
China und das Ausland im Spiegel chinesischer Karikaturen
Wie blickte und blickt man in China auf die Beziehungen zwischen China und dem Ausland? Und wie haben sich diese seit dem letzten Jahrhundert verändert?
Wie blickte und blickt man in China auf die Beziehungen zwischen China und dem Ausland? Und wie haben sich diese seit dem letzten Jahrhundert verändert? Anhand von zwei bekannten chinesischen Karikaturen aus der Zeit um 1900 und aus dem Jahr 2021, arbeiten Sie zwei einflussreiche chinesische Sichtweisen auf die Beziehungen mit dem Ausland heraus. Dabei analysieren Sie außerdem, welche Rolle die Geschichte der ungleichen Beziehungen zwischen China und dem Ausland im 19. und 20. Jahrhundert bis heute in der Volksrepublik China spielt.
Um die Karikaturen in diesem Modul analysieren zu können, sind – neben den ausführlichen Erläuterungen in den weiterführenden Informationen unter den jeweiligen Materialien – auch Hintergrundinformationen zur Rolle der Geschichte und dem Nationalismus in der Volksrepublik China heute notwendig. Denn insbesondere die Betonung der ungleichen Beziehungen zwischen China und dem Ausland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, spielt eine große Rolle für die Legitimität der kommunistischen Partei (KPCh). Dieser Text gibt am Beispiel der Beziehungen zwischen China und dem Ausland im 19. Jahrhundert einen knappen Überblick über die Bedeutung der Geschichte für den von Partei und Staat propagierten chinesischen Nationalismus und damit die Legitimität der kommunistischen Partei Chinas (KPCh).
Die Zeit zwischen dem Opiumkrieg 1840 und der Gründung der Volksrepublik China 1949 wird im Sprachgebrauch der Volksrepublik China als „Jahrhundert der Schande“ (bainian guochi 百年国耻) bezeichnet. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete. Auf kultureller Ebene entwickelten beziehungsweise verstärkten sich in dieser Zeit negative und rassistische Vorstellungen über China und die Chines*innen als rückständig oder minderwertig.
Der Wunsch, Abhilfe zu schaffen für Chinas schwache Position gegenüber dem Ausland wurde entsprechend ein wichtiger Bestandteil des politischen Programmes verschiedener chinesischer Parteien im 20. Jahrhundert.
Für die KPCh war und ist die Überwindung dieses Zustandes auch heute noch eine wesentliche Legitimationsquelle (von Hein 2018): Das „Jahrhundert der Schande“ und die „nationale Schmach“ bilden aus Sicht der Kommunistischen Partei Chinas den Gegenpol zum Aufstieg Chinas seit Gründung der VR China. Es war aus Sicht der Partei Mao Zedong, der mit der Gründung der Volksrepublik China, China als souveränen Staat wieder erstarken lies; und daraufhin Deng Xiaoping, der China durch wirtschaftliche Reformen wieder reich machte. Der aktuelle Staatschef Xi Jinping sieht es nun als seine Aufgabe an, dem Land seinen „rechtmäßigen“, einflussreichen Platz, den es vor dem 19. Jahrhundert innehatte, zurückzuführen und so, mit seinem „Chinesischen Traum“ (Zhongguo meng 中国梦) eine „Renaissance des chinesischen Volkes“ (fuxing 复兴) zu bewirken.
Patriotische Erziehung
Dieses Geschichtsnarrativ des „Jahrhunderts der Schande“ – der chinesischen Machtlosigkeit gegenüber dem Ausland – wird insbesondere seit den 1990er-Jahren von Partei und Staat in der Volksrepublik China propagiert. 1989 zeigten die großen Proteste in Beijing und anderen Städten des Landes der Kommunistischen Partei Chinas, dass ihre Rolle als Staatspartei in der Bevölkerung angezweifelt wurde. Als Antwort auf diese Legitimitätskrise begann die Partei Patriotismus und Nationalismus noch stärker zu propagieren und sich selbst als oberste patriotische Instanz darzustellen – sie starteten eine Kampagne der patriotischen Erziehung (Wang 2008; Wang 2012, 120–141).
