
Freiheitskampf oder Separatismus?
Die Hongkonger Protestbewegung 2019
Thematische Einführung
Hinweis: Da das Modulthema zum Zeitpunkt der Abfassung 2021/2022 noch sehr aktuell ist, sind viele der beschriebenen Ereignisse bisher am besten über Medienberichte dokumentiert. Für die Erarbeitung wurden aber dort, wo dies möglich ist, ergänzend bereits verfügbare wissenschaftliche Quellen eingebunden, um den weiteren Kontext zu beleuchten.
Die ab 2019 aufflammenden Proteste in Hongkong, gegen die die Regierung der Volksrepublik China hart vorgeht, sind nicht die ersten ihrer Art. Bereits 2014 wurden Aufrufe zu mehr Demokratie in Hongkong unter der Bezeichnung Regenschirmbewegung (Umbrella Movement yusan yundong 雨傘運動) zusammengefasst und weltweit bekannt. Wie ist es zu erklären, dass in den letzten Jahren in Hongkong immer wieder großangelegte Demonstrationen stattfinden, während man vergleichbar große Bewegungen auf dem chinesischen Festland im gleichen Zeitraum vergeblich sucht? Ein Blick auf die historische Entwicklung der heutigen Sonderverwaltungszone gibt hierüber Aufschluss.
Der Erste Opiumkrieg und der Vertrag von Nanjing
Bis zum Ausbruch des Opiumkrieges zwischen der Qing-Dynastie und dem Vereinten Königreich im Jahr 1839 gab es auf den Inseln, die heute zu Hongkong gehören, viele kleinere Fischerorte und im Inland Siedlungen, deren Bewohner*innen Ackerbau betrieben (Faure 1997, 15–16). Im Laufe des Ersten Opiumkrieges (1839-1842, vgl. auch Zeitleisteneintrag) wurde dieser Standort von britischen Truppen besetzt und als Militärbasis verwendet. 1841 lebten auf der Insel Hongkong circa 7.000 Menschen. Obwohl von vergleichsweise kleiner Fläche, lag die Insel doch strategisch günstig am Eingang des wirtschaftlich bedeutenden Perflussdeltas im Süden Chinas (Dabringhaus 2020; Hayes 1984). Bereits seit Jahrtausenden siedelten in der Region Menschen und seit Jahrhunderten war sie internationaler Handelsknotenpunkt zwischen China, Südostasien und später dann auch europäischen Händlern gewesen. Auch der Name Hongkong zeigt dies: „Duftender Hafen” (auf Hochchinesisch: Xianggang 香港) spielt auf die Räucherhölzer (xiang 香) an, die dort seit Jahrhunderten gehandelt wurden. Die Umschrift Hongkong leitet sich von einer regional genutzten kantonesischen Aussprache von 香港 ab (Wei 2014).
Nachdem die Qing-Dynastie den Ersten Opiumkrieg 1842 verloren hatte, wurde im Vertrag von Nanjing festgehalten, dass die Insel Hongkong und die gegenüber liegende Halbinsel Kowloon 九龍 für immer (in perpetuity) an Großbritannien abgetreten werden mussten. Nach Ende des Zweiten Opiumkrieges (1856-1860) fielen weitere Territorien der heutigen Sonderverwaltungszone an das Vereinigte Königreich (Lovell 10.05.2012; Szczepanski 09.06.2020). Als sich in den 1890er-Jahren verschiedene ausländische Staaten (darunter Deutschland und Japan) mit Verträgen Stützpunktkolonien in China sicherten (vgl. hierzu Erklärvideo im Kolonialismus-Modul), nutzte Großbritannien die Chance: 1898 zwang es China einen weiteren Vertrag auf, in dem es große ländliche Gebiete nördlich von Hong Kong Island und Kowloon für 99 Jahre von China pachtete – die sogenannten Neuen Gebiete (New Territories xinjie 新界). (Dabringhaus 2020) Diese waren wichtig für die Anbindung der Insel an das Festland sowie für die Versorgung von Hong Kong Island und Kowloon. Mit der Festlegung des Endes der Pachtlaufzeit auf das Jahr 1997 war für die New Territories zugleich ein absehbarer Wendepunkt definiert, an dem die verpachteten Gebiete wieder an China zurückgehen sollten. Dies unterschied Hongkong (bzw. das Gebiet der New Territories) von den übrigen an ausländische Mächte abgetretenen Gebieten auf dem Festland, die aufgrund ihres anderen Status als extraterritoriale Gebiete bereits früher wieder an China zurück gingen. (Zur besonderen Situation von Macao wird in Kürze ein Glossareintrag zu Macao erstellt.)
So erklärt sich mit einem Blick auf die Stadtgeschichte, warum gerade Hongkong einen solch „wunden Punkt“ im chinesischen Selbstverständnis darstellt: Seine Übernahme mit dem Vertrag von Nanjing im Jahre 1842, dem ersten der sogenannten „Ungleichen Verträge“ – die die Souveränität Chinas in vieler Hinsicht beschnitten und bis heute als Symbol nationaler Demütigung empfunden werden (Vogelsang 2019, 285; The Editors of Encyclopedia Britannica 16.12.2019) – steht heute nicht nur für den ersten signifikanten Verlust von chinesischem Territorium an eine Kolonialmacht, sondern auch für den Beginn des so genannten „Jahrhunderts der Schande“ (bainian guochi 百年国耻, vgl. hierzu auch das Modul China und das Ausland im Spiegel chinesischer Karikaturen sowie den Eintrag „Ende der ungleichen Verträge“ 1942-1947 im Modul Zeitleiste). „Das Jahrhundert der Schande“ ist ein für das heutige chinesische Selbst- und Geschichtsverständnis zentraler Begriff, der den Zeitraum ab dem Ausbruch des Opiumkrieges beschreibt und erst mit der Gründung des „Neuen China“ durch die Kommunistische Partei Chinas 1949 endete. Geprägt war dieses Jahrhundert von den als nationale Demütigung empfundenen kolonialen Einflüssen (von Hein 07.05.2018). Der Wunsch, die „Ungleichen Verträge“ abzuschaffen und China zu alter Stärke zurückzuführen wurde ein wichtiger Bestandteil des politischen Programms verschiedener chinesischer Parteien im 20. Jahrhundert und Hongkong wurde so zu dem Symbol schlechthin für die Einschränkung der chinesischen Souveränität.
