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M1: Mo Yans Nobelvorlesung

Im Jahr 2012 gewann der chinesische Schriftsteller Mo Yan 莫言 (1955 – ) den Nobelpreis für Literatur. Der Nobelpreis wurde nach dem Tod des schwedischen Chemikers und Erfinders Alfred Nobel (1829-1896), der mit seiner tödlichen Entdeckung, dem Dynamit, ein Vermögen gemacht hatte, ins Leben gerufen. In seinem Testament verfügte er, dass das Geld in eine Stiftung investiert werden sollte, die jährlich Preise in den Kategorien Frieden, Medizin, Literatur, Chemie und Physik vergeben sollte. Er schrieb, dass der Nobelpreis für Literatur “an die Person, die auf dem Gebiet der Literatur das hervorragendste Werk in einer idealistischen Richtung geschaffen hat…“ verliehen werden sollte. Mit einem Auswahlkriterium, das so breit und offen für Interpretationen ist, ist es kein Wunder, dass der Literaturnobelpreis oft umstritten war. Viele Verleihungen wurden kritisiert, manche Laureaten sind längst wieder in Vergessenheit geraten.

2012 lobte der Jurybericht Mo Yan als einen Schriftsteller, “der mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint.” Während die offizielle Reaktion der chinesischen Regierung auf Mo Yans Nobelpreis offenkundig positiv ausfiel, war die Rezeption in den internationalen Medien, sowohl von westlichen Schriftstellern, Journalisten und Akademikern als auch von chinesischen Kritikern und Dissidenten, eher kritisch. Bevor Sie sich diese Diskussionen genauer anschauen, lesen Sie zunächst den Auszug (->Materialien) aus Mo Yans Nobelvorlesung, die er am 7. Dezember 2012 in Stockholm hielt. Zu diesem Zeitpunkt war es für ihn fast unmöglich geworden, die Diskussionen um seinen Nobelpreis zu ignorieren.

Mo Yan - Nobelvorlesung: Die Geschichtenerzähler

"Es gab im Zuge meiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis einige Diskussionen.

Anfangs hielt ich mich selbst für den Grund dieser Debatten, bis mir allmählich klar wurde, daβ der Gegenstand der Debatte jemand war, der mit mir so gut wie nichts zu tun hatte. Ich fühle mich wie ein Theaterbesucher, der dem Treiben auf der Bühne zusieht. Ich sehe, wie ein Preisträger mit Blumen überhäuft, aber auch mit Steinen beworfen und mit Dreckwasser überschüttet wird. Ich habe Angst, er könne zusammenbrechen, aber er steht lächelnd aus dem Haufen von Blumen und Steinen auf, wischt sich das Schmutzwasser ab, steht gelassen da und sagt zum Publikum:

Für einen Schriftsteller ist der beste Weg sich zu äußern das Schreiben. Alles, was ich zu sagen habe, steht in meinen Werken. Worte sind Schall und Rauch; was schwarz auf weiß geschrieben steht, läβt sich dagegen niemals ausradieren. Ich hoffe, daβ Sie meine Bücher mit Geduld und Nachsicht lesen, auch wenn ich sie natürlich nicht dazu zwingen kann. Selbst wenn Sie meine Bücher gelesen haben, erwarte ich nicht, daβ sie mich mit anderen Augen betrachten. Kein Schriftsteller der Welt wird von allen Lesern gemocht. Das gilt in der heutigen Zeit noch mehr als früher.

Eigentlich wollte ich mich nicht zu dieser Debatte äußern, doch heute muβ ich hier sprechen, und deshalb will ich ein paar Sätze dazu sagen.

Ich bin ein Geschichtenerzähler, also erzähle ich Ihnen eine Geschichte.

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich in die dritte Klasse der Grundschule ging, muβten wir uns einmal eine Ausstellung über das Leid unseres Volkes ansehen. Um den Erwartungen des Lehrers zu entsprechen, brachen wir alle in ein großes Geheule aus. Damit der Lehrer sich von meinem Entsetzen überzeugen konnte, wischte ich mir die Tränen nicht aus dem Gesicht. Ich sah, wie einige Mitschüler sich heimlich Speichel über das Gesicht schmierten, damit es aussah, als ob sie weinten. Ein einziger Schüler trug inmitten all der echten und falschen Tränen ein tränenloses Gesicht zur Schau, er gab keinen Ton von sich und barg auch das Gesicht nicht in den Händen. Er starrte uns mit großen Augen erstaunt, vielleicht auch ungläubig, an. Hinterher schwärzte ich ihn bei unserem Lehrer an und der Schüler bekam eine Disziplinarstrafe. Als ich viele Jahre später jenem Lehrer gestand, daβ ich mein Verhalten von damals bereue, erzählte er mir, daβ ich an jenem Tag nicht der einzige gewesen sei, der den Mitschüler angeschwärzt hatte. Dieser Mitschüler ist bereits einige Jahre tot, aber jedes Mal, wenn ich mich an ihn erinnere, bin ich tief beschämt. Dieser Vorfall hat mir eines begreiflich gemacht: Wenn alle weinen, dann sollte es einen geben, der nicht weint. Und wenn das Geheule zudem nur zur Schau gestellt ist, dann ist es umso wichtiger, daβ einer sich dem Weinen verweigert.

[…]

Bitte erlauben Sie mir, daβ ich Ihnen noch eine weitere Geschichte erzähle. Sie stammt von meinem Großvater. Es waren einmal acht Maurer, die vor einem Unwetter in einer Klosterruine Schutz suchten. Draußen grollte lautstark der Donner und ein Feuerball nach dem anderen schien von außen gegen das Klostertor anzurollen, die Luft schien erfüllt von furchtbarem Drachengebrüll. Die Männer waren starr vor Angst und kreidebleich. Einer von ihnen sagte: Einer von uns acht muβ etwas angestellt haben, das den Himmel erzürnt hat. Wer immer das war, soll gefälligst vor die Tür gehen und sich seine Strafe abholen, anstatt Unschuldige mit hineinzuziehen.“ Natürlich wollte keiner hinausgehen. Dann meinte ein anderer: „Da keiner von uns hinausgehen will, schlage ich vor, daβ wir alle unsere Strohhüte nach draußen werfen. Wessen Hut zum Tor hinausgeweht wird, der ist der Übeltäter und muβ hinausgehen und sich seiner Strafe stellen.“ So warfen also alle ihre Strohhüte in Richtung Tür. Sieben der Hüte wurden zurück in das Kloster geweht und nur einen trug der Wind nach draußen. Die anderen drängten ihren Kameraden hinauszugehen und seine Strafe zu empfangen. Als er sich weigerte, stießen ihn die Männer mit vereinten Kräften zur Tür hinaus. Ich nehme an, daβ Sie erraten können, wie die Geschichte ausgeht – in dem Moment, als der Mann zur Tür hinausflog, stürzte die Klosterruine in sich zusammen.

Ich bin ein Geschichtenerzähler.

Weil ich ein Geschichtenerzähler bin, wird mir der Nobelpreis für Literatur verliehen.

[…]"

© DIE NOBELSTIFTUNG 2012

Verwendete Literatur

Mo Yan – Nobelvorlesung. NobelPrize.org. Nobel Media AB 2021. Thu. 11 Mar 2021. https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2012/yan/25473-mo-yan-nobelvorlesung/