Anders als noch unter Mao Zedong, als vor allem der Klassenkampf in der offiziellen Geschichtsschreibung betont wurde, wurden nun die Aktionen ausländischer Mächte seit den Opiumkriegen stärker in den Blick genommen – die Volksrepublik China wurde vor allem als Opfer dieser Mächte, die Chinas Entwicklung zurückhielten, dargestellt (Wang 2012, 100-104). Durch den stetigen Rückbezug auf diese kollektiven Traumata, die vor dem Hintergrund der glorreichen chinesischen Tradition, umso bitterer hervorstechen, konnte zum einen der Patriotismus und das Nationalbewusstsein der jungen Generation gestärkt werden, zum anderen konnten westliche Ideen abgewertet werden.
Um dieses Geschichtsbild in die Bevölkerung zu tragen und dort zu verankern, griffen Staat und Partei auf verschiedene Mittel zurück: Erstens wurde die Bedeutung des Geschichtsunterrichts weiter erhöht (Jones 2002, 564–565): Ab 1992 wurde beispielsweise die moderne chinesische Geschichte zu einem Pflichtfach für alle Schüler*innen weiterführender Schulen und Wissen hierzu wurde in der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao 高考) abgefragt (Wang 2012, 103). Über einen zentralen Lehrplan für das Fach Geschichte konnte die Partei klare inhaltliche und somit ideologische Vorgaben machen (Jones 2007, 126-153).
Zweitens wurden Denkmäler, Museen und historische Stätten im ganzen Land als „Basen der patriotischen Erziehung“ (aiguozhuyi jiaoyu jidi 爱国主义教育基地) gekennzeichnet (Wang 2012, 104-108). Nicht nur Schulklassen sollen diese besuchen, sondern auch Arbeitseinheiten sind verpflichtet, Ausflüge dorthin zu organisieren. Neben Orten, die in der Geschichte des kaiserzeitlichen Chinas, der Volksrepublik China und der KPCh eine wichtige Rolle spielen, wurden auch viele Stätten, die symbolisch für das „Jahrhundert der Schande“ und „ausländische Aggression“ stehen, in die Liste der „Basen der patriotischen Erziehung“ aufgenommen (Wang 2012, 105).
Drittens wurden seit den 2000er-Jahren verstärkt neue Ansätze der patriotischen Erziehung propagiert. Ab 2004 begann die Partei beispielsweise den sogenannten „roten Tourismus“ (Hongse lüyou 红色旅游) zu fördern. Bedeutende Stätten der Geschichte des kommunistischen Chinas wurden zu Tourismusattraktionen umgewidmet (Denton 2013, 214-242). Außerdem wurde versucht, Unterhaltung und patriotische Erziehung zu verbinden: Eine wichtige Rolle spielen dabei staatlich geförderte Filme – sogenannte „Main Melody“–Filme (zhuxuanlü dianying 主旋律电影), die historische Ereignisse in der aus KPCh-Sicht korrekten Interpretation populär aufbereiten (Trausch 2019). Viele dieser Filme handeln auch von der Geschichte der Kommunistischen Partei: Die Geschichtspolitik der KPCh sorgt also dafür, dass Patriotismus immer auch die Liebe zur Partei umfasst, und dass so Staat und Partei quasi als eins betrachtet werden.
Anstieg des Nationalismus?
Die Verbreitung eines patriotischen Geschichtsbilds, das die KPCh als die Kraft sieht, die China aus der Ausbeutung durch ausländische Staaten befreit hat, ist zusammen mit dem chinesischen Wirtschaftswachstum sowie dem Anstieg des Lebensstandards (und damit einhergehend der Entstehung einer chinesischen Mittelschicht), wohl einer der Gründe für die anhaltende Legitimität der KPCh in der Volksrepublik China. Im Internet der Volksrepublik China – das von Partei und Staat stark zensiert wird – sind daher auch viele patriotisch-nationalistische Stimmen zu finden (wie beispielsweise die Karikatur „Die letzten G7“ aus dem Jahr 2021).
Schnell können dabei auch ausländische Firmen den Zorn von Chinas Online-Patriot*innen erregen: Seit 2017 gerieten auch deutsche Firmen wie Audi, BMW oder Leica in verschiedene Shitstorms im chinesischen Internet – Audi beispielsweise, weil es auf einer Pressekonferenz Karten zeigte, auf denen Taiwan nicht als Teil Chinas eingezeichnet war (Lohse-Friedrich 2019). Ausländische Medien sehen Vorfälle dieser Art als Anzeichen für den zunehmenden Nationalismus in der Volksrepublik China – gerade auch unter jungen Menschen und im Internet (Fang 2019; Lu 2021; Lu 2019; Yue 2019).
