
China in der Kolonialzeit: Das Beispiel Qingdao
Eine Stadt mitten in China, in der die alten Straßen wie in einer deutschen Kleinstadt um 1900 aussehen? Das gibt es tatsächlich: In Qingdao 青島 (alte Umschrift: Tsingtao), das fast zwanzig Jahre lang deutsche Kolonie war. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten europäische Länder sich nicht nur durch Verträge wirtschaftlichen Einfluss in China zu verschaffen, sondern besetzten auch Gebiete, in denen sie Kolonien errichteten. Auch Deutschland war dabei keine Ausnahme. 1897 besetzten deutsche Truppen das Fischerdorf Qingdao in der Nähe der Stadt Jiaozhou 膠州 (alte Umschrift: Kiautschou) im Osten Chinas und gründeten dort eine Kolonie – das sogenannte „Schutzgebiet Kiautschou“. Doch wie erlebten Menschen in der Kolonie die Besetzung ihrer Heimat? Anhand von Texten rekonstruieren Sie, wie der Alltag für die chinesische Bevölkerung unter deutscher Herrschaft aussah und wie unterschiedliche Chines*innen die deutsche Kolonialherrschaft bewerteten.
Thematische Einführung
Zwischen Großbritanniens Sieg im Opiumkrieg 1842 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung in China 1945 waren die Beziehungen zwischen China und der Welt stark asymmetrisch. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete. Auf kultureller Ebene entwickelten beziehungsweise verstärkten sich in dieser Zeit negative und rassistische Vorstellungen über China und die Chines*innen als rückständig oder minderwertig. Der Wunsch, Abhilfe zu schaffen für Chinas schwache Position gegenüber dem Ausland wurde entsprechend ein wichtiger Bestandteil des politischen Programmes verschiedener chinesischer Parteien im 20. Jahrhundert. Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in der Volksrepublik China ist die Überwindung dieses Zustandes auch heute noch eine wesentliche Legitimationsquelle (siehe dazu die thematische Einführung im Modul China und das Ausland im Spiegel chinesischer Karikaturen).
Neben Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Japan und Russland hatte auch Deutschland in China koloniale Ambitionen und besetzte 1897 das Dorf Qingdao in der Jiaozhou-Bucht an der chinesischen Ostküste sowie umliegende Gebiete. Am Beispiel der deutschen Kolonie (offiziell nach der angrenzenden Jiaouzhou-Bucht „Schutzgebiet Kiaotschau“ genannt) und ihrem Zentrum Qingdao können die wesentlichen Charakteristika kolonialer Herrschaft in China herausgearbeitet werden: die Durchsetzung ausländischer Interessen durch Waffengewalt oder deren Androhung, die wirtschaftliche Durchdringung Chinas als Ressourcenquelle und Absatzmarkt für ausländische Firmen, die Trennung zwischen Chinesen und Europäern und die Diskriminierung gegenüber Chines*innen in den Kolonien sowie das Überlegenheitsgefühl der Europäer, der Ausbau der Städte nach europäischem Vorbild und die Anfänge einer Industrialisierung in den Kolonien etc. (Osterhammel 1986, 290-292; Mühlhahn 2007).
Die deutsche Kolonie in China
Ein wesentliches Merkmal (deutscher) Kolonialherrschaft war der Unterschied zwischen Kolonisator*innen und Kolonisierten, die sich in Qingdao beispielsweise in der deutlichen Trennung der Lebenswelten von Chines*innen und Deutschen (bereits in der Stadtplanung) zeigte (Mühlhahn 2000, 215-228; Rathjen 2021, 54-119; Steinmetz 2007, 442-450): 1898, kurz nach der deutschen Besetzung Qingdaos, begannen die deutschen Kolonialplaner damit, das Land der chinesischen Bewohner*innen aufzukaufen bzw. zu enteignen. Die früheren Dörfer wurden einplaniert und durch am Reißbrett geplante Stadtviertel ersetzt: Eine „Europäerstadt“, in der das Wohnen für Chines*innen verboten war; eine „Chinesenstadt“, eine Art Handelsviertel, in dem aufgrund hoher Mieten und Pachtgebühren vor allem reiche Chinesen, wohnten; sowie Arbeitersiedlungen für Chines*innen, außerhalb der Stadt gelegen. „Moderne“ Infrastruktur – wie beispielsweise eine Kanalisation – wurde hauptsächlich in der „Europäerstadt“ eingerichtet und wurde mit Entfernung zu diesem Stadtzentrum immer rarer. Die ländlichen Gebiete außerhalb der Stadt blieben relativ unverändert und hatten im Gegensatz zur „Europäerstadt“ und „Chinesenstadt“ auch keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Kolonialverwaltung.
