
China unter der Lupe
China? Das hat doch jede*r schon einmal gehört. Liegt irgendwo in Ostasien. Doch wie groß ist China eigentlich? Wie viele Leute leben dort? Hier lernen Sie in einem Quiz Daten und Zahlen zu China kennen, bekommen Einblicke in Chinas Geographie, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und können so ihre eigenen Vorstellungen von China überprüfen. Außerdem zeigen wir Ihnen, wie Sie zu für Sie interessanten Themen recherchieren und Ihre eigenen Fragen zu China anhand von statistischen Daten beantworten können.
Thematische Einführung
Viele Aufgaben und Materialien in diesem Modul basieren auf Daten oder Materialien aus der Volksrepublik China (VR China). Die Arbeit mit Daten und Statistiken aus der Volksrepublik China stellt Forscher*innen und damit auch Lehrer*innen und Schüler*innen vor ein Dilemma: Einerseits kann eine Vielzahl von Fragestellungen nur durch den Rückgriff auf Daten aus der Volksrepublik China beantwortet werden, andererseits muss die Richtigkeit dieser Daten angezweifelt werden.
Statistiken (genau wie Karten) sind zwangsläufig nur ein vereinfachendes Abbild der Realität und weichen von der tatsächlichen Situation ab – egal ob in der Volksrepublik China oder anderswo. Außerdem sind in Deutschland oder von internationalen Institutionen erhobene Statistiken und die dabei verwendete Methodik ebenfalls teils pragmatisch oder politisch motiviert: So wurde beispielsweise Ende der 2000er-Jahre die deutsche Berechnung der Arbeitslosenzahlen dafür kritisiert, dass mehrere Millionen Empfänger des Arbeitslosengeldes darin nicht auftauchen würden. Gleichzeitig war die Problematik scheinbar geringer Arbeitslosenzahlen nicht nur auf Deutschland, dessen Berechnung im internationalen Vergleich relativ transparent sind, beschränkt, sondern betraf auch Länder wie Großbritannien oder die Niederlande. (Stumberger 2009) Ein weiteres Beispiel ist die Berechnung der Anzahl der weltweit Hungernden durch Unterorganisationen der Vereinten Nationen, die durch eine veränderte statistische Erhebungsgrundlage immer größer wird: Wurde 1996 das Ziel gesetzt bis 2015 die Zahl der Hungernden weltweit auf 394 Millionen zu senken, sind nun nach mehreren Korrekturen der Berechnungsweise 724 Millionen Hungernde die obere Grenze des Ziels. (Janker 2015)
Gerade auch bei chinesischen Daten wird oft von einer politischen Einflussnahme ausgegangen. Seit 2020 stehen dabei vor allem Chinas offizielle Statistiken zu Covid19-Fällen im Schlaglicht – internationale Aufmerksamkeit erregten beispielsweise Berichte des chinesischen Wirtschaftmagazins Caixin 财新 zu Beginn der Pandemie über einen erhöhten Bedarf an Urnen in der besonders betroffenen Stadt Wuhan. (Mattheis 2020) In den Jahren zuvor aber wurden in Medien und Wissenschaft vor allem auch die offiziellen Daten zum Bruttoinlandsprodukt, den Arbeitslosenzahlen und anderen wirtschaftlichen Indikatoren wie der Industrieproduktion kritisiert. (Plekhanov 2017, 86-97; Holz 2014)
Gerne wird dabei auch eine frühere Bemerkung des aktuellen Ministerpräsidenten Li Keqiang 李克强 (1955-) erwähnt, um zu zeigen, dass selbst chinesische Politiker den eigenen Zahlen nicht trauen. Zu seiner Zeit als Parteichef der nordchinesischen Provinz Liaoning 辽宁 bemerkte er 2007 gegenüber dem damaligen amerikanischen Botschafter, dass den Wirtschaftsstatistiken der von ihm regierten Provinz nicht zu glauben sei. Anstatt sich auf diese Zahlen zu verlassen, schaue er sich lieber den Umfang des Warentransports auf der Schiene, den Stromverbrauch und das Volumen der von Banken vergebenen Kredite an und gelange so zu verlässlicheren Aussagen über die chinesische Wirtschaftskraft. (Economist 2010; Holz 2014, 310; Qi 2016)
