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China in der Kolonialzeit: Das Beispiel Qingdao

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Informeller Imperialismus und Halbkolonie

Jonas Schmid 14.11.2021
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Dieser Hintergrundtext gibt einen Überblick über die kolonialen Beziehungen zwischen China und dem Ausland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Er behandelt auch die Frage, wie dieser historische Abschnitt in China und im Ausland unterschiedlich definiert und benannt wurde und erklärt die Begriffe „informeller Imperialismus“ und „Halbkolonie“.

 

Deutschland war im 19. Jahrhundert nicht der einzige Staat, der Kolonien in China besaß und in China versuchte, wirtschaftlichen Einfluss auszuüben. In Folge des britischen Sieges im sogenannten „Ersten Opiumkrieg“ wurde China im Vertrag von Nanjing 1842 die Öffnung einer Reihe von Häfen für den europäischen Handel aufgezwungen. In den darauffolgenden Jahrzehnten folgten weitere Verträge mit europäischen Staaten, den USA und Japan durch welche die Souveränität Chinas in Feldern wie Politik (Einrichtung von Kolonien), Verwaltung (Einfluss von Ausländern auf die chinesische Regierung), Wirtschaft (Verlust der Zollautonomie) und Rechtsprechung (Ausländer fielen in den Kolonien nicht unter chinesisches Recht) eingeschränkt wurde.

Der ausländische Einfluss in China zeigte sich neben den eben erwähnten Punkten auch in weiteren Feldern (Osterhammel 1986, 290-292):

  • Ausländischen Marineschiffen musste freie Fahrt entlang der chinesischen Küste und auf den Flüssen im Inland gewährt werden.
  • Ausländisches Militär war in den Kolonien bzw. Pachtgebieten und auch in der Hauptstadt Beijing stationiert.
  • Ausländische Staaten griffen wiederholt in die chinesische Politik ein und versuchten ihre Interessen unter Rückgriff auf Marineschiffe oder Strafexpeditionen durchzusetzen – beispielsweise im sogenannten „Zweiten Opiumkrieg“ oder im „Boxerkrieg“ (siehe dazu die Einträge in der Zeitleiste).
  • China konnte keine freie Wirtschaftspolitik ausüben, da sich ausländische Staaten großen Einfluss auf die Gestaltung der Einfuhrzölle für Handelsgüter gesichert hatten. So konnten diese Staaten niedrige Zolltarife festlegen und damit Vorteile für den Verkauf ihrer Waren in China schaffen. Wichtige Zweige der chinesischen Verwaltung – wie beispielsweise die Seezollbehörde – standen de facto unter ausländischer Kontrolle, die höchsten Positionen waren mit Ausländern besetzt.
  • Der Handel mit dem Ausland lag vor allem in den Händen ausländischer Geschäftshäuser und ausländischer Banken. Einige wirtschaftliche Sektoren wurden von ausländischen Händlern dominiert – bis in die 1920er-Jahre hinein waren beispielsweise der Schiffstransport, der Kohlebergbau oder die Baumwollspinnerei mehrheitlich in den Händen ausländischer Firmen.
  • Nach kriegerischen Auseinandersetzungen wie dem chinesisch-japanischen Krieg 1894-1895 oder dem sogenannten „Boxerkrieg“ 1900-1901 zwangen die siegreichen ausländischen Staaten China zu hohen Reparationszahlungen.
  • Auch ausländischen Missionaren war die Freizügigkeit in ganz China seit dem Sieg England und Frankreichs im Zweiten Opiumkrieg 1856-1860 gestattet worden. Sie standen außerdem unter dem Schutz der ausländischen Mächte, die Attentate auf Missionare auch wiederholt als Ausgangspunkt für kriegerische Auseinandersetzungen mit China nutzten. Vorwand für die deutsche Besetzung Qingdaos beispielsweise war die Ermordung deutscher Missionare in Shandong gewesen.
  • In den Kolonialgebieten war die ausländische Bevölkerung (inklusive der Japaner) bessergestellt als die chinesische Bevölkerung, die oft diskriminiert wurde. Darüber hinaus standen Ausländer in den Kolonien und Pachtgebieten nicht mehr unter chinesischem Recht (das im Ausland als barbarisch empfunden wurde), sondern fielen unter die Gerichtsbarkeit ausländischer Gerichte in China – die sogenannte Extraterritorialität oder Konsulargerichtsbarkeit.
  • In vielen Verträgen, zu denen China gezwungen worden war, fanden sich außerdem sogenannte Meistbegünstigungsklauseln. Diese garantierten dem jeweiligen Staat, der den Vertrag mit China abschloss, dass er auch alle Privilegien, die China bisher anderen Staaten gewährt hatte oder in Zukunft gewähren würde, erhalten würde. Besonders kleinere Staaten konnten daher auch Privilegien in China erhalten und ihre Interessen dort durchsetzen.