Wie auf Fotografien aus den frühen Jahren der Kolonie Qingdao zu erkennen ist, gelangten die chinesischen Bewohner Qingdaos vor allem als Arbeiter oder Diener in das europäische Viertel – im Alltag Qingdaos herrschte also eine klare (nicht nur räumliche) Trennung und ein starkes Hierarchiegefälle zwischen Chines*innen und der kleinen Gruppe von europäischen Bewohnern. Auch die Krankenhäuser wurden hauptsächlich für die Europäer errichtet und betrieben. Selbst in den Bordellen wurde auf eine strenge Abgrenzung zwischen chinesischen und europäischen Besuchern geachtet (Mühlhahn 2000, 257-259; Rathjen 2021, 190-194).
Alltag in der Kolonie: Ungleichbehandlung
Die Grundlage für die Trennung der Lebenswelten von Chines*innen und Europäern beruhte nicht unwesentlich auf rassistischen Vorstellungen von „den Chinesen“ als rückständig und dreckig (Rathjen 2021, 139-180): Die deutsche Kolonialverwaltung bemühte oft sanitäre und hygienische Bedenken, um die stadtplanerische Trennung von Chinesen und Europäern zu begründen. Dies ging sogar so weit, dass in Verordnungen genaue Vorgaben gemacht wurden, wieviel Kubikmeter Luft bei der Stadtplanung für jeden Chinesen einzuberechnen sei, damit die „öffentliche Sicherheit“ gewährleistet bleibe (Mühlhahn 2000, 228-231).
Auch wurden in den Augen der Deutschen im Stadtzentrum typisch chinesische Verhaltensweisen wie das Abbrennen von Feuerwerkskörpern oder die Nutzung von „Schiebkarren“ (die angeblich zu laut quietschten) verboten, um den Charakter einer „deutschen Stadt“ zu bewahren. In einer sogenannten „Chinesenordnung“ von 1900 (Leutner/Mühlhahn 1997, 213f) wurden chinesische Traditionen wie Festumzüge oder öffentliche Theateraufführungen stark eingeschränkt und mussten fortan bei der Kolonialverwaltung beantragt werden. Auch das Rechtssystem in der Kolonie zeichnete sich durch unterschiedliche Strafsysteme aus wie unter anderem bereits ein chinesischer Journalist 1908 bemerkte (siehe M3.4): Für alle ausländischen Bewohner Qingdaos (inklusive der Japaner) galten die Gesetze des deutschen Kaiserreichs – nicht jedoch für die chinesische Bevölkerung der Kolonie für die beispielsweise die Prügelstrafe galt (Mühlhahn 2000, 262-267).
Chinesische Sichtweisen auf die deutsche Kolonie
Das Beispiel der deutschen Kolonie Qingdao zeigt aber auch, wie unterschiedlich chinesische Zeitgenossen den Kolonialismus der ausländischen Mächte bewerteten und wie unterschiedlich Menschen verschiedener Herkunft und sozialer Stellung in den kolonisierten Gebieten den Alltag erlebten. So kritisierten ein chinesischer Journalist oder ein chinesischer Lehrer in Qingdao die unterdrückerische Natur der deutschen Kolonialherrschaft: Bereits für Kleinigkeiten würden Chinesen von den Deutschen übermäßig hart bestraft werden (siehe M3.2, M3.4). Auf das ganze Land übertragen war die Abhängigkeit Chinas von ausländischen Staaten, die oftmals ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht auf chinesische Anliegen durchsetzten, im kollektiven Geist der chinesischen Eliten ebenfalls eine Art der Unterdrückung. Gerade deshalb spielt diese als Demütigung empfundene ungleiche Behandlung bis heute eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis.