Aus wissenschaftlicher Sicht sind mehrere Kritikpunkte an chinesischen Statistiken zu nennen: Die Methodologie ist oft problematisch, es bestehen große Meldelücken (was auch auf die Größe Chinas und die damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der Datenerhebung zurückzuführen ist), Daten werden manipuliert und es fehlt allgemein die Transparenz (z.B. wird die Herkunft und Methodologie bei der Erhebung der Daten nicht erwähnt). (Plekhanov 2017, 80-82)
Auf Provinz- und Lokalebene sind die Bewertung und Beförderung von Beamten eng mit der erfolgreichen Umsetzung von Vorgaben der Zentralregierung (darunter als einer der wichtigsten Faktoren das Wirtschaftswachstum) verknüpft. Lokale Beamte haben daher oftmals ein Interesse, dass für sie schlechte Daten durch Manipulation aufgehübscht werden. (Weitere Informationen zum Bewertungssystem chinesischer Beamter finden Sie in unserem Lernmodul Meritokratie.) 2013 berichtete die New York Times beispielsweise über den eklatanten Unterschied zwischen Provinzstatistiken und nationalen Daten zur Wirtschaft: Wurden die Bruttoinlandsprodukte aller 31 Provinzen, regierungsunmittelbaren Städten und autonomen Regionen addiert, so lag die Summe deutlich höher als das vom Nationalen Statistikbüro für ganz China errechnete Bruttoinlandsprodukt – es schien als gäbe es eine weitere Phantomprovinz mit einer Wirtschaftskraft von 5,8 Billionen Renminbi 人民币. (Tatlow 2013; Wen 2019; Heilmann 2016, 188; Holz 2013, 313-315) Ein 2019 vom amerikanischen Thinktank Brookings herausgegebene Studie, kam so auch zum Ergebnis, dass die regionalen Wirtschaftsdaten zwischen 2008 und 2016 so stark verzerrt waren, dass die chinesische Wirtschaft 2016 in der Realität 12% kleiner war als angenommen. (Chen u.a. 2019)
Diese verzerrten Wirtschaftsstatistiken der Volksrepublik China sind also kaum auf gezielte Fälschungen der Zentralregierung, sondern eher auf die im chinesischen Beamtensystem angelegten Anreize zur Schönung von lokalen Statistiken zurückzuführen. (Heilmann 2016, 189; Holz 2014, 322) Die Zentralregierung und Parteiführung in Beijing haben in den Jahren nach 2013 dies als Problem erkannt und versuchen Druck auf die Provinzebene auszuüben, damit deren Zahlen stärker der Realität entsprechen. (Leng 2019) Ein Beispiel ist die Provinz Liaoning, deren Wirtschaftsdaten 2014 von einem Inspektionsteam aus Beijing öffentlich als manipuliert gebrandmarkt wurden. (Qi 2016) Nimmt man beispielsweise die offiziellen Daten der Bruttoinlandsprodukte einzelner Provinzen von 2019 und addiert diese, zeigt sich kein großer Unterschied mehr zwischen regionalen und nationalen Daten des Bruttoinlandsprodukts. Dies deutet zumindest darauf hin, dass die Zentralregierung in Beijing seit dem Amtsantritt von Xi Jinping und Li Keqiang 2013 erfolgreich den Wildwuchs der Provinzstatistiken zurückgedrängt hat. Bis jetzt sind noch keine wissenschaftlichen Arbeiten erschienen, die sich kritisch mit den chinesischen Wirtschaftsstatistiken nach 2016 beschäftigen.