Dieser große Einfluss ausländischer Staaten wurde bereits damals von chinesischen Beobachtern aufmerksam verfolgt, und es wurde debattiert, wie Chinas Zustand bezeichnet werden sollte. Bis heute hat sich kein einheitlicher Begriff durchgesetzt.

Im englischsprachigen Raum und in deutschen Schulbüchern ist heutzutage meist vom „informellen Imperialismus“ die Rede. So steht im Bildungsplan für das Fach Geschichte in Baden-Württemberg beispielsweise die Vorgabe, dass die Schüler*innen „China als Beispiel für informellen Imperialismus charakterisieren“ können sollen. In einem baden-württembergischen Schulbuch wird informeller Imperialismus knapp definiert: „Informeller Imperialismus bedeutet, dass sich ein Staat in einem anderen Land durch Verträge wirtschaftliche Vorteile verschafft sowie mithilfe eigener Verwaltungsinstitutionen Kontrolle ausübt. Die Strukturen des Landes bleiben aber bestehen, eine direkte koloniale Beherrschung findet nicht statt.“ (Cornelißen/Zodel 2020, 112) Unklar bleibt hier, was mit „Strukturen eines Landes“ gemeint ist und wie diese bestehen bleiben können, wenn ausländische Mächte gleichzeitig eigene Verwaltungsinstitutionen im Land einrichten. In einem anderen Schulbuch findet sich eine ausführlichere Definition: „China ist ein Beispiel für den sogenannten informellen Imperialismus, bei dem schwache Staaten zwar von anderen Mächten nicht direkt beherrscht werden, aber in deren Abhängigkeit sind und wichtige Souveränitätsrechte über weite Teile des eigenen Landes verloren haben. Die fremden Mächte errichteten in den Häfen eigene Industrien, beuteten die Rohstoffe für ihre Industrien aus und begannen mit dem Bau von Eisenbahnen. Ausländisches Kapital beherrschte zentrale Wirtschaftsbereiche.“ (Brückner 2020, 69) In dieser Definition werden mehrere der auch in der Forschungsliteratur – z.B. die oben aufgeführten von Osterhammel – erwähnten Charakteristika des Imperialismus in China genannt.

Die Idee eines „informellen Imperialismus“ wurde erstmals 1953 von den britischen Historikern John Gallagher und Ronald Robinson in einem einflussreichen Aufsatz entwickelt. Die beiden argumentierten, dass es neben dem formellen Imperialismus (der Kolonialherrschaft) auch verschiedene Formen informeller Herrschaft oder Abhängigkeiten (vor allem durch wirtschaftliche Maßnahmen) gegeben habe, die dem Kolonialbesitz vorausgingen, mit ihm einhergingen oder auch ohne ihn auftraten. (Gallagher/Robinson 1953) Neben Lateinamerika und dem Balkan sahen Gallagher und Robinson vor allem in China das informelle britische Imperium am Werk. (Gallagher/Robinson 1953, 8f) Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff des informellen Imperialismus von Wolfgang Mommsen, einem einflussreichen Historiker, in den 1970er-Jahren bekannt gemacht. (Mommsen 1977a; Mommsen 1977b, 70-75) Der Begriff des informellen Imperialismus legt einen Fokus auf wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, die Kolonialbesitz begleiten können, aber nicht zwangsläufig müssen. Bereits Ende der 1960er-Jahre erschienen kritische Auseinandersetzungen mit Gallagher und Robinsons These, die eine zu starke Betonung wirtschaftlicher Faktoren kritisierten.