Andererseits zeigten sich chinesische Zeitgenossen auch fasziniert von den modernen Ideen, Gegenständen und Entwicklungen, die mit den Kolonialisten nach China kamen. Der Wunsch, China zu modernisieren (um so mit dem Ausland gleichzuziehen und dem Einfluss ausländischer Staaten etwas entgegensetzen zu können), führte bei manchen chinesischen Zeitgenossen zu einer durchaus positiven Bewertung der Kolonialherrschaft. So erschienen – insbesondere für die gebildete Elite – die öffentliche Sicherheit und die Infrastruktur in der deutschen Kolonie bewundernswert und vorbildhaft (siehe M3.1, M3.3). Dieser widersprüchliche, ambivalente Charakter der deutschen Kolonialgeschichte in Qingdao zieht sich durch chinesische Bewertungen aus der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft wie auch durch die spätere wissenschaftliche Forschung (Jing 1998).
Jonas Schmid, 02.11.2021, überarbeitet am 30.06.2021
Verwendete Literatur
Forschungsperspektiven
Im Vergleich zu anderen europäischen Kolonien in China wie Hong Kong oder Macao ist die Geschichte der Kolonie Qingdao unter deutscher Herrschaft mit siebzehn Jahren eher kurz. Seit den 1970er-Jahren wurde die deutsche koloniale Vergangenheit Qingdaos von Historiker*innen dennoch immer weiter erforscht. Die meisten Historiker*innen stützen sich in ihren Arbeiten vor allem auf deutschsprachige Quellen: Am bedeutendsten sind die Bestände des Militärarchivs in Freiburg, wo noch zirka 15 Prozent der Akten der deutschen Kolonialverwaltung in Qingdao erhalten sind. (Martin 1991, 384) Einige Akten der deutschen Kolonialverwaltung blieben auch im Bauamt in Qingdao erhalten. (Rathjen 2021: 20f)
In Qingdao und anderen Orten Chinas erschienen auch eine Reihe von deutschen Zeitungen und Zeitschriften, die ebenfalls als Quellen zur Kolonialgeschichte Qingdaos Aufschluss geben können: Beispielsweise das offizielle von der Kolonialverwaltung herausgegebene „Amtsblatt für das Deutsche Kiautschou-Gebiet“ (1900-1914), die Wochenzeitung „Deutsch-Asiatische Warte“ (gedruckt in Qingdao 1898-1904), die „Tsingtauer neueste Nachrichten“ (Qingdao 1904-1914), die „Kiautschou-Post“ (Qingdao 1908-1912) oder der „Ostasiatische Llyod“ (Shanghai 1886-1917). Auch in im Deutschen Kaiserreich erscheinenden Medien wie der „Deutschen Kolonialzeitung“ oder satirischen Zeitschriften wie dem „Simplicissimus“ fand die deutsche Kolonie „Tsingtau“ (Qingdao) hin und wieder Erwähnung. Auch deutsche Selbstzeugnisse wie zum Beispiel Tagebücher spielen in der Forschung eine wichtige Rolle. (Groeneveld 2019, 37f) Neben deutschen Archivalien untersucht die Forschung zur deutschen Kolonie Qingdao auch Dokumente chinesischer Beamten in der Provinz Shandong und in Beijing. (中國史學會濟南分會1957–1961; 中央研究院近代史研究所 1991; Leutner/Mühlhahn 1991)
Diese deutschen und chinesischen Quellen können jedoch – aufgrund ihrer Entstehung innerhalb des jeweiligen Verwaltungsapparats – nur wenig Aufschluss über das alltägliche Leben der chinesischen Bevölkerung unter deutscher Kolonialherrschaft geben. In chinesischen Zeitschriften erschienen hin und wieder auch Artikel zu Qingdao – vor allem um die Besetzung durch Deutschland 1897 und die Eroberung durch Japan 1914 herum. Von in Qingdao herausgegebenen chinesischsprachigen Zeitungen wie der „Jiaozhou-Zeitung“ (Jiaozhou bao 膠州報) von Zhu Qi (M 3.4) sind nur einzelne wenige Ausgaben in China erhalten geblieben. Die Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte Qingdaos stützt sich daher vor allem auf deutsche Quellen.
