich also zu einem historisch günstigen Zeitpunkt nach außen, da die Industriestaaten zeitgleich begannen ihre lohnintensive Produktion in günstigere Standorte auszulagern. Viele Arbeitskräfte begannen in der Exportwirtschaft tätig zu sein.

Nicht alle Reformen waren unumstritten oder gelungen. So wurden viele ideologische Vorbehalte gegen die Sonderwirtschaftszonen formuliert, da diese dem Kapitalismus nach China Tür und Tor öffnen würden. Auch entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine hohe Inflationsrate, welche die soziale Stabilität gefährdete. Generell nahm die Unzufriedenheit mit dem Regime in dieser Periode zu und Stimmen wurden laut, die neben Reformen des Wirtschaftssystems auch die des politischen Systems forderten. Diese gipfelten in den Tian’anmen-Protesten 1989, welche die Führung der Kommunistischen Partei (nach Befehl desselben Wirtschaftsarchitekten Deng) gewaltsam niederschlagen ließ.   

1989-2012: Deng zementiert sein Erbe, folgende Hochwachstumsphase unter seinen Nachfolgern

Auch wirtschaftspolitisch wirkten die Tian’anmen-Proteste zunächst wie eine Zäsur, da Kritiker des bisherigen Reform-Kurses in der Partei wieder die Oberhand zu gewinnen schienen. Der liberale und den Demonstranten zugeneigte Premier Zhao Ziyang 赵紫阳 (1919-2005) war entlassen worden und konservative Akteure wie Ministerpräsident Li Peng 李鹏 (1928-2019) und der Wirtschaftspolitiker Chen Yun 陈云 (1905-1995) bestrebt liberale Reformen zurückzunehmen. Dies stieß jedoch auf erheblichen Widerstand insbesondere bei Parteikadern im Süden Chinas, wo die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1980er-Jahren florierte. Diese Akteure wollten ihre neu erlangten Entscheidungsbefugnisse nicht wieder abgeben. Deng Xiaoping, mittlerweile (1992) schon 87 Jahre alt, orchestrierte daraufhin eine zweimonatige „Reise in den Süden“ (Deng Xiaoping nanxun 邓小平南巡), auf welcher er lokale Regierungen dazu ermutigte, weiterhin Reformen zu wagen und mit neuen Initiativen voranzugehen (Chatwin 2024). Deng vermochte es zudem seine Protegés, die späteren Präsidenten Jiang Zemin 江泽民 (1926-2022) und Hu Jintao 胡锦涛 (geb. 1942) innerparteilich zu installieren. Beide führten den Reformkurs mit eigenen Akzenten fort.

Erst nach 1992 hatte sich der Reformkurs damit endgültig durchgesetzt. Es folgten in den 1990er-Jahren weitere wichtige Entwicklungen: Staatsbetriebe wurden Mitte der 1990er-Jahre Reformen unterzogen bzw. privatisiert, wobei dies nur die stärksten Unternehmen überstanden. Viele ineffiziente Staatskonzerne wurden hingegen geschlossen und dabei bis zu 20 Millionen städtische Arbeiter*innen entlassen (Garnaut et al. 2006). Den weiter oben genannten Formen von Kleingewerbe folgte die weitere Liberalisierung und Normalisierung privatwirtschaftlicher Tätigkeit in China, und dies nun auch in den großen Städten. Schon bald entwickelten sich diese neuen Privatunternehmen zum wichtigsten Treiber des chinesischen Wirtschaftswachstums. Die Kommunistische Partei bzw. Jiang Zemin versprach ab 2002 sogar offiziell ihre Interessen als einen wichtigen Aspekt im Rahmen des „Dreifachen Vertretens“ (san ge daibiao 三个代表) zu wahren.