Hongkong als britische Kolonie
Die britische Kronkolonie Hongkong wurde bis 1997 von einem mit vielen Befugnissen ausgestatteten britischen Gouverneur autoritär regiert. Der Gouverneur wurde jeweils von London ernannt und unterstützt durch einen gesetzgebenden Rat (Legislative Council, kurz LegCo), der nicht frei gewählt, sondern zur Hälfte vom Gouverneur und zur Hälfte mit Beamten ex officio besetzt wurde (Fong 02.01.2021, 199). Durch die Nähe zu anderen südchinesischen Handelshäfen sowie den Zuzug chinesischer Händler und britischer Handelsfirmen entwickelte sich Hongkong nach 1842 in recht kurzer Zeit zu einer der bedeutendsten chinesischen Handelsmetropolen. Auch die Bevölkerung wuchs entsprechend schnell: von 33.000 im Jahre 1851 auf 386.000 im Jahre 1901, 1931 dann um die 840.000 Menschen. (Bickers 1997; Dabringhaus 14.02.2020)
Die britische Politik gegenüber der chinesischen Bevölkerung Hongkongs war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von Diskriminierung beispielsweise in der Rechtsprechung, im Zugang zu privilegierten Wohngegenden oder zu öffentlichen Ämtern geprägt. Soziale Dienstleistungen für die chinesische Bevölkerung wie Krankenhäuser wurden vornehmlich von lokalen chinesischen Eliten bereitgestellt. (Tsang 2004, 47–70; Dabringhaus 14.02.2020; Munn 2001) Immer wieder kam es daher zu sozialen Protesten der chinesischen Bevölkerung (z.B. zu Preiserhöhungen bei Busfahrten, Mieten), die jedoch nur selten größere Ausmaße annahmen.
Das Festland China und Hongkong blieben gleichzeitig eng miteinander verbunden: Hongkong diente als Rückzugsort für Revolutionäre, die 1911 die Qing-Dynastie stürzten (vgl. Zeitleiste, Eintrag zu zu 1911: „Die Republik China“). Gleichzeitig zeigen der von Guomindang und Kommunistischer Partei angeführte Generalstreik in Hongkong 1925 oder die Unruhen in Hongkong während der Kulturrevolution in China 1967, dass auch politische Parteien vom Festland Einfluss auf die Hongkonger Bevölkerung hatten.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Hongkong im Dezember 1941 von japanischen Truppen erobert und erst 1945, nach Japans Niederlage, an Großbritannien zurückgegeben. Die Bevölkerung wuchs in den nächsten Jahren weiter stetig an – auch durch Flüchtlinge aus der 1949 gegründeten Volksrepublik China. In den 1960er-Jahren entwickelte sich Hongkongs Industrie (insbesondere die Textilindustrie) rasant, was wiederum zu einem Anstieg des Lebensstandards führte. (Tsang 2004, 160–75) Auch angetrieben von Protesten der chinesisch-sprachigen Bevölkerung begann die britische Kolonialregierung nun erstmals, stärker in soziale Wohlfahrt (sozialen Wohnungsbau, Krankenhäuser, Bildungssystem) zu investieren (Jacobs 27.10.2014; Scott 1989). Die Verwaltung wurde für die nicht-britische Bevölkerung Hongkongs geöffnet, damit zugleich deren Einfluss auf die Politik erhöht und Chinesisch als zweite offizielle Amtssprache eingeführt. Für die Schriftsprache wurden Langzeichen verwendet, gesprochen wurde (und wird bis heute) mehrheitlich Kantonesisch.
Demokratische(re) Strukturen wie etwa das allgemeine Wahlrecht wurden unter britischer Herrschaft nur ansatzweise ab den 1980er Jahren und etwas weitergehender, aber keineswegs uneingeschränkt in den 1990er-Jahren eingeführt.1So nahm beispielsweise Gouverneur Patten schon 1995 Änderungen an der Zusammensetzung des Legislativrats vor, die eigentlich erst für die Zeit nach der Übergabe vorgehen waren. Erstmalig wurden 20 der 60 Legislativrat-Abgeordneten direkt gewählt. Mit Hilfe weiterer formeller Änderungen sollte ferner zumindest theoretisch eine „beijingkritische“ Mehrheit im Legislativrat ermöglicht werden. Die chinesische Regierung sah in diesen vorgezogenen Maßnahmen eine rechtswidrige Auslegung des Basic Law. (Schubert 2013, 238) (Tsang 2004, 180–205) Trotz fehlender demokratischer Institutionen ermöglichten die vorhandenen Freiheiten und rechtsstaatliche Prinzipien in der Kolonie Hongkong die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, die sich jedoch im Wesentlichen erst nach der Rückgabe der Stadt politisierte, wofür nicht zuletzt die Laissez-Faire-Politik der Regierung mitverantwortlich war (Loh 2007).
Bei der wirtschaftlichen Öffnung Chinas seit den 1980er-Jahren spielte Hongkong eine wichtige Rolle: Die Industrie (vor allem arbeitsintensive Sektoren) wanderte aufs Festland ab und Hongkong wurde zum Umschlagplatz chinesischer Handelsgüter. Die Stadt entwickelte sich außerdem zu einem bedeutenden Finanzstandort, über den ausländische Investitionen in der Volksrepublik China abgewickelt wurden. (Tsang 2004, 176–79; T. Cheung und Chung 21.11.2018)
Die 1980er Jahre: Verhandlungen über das Ende der Kolonialzeit in Hongkong
Mit dem herannahenden Ende des Pachtzeitraums gab es nicht zuletzt aufgrund von wirtschaftlichen Fragen (z.B. Kredite für den Ausbau großer Infrastruktur wie des Metrosystems) eine Dringlichkeit, sich über die Zukunft Hongkongs einig zu werden. Während Großbritannien sich auf die drei Verträge berief, mit denen im 19. Jahrhundert der Status von Hongkong geregelt wurde, lehnte Deng Xiaoping (邓小平 1904-1997) 1982 erstmals auch in einer öffentlichen Erklärung alle Vorschläge Großbritanniens ab und bestand auf einer Rückgabe der Souveränität an die aus seiner Sicht designierte Rechtsnachfolgerin der Qing-Dynastie und der Republik China: an die Volksrepublik China. Deng Xiaoping sicherte die Fortführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems über die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone zu, die in der Folge in die Verfassung der VR China (Art. 31) aufgenommen wurden. Die Verhandlungsergebnisse wurden 1984 in der Sino-British Joint Declaration (Gemeinsame Sino-Britische Erklärung) festgehalten. Diese sah für 50 Jahre nach der Rückgabe an China eine weitgehende Autonomie für Hongkong vor, was auch als „Ein Land, zwei Systeme“-Prinzip (“one country, two systems” yiguo liangzhi 一国两制) bezeichnet wird. Hongkong sollte demnach sein demokratisch geprägtes System und seine freie Marktwirtschaft sowie weitreichende bürgerliche Freiheiten beibehalten, aber gleichzeitig wieder ein Teil der Volksrepublik China werden. (Federal Foreign Office 29.05.2020; „Sino-British Joint Declaration on the question of Hong Kong (initialled text)“ 1984) Mit der Erarbeitung eines verfassungsähnlichen Dokuments, des sog. „Basic Law“, betraute der Nationale Volkskongress der VR China 1985 einen Parlamentarischen Rat. 23 der insgesamt 59 Ratsmitglieder vertraten die Interessen Hongkongs. Nach mehreren Konsultationsrunden in Hongkong trat das Basic Law als verfassunggebendes Dokument mit der Rückübertragung an die VR China zum 1. Juli 1997 in Kraft.