Die ersten umfassenden wissenschaftlichen Studien zur deutschen Kolonie Qingdao legten einen Fokus auf die Beziehungen zwischen China und Deutschland (Schrecker 1971) und die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie (Seelemann 1982). Der Forschungsschwerpunkt auf Wirtschaft und Entwicklung ließ die deutsche Kolonialherrschaft daher auch durchaus positiv erschienen: Schrecker (1971, 258) beispielsweise schreibt, dass die deutsche Kolonialherrschaft moderne Infrastruktur, Verwaltung, Industrie und Dienstleistungen nach Qingdao gebracht habe. Dies brachte ihm wiederholt den Vorwurf ein, die negativen Seiten der deutschen Kolonialherrschaft auszublenden. (Esherick 1972, 9; MacKinnon 1977, 71-73) Auch in der deutschen wissenschaftlichen und populären Literatur zur Kolonie Qingdao seit dem zweiten Weltkrieg wurde der deutsche Einfluss in Qingdao oft als modernisierend und daher positiv dargestellt – Qingdao galt, wie auch zu Kolonialzeiten, als „Musterkolonie“. (Leutner/Mühlhahn 1991, 399–423) Der Herausgeber eines Tagungsbandes zur Geschichte der deutschen Kolonie Qingdao betont 1999 beispielsweise die „Modernisierungsangebote“, die China durch die deutsche Kolonialherrschaft ermöglicht wurden. (Hiery 1999, 18-21) Im Tagungsband selbst schreiben chinesische und deutsche Historiker*innen zu verschiedenen Aspekten der Beziehung zwischen Deutschen und Chinesen in Qingdao. 1998 veranstaltete das Deutsche Historische Museum in Berlin eine überblicksartige Ausstellung zu Qingdao. Im begleitenden Katalog sind ebenfalls kurze Aufsätze von deutschen und chinesischen Historiker*innen zu verschiedenen Aspekten (u.a. zu Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) der Kolonie zu finden. (Hinz 1998)
Seit dem Ende der 1990er-Jahre erschien dann eine Reihe an deutschsprachigen Forschungswerken, die die chinesische Bevölkerung Qingdaos stärker in den Blick nehmen und gleichzeitig auch die Schattenseiten der kolonialen „Modernisierung“ herausarbeiteten. Betont wurde nun die Enteignung der chinesischen Bevölkerung im späteren Stadtgebiet Qingdao, die Gewalt gegenüber der Landbevölkerung, die Trennung der Wohngebiete zwischen Deutschen und Chines*innen, der schlechtere Zugang zu moderner Infrastruktur wie Trinkwasserversorgung und Krankenhäusern für die chinesische Bevölkerung sowie die unterschiedlichen Rechtssysteme. (Mühlhahn 2000; Huang 1999; Leutner 1997)
Gleichzeitig werden auch die Handlungsspielräume der chinesischen Bevölkerung ausgeleuchtet: So konnten ärmere Teile der Landbevölkerung durch Arbeit in der Kolonie ihre Situation verbessern und auch die chinesischen Händler konnten ihre Interessen gegenüber der Kolonialverwaltung mehrmals erfolgreich durchsetzen und in Einzelfällen sogar in der Europäer*innen vorbehaltenen Wohngegend wohnten. (Huang 1999, 112; Mühlhahn 2000, 171-173)
In mehreren Werken wird ein Wandel der deutschen Politik gegenüber der chinesischen Bevölkerung beschrieben: Nach der deutschen Besetzung Qingdaos 1897 und dem sogenannten „Boxeraufstand“ 1900-1901 wurde die deutsche Kolonialpolitik kooperativer und war weniger als anfangs durch Gewaltausübung geprägt. Steinmetz argumentiert, dass es ab 1905 zu einem grundlegenden Wandel des Charakters der deutschen Kolonialherrschaft über Qingdao kam, die ab diesem Zeitpunkt weniger auf die Trennung zwischen Deutschen und Chinesen, sondern auf den Austausch zwischen diesen beiden Gruppen setzte. Dieser Wandel der Kolonialpolitik wird jedoch auf unterschiedliche Einflüsse zurückgeführt: Wahlweise auf chinesische Beamte in Shandong und Beijing (Schrecker 1971), auf den gestiegenen Einfluss chinesischer Händler, die für den wirtschaftlichen Erfolg der Kolonie unabdingbar waren (Mühlhahn 2000) oder auf eine chinafreundlichere Einstellung deutscher Kolonialbeamter vor Ort (Steinmetz 2008, 442-498). Mühlhahn (2000, 236-245) betont jedoch den auch weiterhin bestehenden Machtanspruch der deutschen Kolonialverwaltung, den diese jedoch vor allem versuchte durch die Verbreitung deutscher Kultur (beispielsweise in den Schulen) durchzusetzen. Auch Groeneveld (2019, 27) weist daraufhin, dass die Entwicklung hin zu einer „chinesenfreundlicheren“ Politik in den späteren Jahren nicht absolut gesehen werden darf – die Charakteristika der jeweiligen Politik waren stark personenabhängig.
