Aufgabe 1 von 3

M1: Arbeitsaufgaben

Mo Yan – Nobelvorlesung: Die Geschichtenerzähler

“Es gab im Zuge meiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis einige Diskussionen.

Anfangs hielt ich mich selbst für den Grund dieser Debatten, bis mir allmählich klar wurde, daβ der Gegenstand der Debatte jemand war, der mit mir so gut wie nichts zu tun hatte. Ich fühle mich wie ein Theaterbesucher, der dem Treiben auf der Bühne zusieht. Ich sehe, wie ein Preisträger mit Blumen überhäuft, aber auch mit Steinen beworfen und mit Dreckwasser überschüttet wird. Ich habe Angst, er könne zusammenbrechen, aber er steht lächelnd aus dem Haufen von Blumen und Steinen auf, wischt sich das Schmutzwasser ab, steht gelassen da und sagt zum Publikum:

Für einen Schriftsteller ist der beste Weg sich zu äußern das Schreiben. Alles, was ich zu sagen habe, steht in meinen Werken. Worte sind Schall und Rauch; was schwarz auf weiß geschrieben steht, läβt sich dagegen niemals ausradieren. Ich hoffe, daβ Sie meine Bücher mit Geduld und Nachsicht lesen, auch wenn ich sie natürlich nicht dazu zwingen kann. Selbst wenn Sie meine Bücher gelesen haben, erwarte ich nicht, daβ sie mich mit anderen Augen betrachten. Kein Schriftsteller der Welt wird von allen Lesern gemocht. Das gilt in der heutigen Zeit noch mehr als früher.

Eigentlich wollte ich mich nicht zu dieser Debatte äußern, doch heute muβ ich hier sprechen, und deshalb will ich ein paar Sätze dazu sagen.

Ich bin ein Geschichtenerzähler, also erzähle ich Ihnen eine Geschichte.

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich in die dritte Klasse der Grundschule ging, muβten wir uns einmal eine Ausstellung über das Leid unseres Volkes ansehen. Um den Erwartungen des Lehrers zu entsprechen, brachen wir alle in ein großes Geheule aus. Damit der Lehrer sich von meinem Entsetzen überzeugen konnte, wischte ich mir die Tränen nicht aus dem Gesicht. Ich sah, wie einige Mitschüler sich heimlich Speichel über das Gesicht schmierten, damit es aussah, als ob sie weinten. Ein einziger Schüler trug inmitten all der echten und falschen Tränen ein tränenloses Gesicht zur Schau, er gab keinen Ton von sich und barg auch das Gesicht nicht in den Händen. Er starrte uns mit großen Augen erstaunt, vielleicht auch ungläubig, an. Hinterher schwärzte ich ihn bei unserem Lehrer an und der Schüler bekam eine Disziplinarstrafe. Als ich viele Jahre später jenem Lehrer gestand, daβ ich mein Verhalten von damals bereue, erzählte er mir, daβ ich an jenem Tag nicht der einzige gewesen sei, der den Mitschüler angeschwärzt hatte. Dieser Mitschüler ist bereits einige Jahre tot, aber jedes Mal, wenn ich mich an ihn erinnere, bin ich tief beschämt. Dieser Vorfall hat mir eines begreiflich gemacht: Wenn alle weinen, dann sollte es einen geben, der nicht weint. Und wenn das Geheule zudem nur zur Schau gestellt ist, dann ist es umso wichtiger, daβ einer sich dem Weinen verweigert.

[…]

Bitte erlauben Sie mir, daβ ich Ihnen noch eine weitere Geschichte erzähle. Sie stammt von meinem Großvater. Es waren einmal acht Maurer, die vor einem Unwetter in einer Klosterruine Schutz suchten. Draußen grollte lautstark der Donner und ein Feuerball nach dem anderen schien von außen gegen das Klostertor anzurollen, die Luft schien erfüllt von furchtbarem Drachengebrüll. Die Männer waren starr vor Angst und kreidebleich. Einer von ihnen sagte: Einer von uns acht muβ etwas angestellt haben, das den Himmel erzürnt hat. Wer immer das war, soll gefälligst vor die Tür gehen und sich seine Strafe abholen, anstatt Unschuldige mit hineinzuziehen.“ Natürlich wollte keiner hinausgehen. Dann meinte ein anderer: „Da keiner von uns hinausgehen will, schlage ich vor, daβ wir alle unsere Strohhüte nach draußen werfen. Wessen Hut zum Tor hinausgeweht wird, der ist der Übeltäter und muβ hinausgehen und sich seiner Strafe stellen.“ So warfen also alle ihre Strohhüte in Richtung Tür. Sieben der Hüte wurden zurück in das Kloster geweht und nur einen trug der Wind nach draußen. Die anderen drängten ihren Kameraden hinauszugehen und seine Strafe zu empfangen. Als er sich weigerte, stießen ihn die Männer mit vereinten Kräften zur Tür hinaus. Ich nehme an, daβ Sie erraten können, wie die Geschichte ausgeht – in dem Moment, als der Mann zur Tür hinausflog, stürzte die Klosterruine in sich zusammen.

Ich bin ein Geschichtenerzähler.

Weil ich ein Geschichtenerzähler bin, wird mir der Nobelpreis für Literatur verliehen.

[…]”

© DIE NOBELSTIFTUNG 2012

Verwendete Literatur

Mo Yan – Nobelvorlesung. NobelPrize.org. Nobel Media AB 2021. Thu. 11 Mar 2021. https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2012/yan/25473-mo-yan-nobelvorlesung/