Das Beispiel der chinesischen Arbeitslosenquote zeigt anschaulich, dass eben nicht nur die Manipulation von Statistiken durch Beamte, sondern auch ungenaue Datenerhebung ein Problem ist: Seit der Jahrtausendwende lag die Arbeitslosenquote der Volksrepublik China immer bei knapp über vier Prozent, selbst die Weltwirtschaftskrise 2008 führte zu keiner wesentlichen Veränderung der Arbeitslosenzahlen. Dies lag vor allem daran, dass in der Arbeitslosenstatistik nur offiziell registrierte Arbeitslose gezählt werden, und dass daher aber die hohe Zahl nach 2008 arbeitsloser (aber nicht registrierter) Wanderarbeiter in den Zahlen nicht auftauchte. Da auch die Zentralregierung ein Interesse an möglichst genauen Zahlen zur Arbeitslosigkeit hat (denn zu viele Arbeitslose stellen auch eine Gefahr für die soziale Stabilität dar), wurde 2018 eine neue Berechnung eingeführt: Gezählt werden nun nicht mehr die registrierten Arbeitslosen, sondern aus einer Stichprobe an Haushaltsbefragungen werden die Arbeitslosenzahlen hochgerechnet. (Mondorf 2020, 19-22)
Problematisch aus Sicht von Wissenschaftler*innen ist jedoch vor allem, dass es für Außenstehende unmöglich ist, die offiziellen chinesischen Statistiken zu überprüfen und nachzuweisen, ob diese falsch oder richtig sind. Denn alternative Datenerhebungen gibt es kaum und wenn, so geben sie oftmals nur Auskunft über einzelne Städte oder Provinzen, lassen aber keine landesweiten Aussagen zu. (Plekhanov 2017, 97-98; Mondorf 2020, 15-17) Alle Datenerhebungen in der Volksrepublik China dürfen nur vom Nationalen Statistikamt (und den Statistikämtern auf Provinzebene) durchgeführt werden oder müssen von diesem genehmigt werden. Im Gegensatz zum statistischen Bundesamt in Deutschland ist das Nationale Statistikamt der Volksrepublik China (Zhonghua renmin gongheguo guojia tongjiju 中华人民共和国国家统计局) keine unabhängige Institution, sondern untersteht direkt dem Staatsrat unter Leitung des Ministerpräsidenten. Hauptaufgabe des Amtes ist es, der politischen Führung alle für die politischen Entscheidungen wichtigen Daten zur Verfügung zu stellen. (Mondorf 2020, 15-17; Holz 2014, 321-322) Es gibt jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass es chinesische Statistiken gibt, die nur intern in Beijing verwendet werden und die Öffentlichkeit andere, absichtlich vom Statistikamt geschönte Statistiken zu sehen bekommt. (Holz 2014, 323)
Daten aus der Volksrepublik China sind also zwar mit Vorsicht zu genießen – vor allem wenn es sich um politisch brisante Themen wie Wirtschaftsleistung, Covid19-Infizierte oder die Zahl der vollstreckten Todesurteile handelt. Gleichzeitig ist die Arbeit mit offiziellen Daten in vielen Themenfeldern alternativlos, da keine unabhängigen Berechnungen vorliegen.
Zumindest das Interesse der Zentralregierung und Parteiführung in Beijing an validen und aussagekräftigen Statistiken, auf deren Grundlage sie politische Entscheidungen fällen kann, kann jedoch dafürsprechen, dass Daten aus der Volksrepublik China nicht eklatant an der tatsächlichen Situation vorbei gehen. (Kroeber 2016, 263-266) Statistiken zeigen also die Realität nicht ohne Verzerrungen, aber ohne sie können wir uns von der Realität nur schwer einen Eindruck verschaffen.
(Jonas Schmid, 15.03.2021)
Verwendete LiteraturEinen Überblick über grundlegende Überblickswerke zu China und verschiedenen Themenbereichen wie Geschichte, Gesellschaft, Politik und Kultur finden Sie in unseren kommentierten Lektürehinweisen.