Nachdem um die Jahrtausendwende in der Forschung ein Fokus auf die chinesische Bevölkerung gelegt wurde, erfuhr in den Forschungsbeiträgen des letzten Jahrzehnts (seit 2010) die deutsche Bevölkerung – in Qingdao und in Europa – wieder stärkere Aufmerksamkeit. Dies ging einher mit einem Fokus auf die Mentalitätsgeschichte und die Bilder und Stereotypen, mit denen Deutsche auf China, Qingdao und die Chinesen dort blickten. Beispielsweise wurden Rückwirkungen aus der deutschen Kolonie Qingdao auf die Gesellschaft in Deutschland und deren Selbstverständnis untersucht. (Andreys 2011) Beachtung erfuhr auch, wie deutsche Darstellungen und Gedanken über die „Chinesen“ in Qingdao das Zusammenleben vor Ort prägten. (Groeneveld 2019; Rathjen 2021)
Wie diese deutschen und englischen Forschungsbeiträge zeigen, ist die deutsche koloniale Vergangenheit Qingdaos mittlerweile ein etablierter Bestandteil der Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte. Auch zu Einzelaspekten wie Stadtplanung und Stadtbau (Warner 1996), dem Schulwesen (Kim 2004), deutschen Frauen in Qingdao (Heise 2005) oder deutschen Handelsunternehmen in der deutschen Kolonie Qingdao (So 2019) sind mittlerweile wissenschaftliche Studien erschienen. Mehrere Werke der deutschsprachigen Forschung (beispielsweise Warner 1996 und Mühlhahn 2000) wurden auch ins Chinesische übersetzt. Auch in der Volksrepublik China erscheinen Monografien und Aufsätze zur deutschen Kolonialgeschichte Qingdaos. (Zhu 2010) Die japanische Kolonialgeschichte Qingdaos hingegen ist sowohl in China als auch im Ausland bis jetzt im Vergleich weniger erforscht.
Die Forschung zur kolonialen Vergangenheit Qingdaos steht gleichzeitig auch im Zusammenhang mit Forschung zu anderen ausländischen Kolonien und Pachtgebieten in China – allen voran Shanghai weiter südlich an der chinesischen Ostküste, wo mehrere ausländische Staaten Gebiete „gepachtet“ hatten. Im Vergleich zur Forschung zu Qingdao ist die Forschung zu Shanghai weitaus umfassender – an dieser Stelle kann jedoch nicht ausführlicher darauf eingegangen werden. Ähnlich wie auf Qingdao blickten chinesische Intellektuelle auch auf Shanghai mit gemischten Gefühlen: Das Ausland mit seinen Kolonien repräsentierte einerseits den bösen Imperialismus und die Schwäche Chinas, andererseits aber auch die Moderne, mit der man sich in China durchaus interessiert auseinander setzte. Für manche chinesischen Intellektuellen galt Shanghai – genau wie Qingdao – ebenfalls als „Musterstadt“, die mit ihren modernen Attraktionen faszinierte. Andere hingegen sahen in Shanghai vor allem Gefahren und Verrücktheit. (Mittler 2004, 331-338) Ähnlich also wie manche chinesische Stimmen, die die Unterdrückung der chinesischen Bevölkerung in Qingdao durch die Deutschen betonten.
Verwendete Literatur
Lernziele/Kompetenzen
Methodische Kompetenzen: Die Schüler*innen können…- … ausgehend von Bildquellen Fragestellungen entwickeln und diese durch die Analyse verschiedener Bild- und Textquellen beantworten bzw. überprüfen.
- … Bild- und Textquellen aus kolonialen Kontexten analysieren und deren Aussagen kritisch überprüfen.
- … die Beziehungen zwischen China und dem Ausland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts charakterisieren und deren Bedeutung für die chinesische Geschichte beschreiben.
- … am Beispiel der deutschen Kolonie Qingdao wesentliche Merkmale des europäischen Kolonialismus in China herausarbeiten und koloniale Herrschaftsstrategien charakterisieren.
- … statistische Daten und Grafiken analysieren, zur Beantwortung ausgewählter Fragestellungen heranziehen und auf ihre Vergleichbarkeit hin überprüfen.
- … die Subjektivität von historischen chinesischen Bewertungen der ausländischen Kolonialherrschaft erkennen und verschiedene Perspektiven vergleichen.