Auf den ersten Blick scheint die Strategie von Partei und Staat seit den 1990er-Jahren also erfolgreich gewesen zu sein. Doch werden die Bürger*innen der Volksrepublik China tatsächlich immer nationalistischer? Die Forschung zum Nationalismus in der Volksrepublik China sieht dies teils differenzierter: Analysen von Umfragen aus Beijing deuten darauf hin, dass die chinesische Jugend wahrscheinlich weniger nationalistisch eingestellt ist als noch ihre Elterngeneration (Johnston 2016).
Als Hauptstadt der Volksrepublik China mögen Umfragen aus Beijing verzerrt sein. Doch die Meinungsäußerungen im chinesischen Internet sind kaum repräsentativ für ganz China: Andere Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass chinesische Internetuser – was die Außenpolitik angeht – im Durchschnitt militantere Ansichten vertreten als Nicht-Internetnutzer (Weiss 2019). Doch ähnlich wie in anderen Ländern verstärken auch in der Volksrepublik China soziale Medien die Sichtbarkeit von radikale(re)n Meinungen – auch im dortigen Internet gibt es neben den lauten nationalistischen Stimmen andere Meinungen (Fang 2019; Kuo 2021; Schneider 2018, 197).
Die Entwicklung des chinesischen Online-Nationalismus ist also nicht nur ein staatlich gelenkter, top-down Prozess: Oftmals entstehen Shitstorms, Kampagnen oder Karikaturen in der nationalistisch-patriotischen Internetszene und werden erst später von staatlichen Institutionen aufgegriffen. Auch private Medien oder Blogs befeuern den nationalistischen Diskurs im Internet, um mehr Klicks zu erhalten (Fang 2019). Staat und Partei haben allerdings auch ein Interesse daran, dass nationalistische Diskussionen im chinesischen Internet nicht zu mächtig werden und chinesische Netizens die Außenpolitik der VR China als nicht nationalistisch genug anprangern (Han 2017; Fang 2019). Durch die Zensur, die seit dem Regierungsantritt Xi Jinpings 2012 im digitalen Raum stetig ausgebaut wurde, haben Staat und Partei jedoch weiterhin mächtige Werkzeuge zur Kontrolle und Steuerung des Internets (Creemers 2015).
Jonas Schmid, 08.09.2021
Verwendete Literatur
Die Schüler*innen können...
Karikaturen sind Darstellungen, die gesellschaftliche und politische Zustände durch Übertreibungen kritisch darstellen und beleuchten. Im deutschen Wort Karikatur ist noch der spätlateinische Ausdruck „carricare“ – „überladen“ beziehungsweise „übertreiben“ – erkennbar. Im chinesischsprachigen Raum entwickelten sich Karikaturen im europäischen Sinne Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als Chinesen in den kolonialen Pachtgebieten – inspiriert vom Vorbild ausländischer Karikaturen und Karikaturzeitschriften – diese Kunstform nach China brachten. Getragen von der schnellen Entwicklung der chinesischen Zeitungswelt wurden Karikaturen (manhua 漫畫) schnell zu einem festen Bestandteil der chinesischen Kultur.
Karikaturen sind stark zeitgebunden: Sie nehmen Bezug auf beziehungsweise kritisieren aktuelle Entwicklungen, Ereignisse oder Personen. Ohne Kenntnisse über den zeitlichen Hintergrund kann eine Karikatur kaum verstanden werden. Die Arbeit mit den hier verwendeten Karikaturen setzt daher Vorwissen zur jüngeren chinesischen Geschichte voraus (insbesondere Karikatur M1.1 „Ein Bild der aktuellen Lage“) und bietet sich daher als Vertiefung zur Arbeit mit der Zeitleiste an: Nachdem die Schüler*innen sich einen Überblick über die chinesische Geschichte seit 1800 erarbeitet haben, kann anhand der Karikatur M1.1 „Ein Bild der aktuellen Lage“ das Wissen zu Chinas Geschichte bis 1900 und die Beziehungen zwischen China und dem Ausland wiederholt und vertieft werden. Alternativ können zur Analyse der Karikatur M1.1 „Ein Bild der aktuellen Lage“ auch die Glossareinträge „Ungleiche Verträge“ und „Jahrhundert der Schande“ als Hilfestellung den Schüler*innen gegeben werden.