Regierungssystem nach 1997
Das Modell, das für Hongkong für die Zeit nach der Übergabe an die VR China gewählt wurde, ist das einer Sonderverwaltungsregion (auch: Sonderverwaltungszone; Hong Kong Special Administrative Region, Xianggang tebie xingzhengqu 香港特别行政区). Basierend auf den Regelungen für Sonderverwaltungszonen in Art. 31 der chinesischen Verfassung wird Hongkong damit unmittelbar der Zentralregierung in Beijing unterstellt. Zugleich regelt ein „verfassunggebendes Dokument“, das Basic Law, die unter dem Begriff „Ein Land, zwei Systeme“ zusammengefassten Besonderheiten. Diese wurden für 50 Jahre festgeschrieben und betreffen insbesondere die Fortführung des bestehenden Wirtschaftssystems und das Festhalten am britischen Common Law.
Von der Machtübertragung an die Hongkonger Regierung ausgeschlossen bleiben generell militärische Verteidigung und Außenpolitik. Das Hongkonger Regierungssystem (dargestellt in einer Grafik, wird als Einzelmaterial bereitgestellt) sieht vor, dass die Regierungschef*in (Chief Executive, seit 2017 Carrie Lam, 1957- kantonesisch Lam Cheng Yuet-ngor 林郑月娥) umfangreiche exekutive Machtbefugnisse hat und einen Exekutivrat ernennt, dem eine beratende Funktion zukommt.
Die Wahl des Regierungschefs/-chefin wird von einem Wahlausschuss (Election Commitee) durch Abstimmung über die angetretenen Kandidat*innen vorbereitet, ernannt wird der/die gewählte Kandidat*in dann von der Zentralregierung in Beijing.
Die Regierungschefin ist u.a. für die Umsetzung des „Basic Law“, die Unterzeichnung von Gesetzesentwürfen und Haushaltsplänen, die Verkündung von Gesetzen, Entscheidungen über Regierungspolitik und den Erlass von Durchführungsverordnungen zuständig. Das Hongkonger Parlament (Legislativrat/Legislative Council“, „LegCo“) ist nicht als vollwertiges Parlament im demokratischen Sinne einzustufen, da bei der Wahl der Mitglieder die Wählerstimmen der Hongkonger Bürger*innen nicht alle gleich gewichtet werden: Seit 2021/2022 sind nur 20 der 90 Sitze unmittelbar von den Wähler*innen zu wählen, 40 werden vom Wahlausschuss bestimmt und 30 von sog. Funktionswahlkreisen. Diese Funktionswahlkreise setzen sich aus Einzelpersonen sowie aus Institutionen wie z.B. Gewerkschaften zusammen. Resultat dieser Konstellation ist eine ungleiche Gewichtung von Wählerstimmen.
Die unterste Ebene des politischen Systems ist die Distriktebene. In den 18 Distrikten wurde erst 1982 zum ersten Mal ein Anteil der Mitglieder vom Wahlvolk gewählt. Die Unabhängigkeit dieser Gremien von der Regierung war jedoch in der Folge sehr umstritten. 2019 hatte sich der Anteil der direkt von den Bürger*innen gewählten Vertreter immerhin auf 2/3 der Sitze gesteigert, ein Drittel wurde aber weiterhin von der Regierungschefin bestimmt. Die Erfolge demokratischer Kandidat*innen bei den Distriktwahlen 2019 (s. unten) wurden als wichtiger Hinweis auf den tatsächlichen Willen der Bürger*innen gewertet.
Im März 2021 erließ der Nationale Volkskongress in Beijing Vorgaben für eine Neugestaltung des Verfahrens zur Wahl des Regierungschefs und des Legislativrates. Gemäß Annex 1 des Basic Law muss der Wahlausschuss, der den Regierungschef wählt, repräsentativ sein. Die 1.500 Mitglieder des Wahlausschusses vertreten daher fünf Sektoren, die jeweils 300 Stimmen erhalten. Diese Sektoren sind Industrie/Handel, Berufsvertretungen, Zivilgesellschaft, LegCo Mitglieder, Vertreter Hongkongs im Nationalen Volkskongress, der Politischen Konsultativkonferenz und anderen nationalen Organisationen. Die 2021 mit der Ausweitung von 1.200 auf 1.500 Personen geschaffenen neuen Plätze im Wahlausschuss gingen an pro-Beijing-Gruppen. Für die Wahl des Regierungschefs gilt nun: Mindestens 180 Stimmen aus allen fünf Sektoren des Wahlausschusses sind notwendig, um nominiert zu werden und mindestens 750 Stimmen, um gewählt zu werden. Problematisch daran ist: Wenn einer der fünf Sektoren einen Kandidaten nicht unterstützt, kann dieser nicht antreten. 2021 wurde weiterhin auch der den Wahlausschuss wählende Personenkreis gegenüber 2016 erheblich von ~245.500 auf ~7.800 Personen verkleinert. Parallel wurde der Aufgabenkreis des Wahlausschusses erheblich ausgeweitet: Neben der Wahl des Chief Executive ist das Gremium nun auch für die Auswahl von 40 Parlamentsabgeordneten aus den eigenen Reihen zuständig.