- … sich in die Perspektive der einheimischen Bevölkerung in der Kolonie hineinversetzen (Fremdverstehen).
Didaktisch-methodischer Kommentar
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonie Qingdao dient als Beispiel, um die Beziehungen zwischen China und dem Ausland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darzustellen und wesentliche Charakteristika des ausländischen Kolonialismus in China herauszuarbeiten. Für den Einstieg in die Thematik können Karikaturen über die Aufteilung Chinas durch die Kolonialmächte dienen, die auch in vielen Schulbüchern zu finden sind. (Siehe dazu beispielsweise die Karikatur „Ein Bild der aktuellen Lage“ (Shiju tu 時局圖) um 1898 oder alternativ die Postkarten und Sammelbilder bei Grewe/Huber ohne Jahr.)
Als weiterer möglicher Einstieg mit einer höheren Aktualität und einem stärkeren Bezug auf die Lebenswelt der Schüler*innen kann ein kurzer Filmbericht über das Oktoberfest in Qingdao (M1.1) dienen. Die Marke „Tsingtao“ (Qingdao Pijiu 青岛啤酒) ist eine der größten chinesischen Brauereien und wird selbst nach Deutschland exportiert – die Ursprünge der Qingdaoer Biertradition reichen in die deutsche Kolonialzeit zurück. Die Postkarte „Gruss aus Kiaotschau“ aus dem Jahr 1898 (M1.2) impliziert auf den ersten Blick, dass bereits zu Zeiten der deutschen Kolonialherrschaft in Qingdao Okotberfest-ähnliche Zustände herrschten, wo Deutsche und Chines*innen unbeschwert und harmonisch zusammenlebten. Ausgehend von einer Beschreibung der Postkarte können die Schüler*innen Fragen entwickeln, aus denen dann die Leitfrage der Stunde („Die deutsche Kolonie Qingdao: Ein harmonisches Miteinander von Deutschen und Chinesen?“) entwickelt werden kann.
Die Arbeit mit chinesischen Quellen ermöglicht eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus in China. In Kleingruppen setzen die Schüler*innen sich mit den – sich teils widersprechenden Quellen – auseinander und versuchen die Leitfrage zu beantworten: War das Leben in der deutschen Kolonie Qingdao tatsächlich so harmonisch wie auf der Postkarte (M1.2) dargestellt? Dabei machen die unterschiedlichen Sichtweisen deutlich, dass es auch in China verschiedene Meinungen und Bewertungen der ausländischen Kolonialherrschaft gab, die zwischen Bewunderung und Kritik schwankten. Durch den Vergleich mit chinesischen Quellen mit unterschiedlichen Perspektiven und Werturteilen lernen die Schüler*innen die koloniale Propaganda der Postkarte und die darin vermittelten Aussagen über die “Anderen” zu dekonstruieren. Dieses Vorgehen im Unterricht schließt auch an Forderungen aus Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft an, Kolonialismus nicht mehr nur aus wirtschaftlicher und politischer Perspektive zu betrachten, sondern auch aus kultureller: Kolonialismus wird also als Ideologie verstanden, bei der Selbst- und Fremdbilder erzeugt und verbreitet werden, die auch über das Ende der Kolonialherrschaft hinaus wirksam bleiben können. (Grewe 2016)
Je nach Wissensstand der Schüler*innen gibt das Erklärvideo „China und der Kolonialismus“ einen knappen Überblick über den historischen Kontext, die kolonialen Ambitionen verschiedener ausländischer Staaten in China und die deutsche Kolonie Qingdao. Zu den Text- und Bildmaterialien finden sich außerdem ausführliche Einordnungen mit weiterführenden Informationen zu Ursprung und historischem Hintergrund unter dem Stichwort „Weiterführende Informationen“ unterhalb der entsprechenden Materialien. Das Quiz dient abschließend als eine Möglichkeit der Wiederholung von grundlegenden Daten. Es bietet mit seinen Bildmaterialien und den weiterführenden Informationen darüber hinaus auch weitere Anregungen zur Beschäftigung mit dem Thema. Da eine Vielzahl deutscher Bildquellen und deutschsprachiger Textquellen zu Tsingtau/Qingdao auch im Internet frei zur Verfügung stehen, eignet sich das Thema auch zur eigenständigen Recherche- oder Projektarbeit im Unterricht.
Verwendete Literatur
Ablauf
Jonas Schmid
Inhalt
Autor*in
Jonas Schmid
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