Anhand der Karikatur M1.2 „Die letzten G7“ können die aktuellen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und dem Ausland (USA, EU, Japan) herausgearbeitet und analysiert werden. Die Karikatur zeigt eine chinesische Perspektive auf den Konflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China auf. Durch den abschließenden Vergleich der beiden Karikaturen kann Chinas gestiegene Bedeutung in Weltwirtschaft und internationaler Politik in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt werden.
Folgende Analyseschritte und Fragestellungen können bei der Arbeit mit Karikaturen im Unterricht hilfreich sein:
- Bildbetrachtung und -beschreibung: Was ist auf der Karikatur zu sehen? Wie stehen die einzelnen Teile der Karikatur in Zusammenhang zueinander? Gibt es eine Unterschrift, Überschrift oder sonstige textliche Ergänzung? Wie stehen Text- und Bildelemente in Verbindung zueinander?
- Entschlüsselung der Karikatur: Wer oder was wird dargestellt? Was ist der zeitliche Hintergrund? Auf welche Situation oder Entwicklung nimmt die Karikatur Bezug?
- Analyse der Karikatur: Was ist die Aussage der Karikatur? Wer oder was wird wie bewertet (das heißt zum Beispiel gelobt oder kritisiert)? Welche Intention hat der*die Künstler*in?
- Gegebenenfalls: Bewertung und Kritik der Karikatur: Welche Übertreibungen des*der Künstlers*in müssen differenzierter gesehen werden? Welche (stereotypen) Darstellungsformen sind problematisch und warum? Was wird in der Karikatur nicht dargestellt? Inwiefern ist die Aussage der Karikatur zutreffend?
Diese kurze Auflistung zeigt bereits, dass die Deutung und Analyse von Karikaturen hochkomplex ist. Für die Analyse der folgenden zwei Karikaturen sollte daher im Unterricht ausreichend Zeit eingeplant werden. Außerdem bietet sich die Arbeit in Gruppen an, sodass die Lehrkraft je nach Vorwissen und Schnelligkeit der Schüler*innen entsprechend Hilfestellung geben kann. Es empfiehlt sich für Lehrer*innen vor der Beschäftigung mit den Karikaturen im Unterricht die weiterführenden Informationen zu den jeweiligen Karikaturen durchzulesen. Dort ist jeweils eine Analyse der wesentlichen Bestandteile und Aussagen der Karikatur zu finden.
Eine mögliche Transferaufgabe im Anschluss an die Analyse der Karikaturen kann sein, die Schüler*innen einen Brief an den chinesischen Zeichner der Karikatur M2 „Die letzten G7“ verfassen zu lassen. Darin können die Schüler*innen nicht nur kritisch Stellung beziehen zu den Aussagen der Karikatur, sondern sollen auch Lösungswege zur Überwindung der soziokulturellen und interessensbestimmten Barrieren entwickeln. So können die Schüler*innen Konfliktlösungsstrategien für ihr zukünftiges Berufsleben in einer globalen Welt ausprobieren und schärfen.
Als produktive Transferausgabe können die Schüler*innen auch selbst eine Karikatur entwickeln. Wenn die Schüler*innen bereits zuvor (zum Beispiel mit der Zeitleiste) einen Überblick über die chinesische Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert gewonnen haben, können sie zum Beispiel die Beziehungen zwischen China und dem Ausland zu einem bestimmten Zeitpunkt (zum Beispiel: 1900/1901, 1919, Zweiter Weltkrieg, 1950er-Jahre, Kulturrevolution, 1980er-Jahre etc.) aus chinesischer, deutscher oder US-amerikanischer Perspektive kritisch und überspitzt in einer Karikatur darstellen. Um die Erstellung einer Karikatur vorzubereiten, können die Schüler*innen zuerst die folgende Tabelle ausfüllen, in der sie die Bild- und Textelemente vorstrukturieren.
Jonas Schmid
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Jonas Schmid
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