Ganz zentral ist für alle diese Wahlvorgänge die 2021 veranlasste Einrichtung eines vom Regierungschef zu berufenden „Ausschuss für Kandidaturen in der Sonderverwaltungsregion Hongkong” 选人资格审查委员会 xuǎn rén zīgé shěnchá wěiyuánhuì. Dieser prüft und bestätigt die Qualifikation der Kandidaten für die Wahl als Mitglieder des Wahlausschusses, der Kandidaten für das Amt des Regierungschefs und der Kandidat*innen für die Wahl des Legislativrats – wobei die patriotische Gesinnung der Kandidat*innen als ausschlaggebendes Kriterium definiert wurde. Die Entscheidungen dieses Gremiums sind nicht anfechtbar. Der Einfluss dieses Ausschusses für Kandidaturen auf die Wahlen schränkt das passive und das aktive Wahlrecht erheblich ein. (Legislative Council Secretariat 2022; The Legislative Council Commission 2022; Constitutional and Mainland Affairs Bureau 1.05.2021; Drinhausen 22.12.2021)
Zivilgesellschaft nach der Übergabe
Einen ersten, entscheidenden Impuls hin zu einer Politisierung der Zivilgesellschaft in Hongkong gaben die Proteste, die zunächst in unmittelbarer Reaktion auf die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz 1989 und dann jedes Jahr in Erinnerung an Tiananmen in Hongkong organisiert wurden (vgl. auch unten Absatz Identitätsfindung als Hongkonger*innen).
Die Jahre seit der Wiedereingliederung 1997 waren dann von aktiver bürgerlicher Teilhabe an der Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen geprägt, oftmals in Form großangelegter Proteste gegen politische Maßnahmen. So demonstrierten etwa 2002 und 2004 hunderttausende Hongkonger*innen gegen die Umsetzung von Artikel 23 des Basic Law, der die Hongkonger Regierung zur Einführung eines Anti-Subversionsgesetzes ermächtigte, das vielfach als Vorläufer des jüngst beschlossenen Nationalen Sicherheitsgesetzes verstanden wird (National Security and Fundamental Freedoms 2005, 1–10; Kuo und Davidson 02.06.2020). Dieser erste Anlauf zu einem Anti-Subversionsgesetz wurde in der Folge dann allerdings nochmal zurückgezogen. 2012 demonstrierten 120.000 Hongkonger*innen mehr als zehn Tage gegen die Einführung des Schulfaches National Education, worauf hin das Fach nur als „optional“ in den Lehrplan aufgenommen wurde. Diese Demonstration wurde unter anderem von der pro-demokratischen Aktivistengruppe namens Scholarism initiiert. Gründungsmitglied von Scholarism ist der bekannte Aktivist Joshua Wong.
Eine weitere international bekannt gewordene Protestbewegung war darüber hinaus die auch als Umbrella Movement bekanntgewordene Occupy Central-Bewegung, die sich ab 2014 für allgemeine und freie Wahlen sowie die uneingeschränkte Aufstellung zur Wahl des Chief Executive und direkte Wahlen des Legislativrats (Legislative Council, LegCo, (Lifahui 立法會) einsetzte. (Umbrella / Regenschirm, weil sich die Demonstrant*innen mit Regenschirmen vor dem Einsatz von Tränengas schützten. ”Central“ ist das Geschäfts- und Finanzzentrum der Stadt – vgl. Glossareintrag oben.)
Die Protestbewegung 2019
Vor diesem Hintergrund einer aktiven und spätestens nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz 1989 auch politisch motivierten und streitbaren Zivilgesellschaft, die jedoch nur über eingeschränkte Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe verfügt, sind auch die jüngsten, 2019 ausgebrochenen Proteste zu verstehen (F. L. F. Lee, Yuen, und Cheng 2019).
Konkret richteten sich diese zunächst gegen eine geplante Gesetzesänderung, die unter anderem Auslieferungen an das chinesische Festland erlaubt hätte, dessen Justizsystem nicht an rechtsstaatliche Prinzipien gebunden ist (offizielle Bezeichnung des Gesetzesentwurfes: „Gesetzentwurf zu flüchtigen Straftätern und Rechtshilfe in Strafsachen", The Fugitive Offenders and Mutual Legal Assistance in Criminal Matters Legislation Bill, eingebracht im Februar 2019). Anlass für die geplante Gesetzesänderung war nach offizieller Darstellung der Mord eines Hongkonger Bürgers an seiner Freundin in Taiwan. Der Täter konnte nicht zur Strafverfolgung nach Hongkong ausgeliefert werden, weil entsprechende Verträge nicht bestanden (Szabó de Bucs 29.07.2019; Au 2020, Kap. overview). Schnell wurden diese Proteste jedoch zu einem umfangreicheren Ruf nach mehr Demokratie, allgemeinem Wahlrecht und einer generellen Einschränkung des zunehmenden Einflusses Beijings in Hongkong, konsolidiert im Symbol der von vielen Demonstrant*innen erhobenen offenen Hand, deren fünf Finger die sogenannten „five demands“ symbolisierten. Konkret forderten die Demonstrant*innen:
- Die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes
- Die Beendigung der Bezeichnung der Demonstrat*innen als “Aufrührer*innen/Randalierer*innen”
- Die Anklagen gegen Demonstrant*innen fallen zu lassen
- Die Durchführung unabhängiger Untersuchungen des Verhaltens der Polizei
- Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts sowohl für den Legislativrat als auch für den Chief Executive
(Chow 2019, 8)
Obwohl der Gesetzesentwurf infolge der Proteste zunächst zurückgestellt und schließlich auch formell zurückgezogen wurde (Kuo und Yu 04.09.2019), riss der öffentliche Widerstand im Laufe des Sommers 2019 nicht ab. Im Juli drangen hunderte Demonstrant*innen in den Legislativrat ein und besprühten die Wände mit Graffiti (BBC News o.A. 30.07.2019). Im Laufe des Sommers organisierten tausende Demonstrant*innen mehrfach Sitzblockaden am Hongkonger Flughafen und erzwangen so zeitweise das Aussetzen aller planmäßigen Flugverbindungen (Regan, Westcott, und Yeung 19.08.2019). Zudem unterbrachen die Demonstrant*innen immer wieder den Betrieb der MTR, der Hongkonger U-Bahn, errichteten Barrikaden und blockierten Straßen (BBC News o.A. 30.07.2019). Im November 2019 besetzten hunderte Demonstrant*innen die Hong Kong Polytechnic University (Xianggang ligong daxue 香港理工大學) und verhinderten tagelang ein normales Fortsetzen des Universitätsbetriebs (BBC News o.A. 20.11.2019). Ebenfalls im November 2019 erhielt das pro-demokratische Camp in den Kommunalwahlen erheblichen Zulauf, was vielerorts als Ausdruck der Zustimmung eines Großteils der Bevölkerung zu den Protesten gewertet wurde (Graham-Harrison und Yu 25.11.2019).