Auch das weitere Engagement ausländischer Konzerne war nach den Tian’anmen-Protesten zunächst ungewiss geblieben. Seit Dengs Reise in den Süden jedoch fassten sie neues Vertrauen in den chinesischen Standort und investierten seit den 1990er-Jahren in nie dagewesenem Ausmaß. Da die westlichen Industriestaaten den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft vollzogen (hatten), lagerten sie ihre Produktion kostengünstig nach China aus und re-exportierten diese Erzeugnisse auf die Weltmärkte: China wurde zur „Werkbank der Welt“ (Weltbank 2002: 4-6). Taiwanische Unternehmer zählten trotz der politischen Spannungen um Souveränitätsfragen hierbei zu den frühesten und erfolgreichsten Investoren in der Volksrepublik (Hsing 1998). Auch die hohen finanziellen Investitionen von Überseechines*innen und die Rolle Hongkongs als Tor in die VR China sind herauszuheben.

Diese Periode kann man als ein Wachstumsregime um jeden Preis bezeichnen – das chinesische BIP stieg zwischen 1992-2007 jährlich in einem Korridor zwischen 7,6% und 14,25%. Lokale Parteikader werden in der VR China für ihre Leistungen bewertet und befördert, und wirtschaftliche Entwicklung war seinerzeit das wichtigste Kriterium (Heilmann und Melton 2013). Dies produzierte auch viele bedenkliche Folgen. Nicht nur wurden die städtischen Arbeiter*innen (s.o.) entlassen und ihr Versprechen an lebenslange Versorgung durch den Staat gebrochen. Die ländlichen Arbeitsmigrant*innen waren in den Städten häufig sozial isoliert und benachteiligt. Sie erhielten dort keine offizielle Wohnortregistrierung (hukou 户口), die ihnen u.a. gleichwertige Sozialleistungen und Bildungsplätze für ihre Kinder vor Ort ermöglicht hätten (Liu 2005). Generell enteilten die Einkommen in der Stadt dem Land wieder und man verdiente auch 2022 noch ca. 2,5-fach so viel im urbanen Raum (United Nations 2022: 4). Landesweit ist eine stark ungleiche Entwicklung zwischen reichen Küstenprovinzen und dem ärmerem Westchina zu beobachten (Yang/Hu 2008). Ethnische Minderheiten, einschließlich die in bergigen und abgelegenen Gebieten beheimateten Gruppen, haben weniger Chancen am Wirtschaftsaufschwung zu partizipieren (Zang 2016: 1-17). Zudem ist die Umwelt in erheblichem Maße zerstört worden, was zum Beispiel die Versiegelung von Flächen und die Wasser- sowie Luftqualität betrifft (Lu et al. 2017).

Auch aus diesem Grund legte die Regierung von Hu Jintao ab 2002 einen Schwerpunkt auf den Aufbau der Sozialsysteme und ein nachhaltigeres Wachstum im Rahmen der “Harmonischen Gesellschaft” (heping shehui 和平社会). So wandte sich China zum Beispiel stark dem Ausbau erneuerbaren Energien zu. Zudem zeichnete sich bereits ab, dass die Phase des Hochwachstums absehbar enden würde und China als Produktionsstandort für die Welt zu teuer werden würde. Gefragt waren nun Reformen, welche China selbst zur global führenden Wirtschaftsmacht der Zukunft machen sollen mit einem Wachstumsmodell basierend auf Hochtechnologie, Innovation sowie starkem Konsum und Dienstleistungen.

Seit 2012: Erfolgreicher Weg zum Industriestaat unter Xi Jinping?

Für die gegenwärtige wirtschaftliche Transformation der VR China sei verwiesen auf den Beitrag des Autors bei der Landeszentrale Baden-Württemberg. Dieser behandelt wesentliche Themen dieses anspruchsvollen Prozesses für die VR China hin vom Schwellenland zum Industriestaat. Es werden unter anderem die industriepolitische Strategie „Made in China 2025“, die Zukunft ausländischen Unternehmertums in China, chinesische Investitionen in Europa und globale Handelskonflikte ausführlich thematisiert.

Zhivkov, Sascha. 2024. Die chinesische Wirtschaft. Landeszentrale Politische Bildung Baden-Württemberg: Dossier China. https://www.lpb-bw.de/china-wirtschaft

Ausführliche Informationen folgen in Zukunft. Bei Fragen wenden Sie sich gerne jederzeit an [email protected].

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