In den baden-württembergischen Schulbüchern überwiegt ebenfalls der wirtschaftliche Fokus: Meistens wird dort nicht erwähnt, dass ausländische Staaten auch Kolonien in China errichteten. Im Vergleich ausländischen Kolonialreichen andernorts waren diese meist kleine, städtische Stützpunktkolonien mit verhältnismäßig wenig Ausländern. Unter Historiker*innen ist auch umstritten, wie tiefreichend die Auswirkungen dieser Handelskolonien und der informellen Herrschaft auf die chinesische Wirtschaft als Ganzes war. (Osterhammel 1986, 292-295) Trotz des kleinen Territoriums darf der Einfluss von Handelsstützpunkten wie Shanghai oder Hong Kong auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene nicht unterschätzt werden: Außerhalb der kaiserlichen Autorität gelegen, ermöglichten diese der chinesischen Bildungselite eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ausland und seinen Ideen. Auch für revolutionäre Bewegungen waren die Kolonien ein sicherer Hafen im Kampf gegen den Kaiserhof. Gleichzeitig waren die Beziehungen zwischen Chinesen und Ausländern in den Kolonien aber auch von Ungleichheit und ausländischer Überheblichkeit gegenüber der chinesischen Bevölkerung geprägt.

Ein anderer Begriff, der von ausländischen und chinesischen Historiker*innen, aber auch in China selbst ab den 1920er-Jahren verwendet wurde, um Chinas Lage zu beschreiben, ist „Halbkolonie“ – im Englischen „semi-colony“ (ban zhimindi 半殖民地). Dieser Begriff entstammt dem Marxismus und wurde erstmals von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) in seiner 1916 verfassten und 1917 veröffentlichten Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ benutzt. Ähnlich wie die Ansätze des informellen Imperialismus knapp drei Jahrzehnte später nahm auch Lenin bereits die wirtschaftlichen Abhängigkeiten in den Blick: „Spricht man von der Kolonialpolitik in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus, dann muß bemerkt werden, daß das Finanzkapital und die ihm entsprechende internationale Politik, die auf einen Kampf der Großmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft, eine ganze Reihe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit schaffen. Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern – die Kolonien besitzenden und die Kolonien selber –, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind. Auf eine dieser Formen, die Halbkolonien, haben wir bereits hingewiesen.“ (Lenin 1960) Zu eben jenen Halbkolonien zählt Lenin Persien, China und die Türkei.

Lenins Analyse erhielt im China der 1920er-Jahre, wo sowohl die Nationalisten (Guomindang 國民黨) unter Sun Yatsen als auch die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCh) enge Verbindungen nach Moskau unterhielten und ihre Parteistrukturen nach leninistischem Vorbild aufbauten, großes Interesse. Bereits auf ihrem zweiten Parteitag 1922 wurde in einer Resolution der KPCh China als „Plünderungsfeld und Halbkolonie des internationalen bourgeoisen Imperialismus“ bezeichnet. Bekannte damalige Führungspersönlichkeiten der KPCh wie Chen Duxiu 陳獨秀 (1879-1942) oder Cai Hesen 蔡和森 (1895-1931) benutzten den Begriff in der Folge immer wieder. (Li 2003, 6)