Ein Großteil der Demonstrationen verlief friedlich, aber immer wieder kam es auch zu Ausschreitungen wie etwa den Gefechten zwischen Polizei und Demonstrant*innen im New Town Plaza-Einkaufszentrum (Ramsay 15.07.2019) oder den Angriffen maskierter, weiß gekleideter Unbekannter auf Demonstrant*innen (South China Morning Post 22.07.2019). Auch die Polizei wurde -in Medien und von internationalen Organisationen- massiv für ihr unverhältnismäßig gewaltsames Vorgehen kritisiert2Siehe z.B. (BBC News o.A. 01.09.2019); besonders bekannt wurde auch der Fall einer Demonstrantin, deren Auge durch nicht scharfe Munition der Sicherheitskräfte getroffen wurde (E. Cheung 12.08.2019)., sprach sich jedoch vehement gegen eine unabhängige externe Untersuchung ihres Vorgehens aus (T. Wong 26.07.2019). Der Einsatz von Gewalt und die Frage, ab wann die Verwendung des Begriffs Gewalt angemessen ist, bei Vandalismus oder erst Übergriffen auf Personen, hat sich im Laufe der Proteste als eines von vielen umstrittenen Themen herausgebildet (Hammer 25.01.2020). Als solches wurde es auch von den Teilnehmer*innen selbst kontrovers diskutiert und von einigen Fraktionen als notwendiges Übel, von anderen als dem Zweck selbst abträglich und verwerflich verstanden. (Au 2020, Kap. The Four Stages of the Movement; Yeung 27.10.2019; Hammer 25.01.2020)
Die Proteste wurden zwar besonders von jüngeren Hongkonger*innen getragen (Buchholz 03.09.2019; Sum 12.08.2019), in ihrem Verlauf waren jedoch auch große Teile der weiteren Hongkonger Bevölkerung und aller ihrer Schichten – nicht nur Schüler*innen und Studierende, sondern auch Lehrer*innen, Jurist*innen und Familien – beteiligt (Lum und Sum 06.06.2019; Dole 16.06.2019). Einige der zentralen Persönlichkeiten, die bereits 2014 als teilweise sehr junge Schüler*innen an den Occupy Central-Protesten beteiligt waren, nahmen auch an den Protesten 2019 teil und spielten dort eine zentrale Rolle. Besonders bekannt geworden sind unter anderem Joshua Wong, Nathan Law und Agnes Chow, die Gründer der demokratischen Gruppierung Demosistō.
Trotz einiger sie vereinender Kernforderungen – wie dem Ruf nach allgemeinem Wahlrecht - ist die Protestbewegung nicht als uniformer Block zu verstehen, sondern setzte (und setzt) sich vielmehr als breite Allianz verschiedener Parteien mit verschiedenen, teils widerstreitenden Vorstellungen, Ansichten und Idealen zusammen. Die Ausprägungen reichen hierbei von Rufen nach der völligen Lossagung vom Festland und dementsprechenden Unabhängigkeit Hongkongs (welche Beijing als subversiv und staatsfeindlich betrachtet (Time staff 09.06.2020)) bis hin zu moderateren Forderungen nach Kooperation mit Beijing unter Einhaltung des „Ein Land, zwei Systeme“-Prinzips. (Kuhn 25.08.2019) Diesen Gruppen der Protestbewegung standen auch solche Personen und Gruppen gegenüber, die sich klar für eine stärkere Rolle der Regierung in Beijing und ein hartes Eingreifen der Regierung in den Protesten einsetzten (Au 2020, Kap. 2 "Actors"). Diese Vielfalt der Stimmen kommt innerhalb der Materialien im Rollenspiel (M4) zum Ausdruck.
Die politischen und medialen Reaktionen auf die Protestbewegung fielen unterschiedlich aus. In westlichen Medien wurden häufig Stimmen laut, die sich mit den Protestierenden solidarisierten und diese als couragierte Vorkämpfer von freiheitlichen und demokratischen Prinzipien gegen die übermächtige, häufig als unterdrückerisch wahrgenommene VR China lobten (siehe z.B. (Richter 12.08.2019) Zudem wurden auch politische Maßnahmen wie etwa der unter der Trump-Administration initiierte amerikanische „Hongkong Human Rights and Democracy Act“ beschlossen, die die Positionen der Demonstrant*innen stärken sollten. (Delaney und Elmer 26.11.2019) Festlandchinesische Medien und Politiker interpretierten dies als „Einmischungen in innere Angelegenheiten Chinas“ (Tiezzi 17.12.2019), sprachen der Hongkonger Regierung unter Carrie Lam sowie der Polizei wiederholt ihre Unterstützung aus und beschuldigten die Demonstrant*innen, feindlichen äußeren Einflüssen Vorschub zu leisten beziehungsweise direkt mit diesen zusammenzuarbeiten. (Cao 19.11.2019) Teilweise wurden Terrorismus-Vorwürfe gegen sie erhoben. (BBC News o.A. 14.08.2019) Einige Hongkonger Medien unterstützten die Bewegung explizit. Besonders bekannt wurde die Boulevard-Zeitung „Apple Daily“ des inzwischen verhafteten Medienunternehmers Jimmy Lai, deren Publikation aufgrund des politischen Drucks im Juni 2021 eingestellt werden musste.
Da zu den Unterstützer*innen der Demokratiebewegung viele junge Menschen gehören, aber auch, weil dies die Möglichkeit gewährte, unzensiert und verschlüsselt Nachrichten auszutauschen, zählten (ähnlich wie schon bei den Protesten 2014) Messengerdienste wie Telegram und Signal zu den wichtigsten Kommunikationsmethoden der Bewegung. (Schectman 31.08.2019; P. S. N. Lee, So, und Leung 2015, 358) Bereits von Anfang an waren auch Memes und Grafiken, die per Social Media geteilt wurden, wichtiger Bestandteil der Aufmerksamkeitsgenerierung und des Sammelns von Unterstützer*innen für die Bewegung. (Li und Ives 02.08.2019; Fornahl 17.10.2019) Um dem entgegenzuwirken, machte sich die Beijinger Regierung ihrerseits ebenfalls daran, entsprechende Memes zur Unterstützung ihrer eigenen Position zu generieren und startete im Verlauf der Proteste eine Image-Kampagne. Diese Gegenmaßnahmen zielten darauf ab, die Protestbewegung als radikale und separatistische Splittergruppe von Unruhestiftern außerhalb der vermeintlich „schweigenden Mehrheit“ zu porträtieren, gegen die die heroischen Polizisten und die chinesische Regierung die „Stabilität“ des Landes verteidigen mussten (Abdollah 20.08.2019).