Lernziele/Kompetenzen
Die Schüler*innen können...Didaktisch-methodischer Kommentar
Wir alle tragen Vorstellungen von China (Chinabilder) mit uns herum, die zum Beispiel durch unsere Medienlektüre geprägt sind. Diese Chinabilder können negativ (Diktatur, Umweltverschmutzung, strenge Erziehung) und positiv (alte Zivilisation, wirtschaftliche Stärke, kulturelle Vielfalt) ausfallen. Oft sind diese Vorstellungen von „dem China“ allerdings Pauschalurteile, die wenig mit der Vielfalt Chinas und der der Lebenswelten von Chines*innen zu tun haben. Der hier vorgeschlagene kritische, auf statistische Daten gestützte Blick erlaubt, diese China differenzierter zu betrachten und mit unserer Situation in Deutschland zu vergleichen. Zu Beginn der Stunde sammeln die Schüler*innen ihre Vorstellungen von China (Chinabilder). Die darauffolgenden Quizfragen (M2) laden dazu ein, einige verbreitete Vorstellungen von China und den Chines*innen zu überdenken. Das Quiz kann entweder von den Schüler*innen in Einzelarbeit oder gemeinsam im Klassenzimmer bearbeitet werden. In letzterem Fall nimmt die Lehrkraft die Rolle des Quizmasters ein und führt durch die Quizfragen. Zu jeder Frage gibt es ausführliche Hintergrundinformationen, welche die in den Quizfragen angesprochenen Themen kontextualisieren und Literaturhinweise für weitere Recherchen anbieten. Im Anschluss an das Quiz können die Schüler*innen sich selbst Fragen zu China überlegen (Fragekompetenz) – diese Fragestellungen können ebenfalls aus den Vorstellungen der Schüler*innen zu China entwickelt werden, die vor Beginn des Quiz gesammelt wurden. Durch eine Internetrecherche versuchen die Schüler*innen Antworten auf ihre Fragestellungen zu finden (Recherchekompetenz bzw. Informationskompetenz). Dabei gilt es die große Anzahl an Internetquellen auf ihre Aussagekraft und Seriosität zu prüfen: Die Schüler*innen sollen sich mehrere Webseiten anschauen und deren Inhalte vergleichen und bewerten (reflektierte Mediennutzung). Abschließend verfassen sie Antworten auf ihre Fragestellungen, in denen sie auch darauf eingehen sollten, wie aussagekräftig die von ihnen gefundenen Daten sind. Ziel des Recherchierens ist es also nicht, eine korrekte und abschließende Antwort auf eine Fragestellung zu finden – dies wird in vielen Fällen auch gar nicht möglich sein, da manche Daten nur auf Chinesisch vorliegen. Stattdessen sollen die Schüler*innen selbst – ähnlich wie die Quizfragen es zeigen – eine differenzierte Antwort (oder Antworten) auf ihre Fragestellungen verfassen. Gerade auch wenn keine eindeutige Antwort möglich ist, ist dies ebenfalls ein wertvolles Rechercheergebnis. Denn im Sinne des wissenschaftspropädeutischen Arbeitens in der Oberstufe zeigt diese Rechercheaufgabe die Komplexität und Schwierigkeit wissenschaftlichen Arbeitens auf. Für die Rechercheaufgabe steht ein Rechercheleitfaden zur Verfügung (M3), der beispielhaft zeigt, wie eine Recherche ablaufen kann, zur Verfügung. Die Schüler*innen können den Rechercheleitfaden alleine lesen und danach selbst recherchieren oder die Lehrkraft kann diesen im Unterrichtsgespräch durchgehen (induktive Methode). Gegebenenfalls kann die Lehrkraft auch an einem Beispiel der Schüler*innen anschaulich gemeinsam mit diesen eine Recherche durchführen, bevor die Schüler*innen dann selbst recherchieren. Für besonders leistungsstarke Gruppen bietet sich auch eine deduktive Herangehensweise an: Die Lehrkraft recherchiert mit den Schüler*innen gemeinsam Antworten auf eine Fragestellung und entwickelt daraus im Unterrichtsgespräch mit den Schüler*innen einen eigenen Rechercheleitfaden. Die Recherche selbst kann auch als (allerdings zeitaufwändige) Hausaufgabe ausgelagert werden. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Lehrkraft als Ansprechpartner*in bei Fragen und Problemen während des Rechercheprozesses zur Verfügung steht.Ablauf
Jonas Schmid
Inhalt
Autor*in
Jonas Schmid
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