Als 1923 unter der Vermittlung der Komintern, Moskaus langem Arm im Ausland, Nationalisten und Kommunisten zusammenzuarbeiten begannen, benutzten auch die Nationalisten diesen Begriff, um Chinas Lage zu beschreiben. (Li 2003, 5) Für Sun Yatsen, die Gallionsfigur der nationalistischen Partei, ging „Halbkolonie“ allerdings nicht weit genug – in Wirklichkeit sei Chinas Status noch viel schlimmer als der einer Halbkolonie. Im Februar 1924 – wenige Tage nachdem er selbst auf der Nationalversammlung der Guomindang noch von China als Halbkolonie gesprochen hatte – meinte Sun: „Wir Chinesen denken, wir seien eine Art Halbkolonie. Dies ist nichts weiter als eine Selbsttäuschung. In Wirklichkeit steht es mit uns viel schlimmer. […] Wessen Kolonie ist China eigentlich? Es ist die Kolonie aller Mächte, die mit uns Verträge geschlossen haben. Alle diese Länder sind die Herren Chinas. Wir sind nicht nur die Kolonie eines Landes, sondern die aller Länder. Wir sind nicht nur die Sklaven eines Volkes, sondern die aller Völker. […] [W]ie kann man China folglich eine Halbkolonie nennen? Ich möchte vielmehr sagen, unser Vaterland ist eine Unterkolonie [ci zhimindi 次殖民地, manchmal auch als Hypokolonie übersetzt]. Ich habe diese Bezeichnung aus der Chemie entnommen: es ist H2PO4 = Phosphorsäure; eine Stufe tiefer ist H2PO3 = phosphorige Säure, und noch eine Stufe tiefer ist H2PO2 = unterphosphorige Säure. Wie schämten wir uns früher, eine Halbkolonie zu sein und wußten doch nicht, daß wir in Wirklichkeit viel tiefer standen!“ (Sun 1927, 59f)

In den 1930er-Jahren wurde der Begriff der Halbkolonie von Denkern innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas dann mit dem des Halbfeudalismus verknüpft und auch von Mao Zedong aufgegriffen. Auch in der Volksrepublik China unter Mao blieb die Formel „halbkolonial und halbfeudal“ die Standardbezeichnung für die Zeitperiode in Chinas Geschichte nach dem Opiumkrieg. (Li 2003, 23; Karl 2005, 172–179)

(Jonas Schmid, Mai 2021)

Verwendete Literatur

Brückner, Dieter, ed. 2020. Das waren Zeiten 5. Bamberg: Buchner. Zitieren 1
Karl, Rebecca E. 2005. “On Comparability and Continuity: China, circa 1930s and 1990s.” Boundary 2 32 (2): 169–200. Zitieren
Mommsen, Wolfgang J. 1977. “Europäischer Finanzimperialismus Vor 1914. Ein Beitrag Zu Einer Pluralistischen Theorie Des Imperialismus.” Historische Zeitschrift 224 (1): 17–81. https://www.jstor.org/stable/27620000. Zitieren
Mommsen, Wolfgang J. 1977. Imperialismustheorien: ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen. 1. Aufl. Kleine Vandenhoeck Reihe ; 1424. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zitieren
Mühlhahn, Klaus. 2007. “China als Halbkolonie. Die kolonialen Stützpunkte und Pachtgebiete der europäischen Großmächte.” In Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900 - 1901., edited by Mechthild Leutner and Klaus Mühlhahn, 27–31. Berlin. Zitieren 2
Osterhammel, Jürgen. 1986. “Semi-Colonialism and Informal Empire in Twentieth-Century China: Towards a Framework of Analysis.” In Imperialism and After. Continuities and Discontinuities, edited by Wolfgang J. Mommsen, 290–314. London: Allen & Unwin. Zitieren
Sun, Yat-sen. 1927. Die Grundlehren von Dem Volkstum. 1.-3. Tsd. Berlin: Schlieffen-Verl. Zitieren
Zodel, Andreas, and Hans-Joachim Cornelißen, eds. 2020. Forum Geschichte 10. Baden-Württemberg. Imperien im Wandel: China, Russland und die Türkei. 1st ed. Berlin: Cornelsen. Zitieren 3
李洪岩. 2003. “半殖民地半封建理论的来龙去脉.” 中国社会科学院近代史研究所青年学术论坛, 1–24. Zitieren