Das Nationale Sicherheitsgesetz, die Pandemie und das Abflauen der Protestbewegung
Mit Ausbruch der COVID19-Pandemie in Hongkong Anfang 2020 wurden von den Behörden im Laufe der Zeit immer mehr Protestaktionen mit Verweis auf eine bestehende Infektionsgefahr untersagt. So wurde die alljährlich stattfindende Tian’anmen-Mahnwache 2020 erstmals untersagt. Dennoch fanden sich dazu tausende Bürger*innen ein, darunter - wie auch in der Vergangenheit – auch Expats und Personen vom Festland. (BBC News o.A. 04.06.2020)
Gleichzeitig trat ebenfalls im Juni mit Verweis auf eine mögliche Gefährdung der nationalen Sicherheit durch die Proteste und mit dem Ziel, „subversive“ Elemente auszuschalten, ein neues Gesetz, das Gesetz der Volksrepublik China zum Schutz der Nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong, kurz: Nationales Sicherheitsgesetz, in Kraft (engl. National Security Law (NSL), Zhonghua renmin gongheguo tebie xingzhengqu weihu guojia anquan fa 中華人民共和國香港特別行政區維護國家安全法) (The Law of the People’s Republic of China on Safeguarding National Security in the Hong Kong Special Administrative Region 2021). Mit dieser Gesetzgebung wurde der Beijinger Regierung letztendlich größeres Mitspracherecht in den Hongkonger Regierungsgeschäften eingeräumt als je zuvor und die autonomen Kompetenzen der Hongkonger Regierung wurden deutlich eingeschränkt. Auch ist das Gesetz – nach Einschätzung vieler Expert*innen bewusst – vage formuliert und so besonders breit anwendbar. (Rudolf 2020; Deutsche Welle 30.07.2020; Curtis 20.09.2021) Auf der Grundlage des Nationalen Sicherheitsgesetzes Verurteilte können zudem an das Festland ausgeliefert werden – somit ist also die Rücknahme des ursprünglich geplanten Auslieferungsgesetzes, das die Proteste 2019 ausgelöst hatte, letztendlich hinfällig.
Im Herbst 2020 wurde die anstehende Wahl des Legislativrats LegCo, wiederum mit Angabe der Pandemie als Grund, um zunächst ein Jahr verschoben. (The Government of the Hong Kong Special Administrative Region 31.07.2020) Nach dem Ausschluss von vier pro-demokratischen Abgeordneten aus dem Parlament trat ebenfalls noch im Herbst 2020 die Opposition im Legislativrat geschlossen zurück (Amnesty International 17.07.2020).
Einige prominente Figuren der Proteste, darunter Nathan Law, flohen im Zuge des Inkrafttretens des Nationalen Sicherheitsgesetzes aus Hongkong mit dem Ziel, aus dem Exil heraus die Opposition weiterzuführen (The Diplomat staff 13.04.2021) Viele Parteien und Gruppierungen, darunter Demosistō, lösten sich selbst auf. Viele ihrer Vertreter*innen kündigten dennoch an, dass sie den Kampf um die Zukunft Hongkongs als nicht beendet betrachten und forderten ihre Sympathisant*innen auf, diesen weiterzuführen (Guardian staff 01.03.2021). So haben auch trotz der verschärften Gesetzeslage im Jahr 2021 weiterhin Proteste, wenn auch kleineren Ausmaßes, stattgefunden. Verbote von Slogans und Stichworten im Zuge des Gesetzes – so wie die Forderung nach Unabhängigkeit Hongkongs – wurden dabei häufig in Form von Wortspielen oder anderen Symbolen, wie dem Hochhalten leerer, weißer Plakate als Anspielung auf den „weißen Terror“, umgangen. (Agence France-Press/The Guardian 04.07.2020)
Die Beijinger Regierung unternahm in der ersten Jahreshälfte 2021 weitere Schritte, um die Protestbewegung nach ihrer Schwächung ganz niederzuschlagen und die Sonderverwaltungszone politisch enger unter ihre Kontrolle zu bringen. So wurden im Frühjahr 2021 viele prominente Figuren der Protestbewegung wie Joshua Wong, Agnes Chow und Jimmi Lai aufgrund ihrer Rolle in der Organisation der Proteste zu potentiell lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt (Jett und Ramzy 28.05.2021). Zudem wurden neue Gesetzgebungen für den Bildungssektor mit dem Ziel der „patriotischen Bildung“ (Lill 21.05.2021; Wu 26.11.2020) sowie Umstrukturierungen der – bislang weitgehend freien – Hongkonger Medienlandschaft und des Wahlrecht (unter dem Slogan „Patrioten sollen Hongkong regieren“) beschlossen, die den Einfluss Beijings in Hongkong ausweiten (G. Lee und Xi 03.05.2021; Reuters 13.04.2021).
Einige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, unter anderem Deutschland (Deutsche Welle 01.09.2020) sowie die UN (United Nations 03.07.2020), äußerten sich zu den aktuellen Entwicklungen immer wieder kritisch. Einige Länder beschlossen Sanktionen (Kai 10.11.2020) oder gewährten prominenten Figuren der Opposition Asyl; so wurde etwa Nathan Law in Großbritannien aufgenommen, in Deutschland Ray Wong (Reuters Staff 08.04.2021; Kohlwes 17.02.2022). Zudem kündigten einige Staaten, wie beispielsweise Australien, an, die Hürden für die Einwanderung von Besitzer*innen eines Hongkonger Passes zu reduzieren (Australian Government 01.11.2021). Besonders Großbritannien hat versprochen, die Möglichkeit zur Einbürgerung für Overseas Passport Holders seiner ehemaligen Kolonie zu schaffen, was potentiell bis zu 5,3 Millionen Hongkonger betreffen könnte und den Ärger der VR China provozierte. (Eardley 01.07.2020; Kan, Richards, und Walsh 02.12.2021) In Deutschland bleibt Anfang 2022 das Auslieferungsabkommen mit Hongkong weiter ausgesetzt.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist derzeit (Anfang 2022) nicht absehbar, ob die Protestbewegung mit Ende der Pandemie noch einmal aufflammen wird. Gleichzeitig sind die den Protesten zugrundeliegenden Konflikte trotz des harten Durchgreifens der Beijinger Regierung in den letzten Monaten keineswegs gelöst und weitere Spannungen erscheinen unvermeidlich.
Abschließender Überblick: Schwächen im System, Schwächung des Systems
Nach dem Millenniumswechsel gab es schleichende Veränderungen, die zusammengenommen die eingeschränkt vorhandenen demokratischen Elemente im politischen System Hongkongs entscheidend schwächten:
- Finanzielle Unterstützung erhielt die größte pro-festländische Partei (Democratic Alliance for the Betterment and Progress of Hong Kong DAB).
- Disqualifizierung von Oppositionskandidaten: Die sog. “Returning officers” (Wahlleiter*innen) sind die höchstrangigen Beamten der Regierung auf Distriktebene; sie können Nominierungen von Kandidaten für die Distriktwahlen für ungültig erklären, wenn sie eine Gefährdung sehen, dass diese das Basic Law nicht einhalten (z.B. indem sie sich für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung einsetzen). Dies geschah mehrfach, u.a. im Fall von Joshua Wong (siehe Absätze zu Protesten 2014 und 2019).
- Unterstützung von pro-festländischen Parteien: Bei Distrikt- und LegCo-Wahlen wurden durch den Aufbau von Einheitsfront-Organisationen in Hongkong Beijing-freundliche Kandidat*innen unterstützt, z.B. in Form der Organisation von finanzieller Unterstützung und Wähler-Mobilisierung.
- 2014 formulierte das „White Paper on The Practice of the “One Country, Two Systems” Policy“(The State Council, The People’s Republic of China 2014) erstmals den Anspruch allgemeiner Rechtshoheit der VR China über die Sonderverwaltungszone. Diese Bemühungen gipfelten 2020 im Erlass des Nationalen Sicherheitsgesetzes. Institutionell zog das Gesetz die Einrichtung eines Büros für die Wahrung der Nationalen Sicherheit nach sich und es führte in Hongkong Tatbestände ein, die es vorher nur im VR-chinesischen Recht gab: Abtrennung, Subversion, Terrorismus, Zusammenarbeit mit feindlichen ausländischen Kräften (Art. 20-30), Auslieferung von Verdächtigen für Verhandlungen auf dem Festland (Art. 55-57). Ferner eröffnete es vielfältige neue Möglichkeiten der Kontrollausübung für die Hongkonger Regierung zum Schutz der nationalen Sicherheit, u.a. die Einrichtung eines »Komitees zur Wahrung der Nationalen Sicherheit“ unter Aufsicht der Zentralregierung, das nicht der Hongkonger Justiz unterstellt ist. In die Polizeibehörde wurde zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit Personal vom Festland integriert; ferner wurde eine besondere Strafverfolgungsabteilung im Justizministerium eingerichtet. Das Nationale Sicherheitsgesetz kann auch von Personen verletzt werden, die sich außerhalb von Hongkong aufhalten sowie von Personen, die nicht Hongkonger Bürger sind. (Fong 02.01.2021, 204 f.; Rudolf 2020, 2).
- Im März 2021 erließ der Nationale Volkskongress in Beijing Vorgaben für eine Neugestaltung des Verfahrens zur Wahl des/der Regierungschefs/-chefin und des Legislativrates/LegCo. Die Einrichtung eines Ausschusses für Kandidaturzulassungen, der alle Kandidat*innen für Regierungsämter (Regierungschef/*in, Legislativrat, Wahlausschuss) einer patriotischen Gesinnungsprüfung unterwirft und dessen Entscheidung nicht anfechtbar ist schränkt das aktive und das passive Wahlrecht regierungskritischer Personen ein. Die Hongkonger Regierung präsentiert diese Änderungen als notwendige Verbesserungen für die Wahrung der nationalen Sicherheit, vgl. die Informationen der Regierung auf der Webseite „Improve Electoral System - Home (cmab.gov.hk)” sowie (german.china.org.cn 19.09.2021).
Identitätsfindung als Hongkonger*innen
Hongkong war von Beginn der britischen Besetzung an immer wieder Zufluchtsort für mehrere Wellen von Auswanderern und Flüchtlingen aus Festlandchina wie auch aus anderen asiatischen Ländern, deren politische Rahmenbedingungen vergleichsweise unfreier waren. So entstand in Hongkong eine bis heute spürbar pluralistische, multilinguale und von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägte Gesellschaft. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bestand dabei vor allem auf kultureller Ebene unter den chinesisch-sprachigen Einwohner*innen eine Identifikation mit „chinesischer Kultur“, die als konfuzianisch geprägt verstanden wurde. Aufgrund des unpolitischen Charakters wurde diese Form der Identifikation von der Kolonialregierung gefördert. Eine eigene lokale Identität („Hongkonger*in sein“) bildete sich in den 1970er Jahren und machte sich am spezifischen Konsumverhalten und an kulturellen Faktoren wie etwa der kantonesischen Popmusik oder Filmen in kantonesischer Sprache fest, war also in erster Linie immer noch nicht politisch motiviert. (Veg 2017, 324) Nach dem gewaltsamen Vorgehen der kommunistischen Regierung gegen Demonstranten beim in der VR China so genannten Tian’anmen Zwischenfall (Tian’anmen shijian 天安門事件) 1989 wuchsen in Hongkong jedoch die Befürchtungen, die VR China würde ihr Versprechen (Demokratie und Autonomiestatus für Hongkong gemäß dem Prinzip „Ein Land, Zwei Systeme“) nicht einhalten. Außerdem führte es den Einwohner*innen Hongkongs die Diskrepanz zwischen der eigenen Situation und den politischen Rahmenbedingungen auf dem Festland vor Augen. (Yew und Kwong, o. J., 1108) So wirkte sich auch dieses Ereignis auf die Migrationsgeschichte Hongkongs aus, denn zehntausende Hongkonger*innen nahmen die Ereignisse des Jahrs 1989 zum Anlass nach Kanada, Australien oder in die Vereinigten Staaten auszuwandern. (Simpson 2007, 177) Die Einwanderungswellen aus dem Festland, die mit näher kommender Übergabe anwuchsen, riefen Angst vor dem Schwinden der eigenen Kultur und des Lebensstils hervor. Zudem verstärkten sie den Kampf um die knappen Ressourcen in der dichtbesiedelten Stadt (Yew und Kwong, o. J., 1107). Anfang der 2000er Jahre nahmen politische Proteste in Hongkong zu und der Grad der Identifikation mit dem Festland ab, eine eigenständige bürgerliche und kulturelle lokale Hongkonger Identität entstand besonders unter jüngeren Hongkonger*innen (Veg 2017, 325; Brearey 2009). Bei dieser theoretischen Abgrenzung von Hongkonger und festländischer Identität darf aber nicht übersehen werden, dass im aktuellen Konflikt jeweils innerhalb der VR China und innerhalb Hongkongs auch sehr unterschiedliche Haltungen und Identifikationsmuster zu finden sind – dies wird u.a. im Rahmen des Rollenspiels in M2.1 thematisiert.
Literaturempfehlungen
Forschungsperspektiven
Folgt in KürzeFolgt in Kürze
Lernziele/Kompetenzen
Die Schüler*innen können...1 | 2 | 3 | 4 |
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Inhaltliche Kompetenzen | Erkennen | …sich auf Grundlage einer Zeitleiste selbstständig einen Überblick über die historische Entwicklung Hongkongs erarbeiten. | Informationsbeschaffung und -verarbeitung |
…aktuelle Probleme vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Dekolonisierung erörtern. | |||
…die aktuellen politischen Geschehnisse in Hongkong vor dem historischen Hintergrund einordnen und die grundsätzlichen Positionen der aktuellen Diskurse erörtern. | Erkennen von Vielfalt | ||
Bewerten | …in politischen Aussagen zwischen Beschreibungen einerseits und Erklärungen und legitimierenden Begründungen andererseits unterscheiden; in einem politischen Entscheidungsfall verschiedene Politikdimensionen (Inhalt, Form, Prozess) unterscheiden und erläutern. | Unterscheidung von Handlungsebenen | |
Handeln | …in auf Hongkong bezogenen Debatten in ihrem Umfeld begründet Stellung beziehen. | ||
Methodische Kompetenzen | Erkennen | …sich auf Grundlage eines Rollenspiels in verschiedene Perspektiven Betroffener hineinversetzen. | Perspektivenwechsel und Empathie |
Bewerten | …verschiedene Perspektiven kritisch miteinander in Bezug setzen und die Vielfalt der Faktoren, die die Einzelpositionen in der Debatte prägen, begreifen. | Perspektivenwechsel; Kritische Reflexion und Stellungnahme | |
Soziale und personale Kompetenzen | Handeln | kommunikative Kompetenzen bewusster einsetzen, darunter Kompetenzen wie: • Zuhören • Fragen/Nachfragen • Diskutieren • Argumentieren | Solidarisches Handeln Gewaltfreie Konfliktbewältigung Umgang mit Nichtverstehen |
personale Kompetenzen schulen, darunter: • Aufbau von Werthaltungen • Identifikation • Empathie und Solidaritätssinn • Engagement (z.B. politisches, soziales Engagement) • Neugierde und Aufgeschlossenheit | Umgang mit Ungewissheit Umgang mit Wandel Umgang mit Widersprüchen Selbstreflexion (auch kulturelle Selbstreflexion) Fähigkeit sich in andere versetzen zu können |
Didaktisch-methodischer Kommentar
Das Modul widmet sich der Situation in Hongkong seit 2019 und den Diskursen beteiligter Akteure. Die Einbeziehung zentraler historischer Ereignisse seit Beginn der Kolonialisierung Hongkongs 1839 soll bei der Einordnung aktueller Entwicklungen helfen. Darüber hinaus sind die Dekolonialisierung der Stadt ab den 1980er Jahren und die zunehmenden Eingriffe der VR-chinesischen Regierung unter Xi Jinping (习近平, 1953-) seit seiner Machtübernahme 2012 relevant zur Einschätzung der Konfliktsituation. Mit Hilfe eines Fotos von Protesten in Hongkong aus dem Jahr 2019 (M1.1) soll das Vorwissen der Schüler*innen erhoben werden. Ein alternativer Einstieg ist möglich über Auszüge aus dem Video „Do not Split“ (Hammer 25.01.2020) (z.B. bis Minute 3:30; in engl. Sprache). Das Video bietet die Möglichkeit, sich einen optischen Eindruck vom Ausmaß der Proteste zu verschaffen und einen Austausch über den Kenntnisstand der Schüler*innen zu initiieren. Zwei Zitate mit gegensätzlichen Einschätzungen zu eben diesen Protesten ermöglichen eine erste Auseinandersetzung mit der Komplexität der Situation (M1.2) und leiten zur ersten Leitfrage über, die nach den Hintergründen und der Entstehung des Konflikts 2019 fragt. Zur Erarbeitung des historischen Kontextes nutzen die Schüler*innen eine Zeitleiste (M1.3): Sie stellen jeweils ein Foto und einen Zeitleisteneintrag sowie optional zusätzlich eine dazugehörige Textquelle zusammen und ordnen diese in eine zeitlich korrekte Abfolge ein. Im Plenum werden die Zeitleisten abgeglichen und somit deren Inhalte gesichert. Je nach Zeitansatz kann auch in Gruppen gearbeitet werden, die mit einer Unterauswahl an Einträgen arbeiten. Eine Vertiefung erfolgt über die Frage nach den unterschiedlichen Entwicklungserfahrungen auf dem Festland und in Hongkong sowie deren Einfluss auf die aktuelle Lage. Eine zweite Stunde ist der Vielfalt der Stimmen in den aktuellen Diskussionen gewidmet, die zugleich Rückschlüsse auf verschiedene Handlungsebenen erlauben. Ein Rollenspiel (M2.1) dient dazu, den Konflikt multiperspektivisch zu erschließen. Es ist zeitlich in den ersten Monaten der Proteste in Hongkong im Jahr 2019 angesiedelt. Die zusammengestellten Rollen kombinieren Charakteristika, die Schüler*innen dabei unterstützen sollen, verschiedene Konfliktebenen wahrzunehmen. Um dabei auch die Sicht der VR China auf den Konflikt zu verdeutlichen, ist eine entsprechende Rolle eingeschlossen. Je nach Klassensituation kann die Rolle eines befragenden Reporters nach der Erarbeitungsphase von der Lehrkraft oder von einer Schüler*innengruppe übernommen werden, die sich in Vorbereitung auf ihre Rolle alle Rollenprofile durchliest. Ein Aspekt der Reflexion nach dem Rollenspiel kann fakultativ auch eine Auswertung umfassen, wie die Schüler*innen die Identifikation mit der jeweiligen Rolle empfunden haben. Je nach verfügbarer Zeit kann eine abschließende Aufgabenstellung die Erarbeitung eines (plausiblen) weiteren Personenprofils sein. Da sich die Proteste des Jahres 2019 bis in die Gegenwart auswirken, werden anschließend (M2.2) eigene Rechercheergebnisse genutzt, um die Lücke zwischen dem Stand der Materialien in diesem Modul (Januar 2022) und dem Unterrichtszeitpunkt zu schließen. Die Schüler*innen können mit Hilfe eines bereitgestellten Rechercheleitfadens nach Informationen suchen. Die abschließende Sicherung der Lerninhalte kann unter Rückgriff auf die in der ersten Stunde verwendeten konträren Interpretationsansätze für die Protestbewegung (M1.2) erfolgen. Sie kann optional einschließen, zu ermitteln, ob die Modulinhalte und selbständigen Recherchen der Schüler*innen diesen ein eigenes Werturteil bzw. eine persönliche Positionierung ermöglicht haben.Ablauf
Stefanie Elbern
Inhalt
Autor*in
Stefanie Elbern
2 Lernmodule
