„Boxer“ oder „in Rechtschaffenheit vereinte Fäuste“?
Ein Chinese in London über den sogenannten „Boxeraufstand“ (1900)
In der britischen Zeitung „Daily Telegraph“ erschien am 13. Juni 1900 ein Text, in dem ein in London lebender Chinese sich zu den „Boxern“ äußert, die seit 1899 in Nordchina gegen Ausländer*innen und chinesische Christ*innen vorgingen. Der Text erschien 1903 – zwei Jahre nach Niederschlagung des Aufstands durch ausländische Truppen – auch auf Deutsch in einem Buch zum „Boxeraufstand“.
„Die westliche Zivilisation“, sagte der Chinese, „ist in unsern Augen wie ein Pilz, wie ein Ding von gestern. Die chinesische Zivilisation dagegen ist ungezählte Jahrtausende alt; wir glauben daher, daß wir euch um mindestens 2000 Jahre voraus sind. […]
Und nun kommt ihr aus eurer westlichen Welt zu uns mit dem, was ihr eure „neuen Ideen“ nennt. Ihr bringt uns eure Religion — ein Kind von neunzehnhundert Jahren; ihr fordert uns auf, Eisenbahnen zu bauen, damit wir von einem Ort zum andern fliegen können mit einer Eile, die uns weder Bedürfnis ist, noch Reiz für uns hat. Ihr wollt Fabriken bauen und dadurch unsere schönen Künste und Gewerbe verdrängen, ihr wollt blendenden Flitter verfertigen statt der schönen Gebilde und Farben, die wir durch Jahrhunderte erprobt haben. Gegen alles das erheben wir Einspruch. Wir wollen allein gelassen werden, wir wollen die Freiheit haben, unser schönes Land und die Früchte unserer alten Erfahrung zu genießen. Wenn wir euch bitten, wegzugehen, so weigert ihr euch und bedroht uns gar, wenn wir euch nicht unsere Häfen, unser Land, unsere Städte geben. Daher sind wir Mitglieder der Gesellschaft der sogenannten „Boxer“ nach reiflicher Überlegung zu der Erkenntnis gekommen, daß die einzige Möglichkeit euch los zu werden, darin liegt, daß wir euch töten. Wir sind von Natur nicht blutdürstig, aber wenn Zureden und Überzeugung und die Berufung an euren Verstand und euer Gerechtigkeitsgefühl versagen, so sehen wir uns der Thatsache gegenüber, daß nur unsere einzige Rettung ist, euer Dasein auszulöschen. […]“
In diesem Sinne hat denn auch der englische „Daily Expreß“ eine Unterredung veröffentlicht, welche einer seiner Redakteure mit einem in London sich aufhaltenden Mitgliede der Boxer-Vereinigung gehabt haben will:
„Die westliche Zivilisation", sagte der Chinese, „ist in unsern Augen wie ein Pilz, wie ein Ding von gestern. Die chinesische Zivilisation dagegen ist ungezählte Jahrtausende alt; wir glauben daher, daß wir euch um mindestens 2000 Jahre voraus sind. Auch bei uns gab es eine Zeit, da wir unsern „Kampf ums Dasein“, unsere Jagd nach Reichtum, unsern Machthunger, unser Hasten und Hetzen und unsere Qual hatten. Auch wir hatten unsere klugen Erfindungen, wir hatten das Schießpulver, den Buchdruck und alles übrige, aber wir haben lange genug gelebt, um zu erkennen, wie wenig notwendig und wie nutzlos alles das ist. Wir haben auch unsere Zeiten des Zweifels, des Fanatismus und des Streites in Religionssachen gehabt; wir hatten unsere Märtyrer, unsere Reformationen, unsere Intoleranz und schließlich die Toleranz — und das alles vor Tausenden von Jahren. Aber, wie gesagt, wir sind diesen Dingen entwachsen. Aus den Erfahrungen vergangener Jahrhunderte haben wir Weisheit gelernt, aus den Fehlern und den Unfällen unserer Ahnen ersehen, daß keines der Dinge, nach denen wir strebten, des Strebens wert war. So haben sich unsere Leidenschaften und unser Ehrgeiz allmählich abgesetzt in dem ruhigen Wunsche nach Glückseligkeit in dieser Welt, unsere Religion ist zu einer Lebensphilosophie geworden, die sich in der Probe der letzten 2000 Jahre als gesund erwiesen hat. Wir glauben, daß das Beste, was man in diesem Leben erreichen kann, die Glückseligkeit ist, und wir lehren unsere Kinder, daß sie dieses Glück nur durch Pflichterfüllung erzielen, indem sie die Vorschriften der Moral und der Lebensgemeinschaft erfüllen und sich mit einem Kreise gleichfalls glücklicher Freunde und Verwandten umgeben.
Wenn ein Chinese mehr von geschäftlichem Glück begünstigt ist, als seinen Verwandten zu teil geworden, so findet er seine größte Befriedigung darin, sein Vermögen mit jenen zu teilen. Und wir in China hören nie auf, zu arbeiten; etwas, wie ein Zurückziehen vom Geschäft, giebt es nicht, die Arbeit ist ein Teil unseres Vergnügens, weil sie ein Teil unserer Pflicht ist. Wir glauben das Beste in diesem Leben zu thun, weil es das einzige ist, von dem wir etwas sicheres wissen. Das ist das letzte Sein und Ende der chinesischen Philosophie.
So werden Sie überall in China dasselbe Maß und denselben gleichartigen Geist der Befriedigung finden. Sie mögen glauben, wir lebten in Unwissenheit, Schmutz und Trägheit, aber ich versichere Ihnen, es ist nicht der Fall. Wir fühlen uns so wohl, wie wir wünschen, und kein Mensch kann uns darin eine Besserung bringen. Und nun kommt ihr aus eurer westlichen Welt zu uns mit dem, was ihr eure „neuen Ideen“ nennt. Ihr bringt uns eure Religion — ein Kind von neunzehnhundert Jahren; ihr fordert uns auf, Eisenbahnen zu bauen, damit wir von einem Ort zum andern fliegen können mit einer Eile, die uns weder Bedürfnis ist, noch Reiz für uns hat. Ihr wollt Fabriken bauen und dadurch unsere schönen Künste und Gewerbe verdrängen, ihr wollt blendenden Flitter verfertigen statt der schönen Gebilde und Farben, die wir durch Jahrhunderte erprobt haben. Gegen alles das erheben wir Einspruch. Wir wollen allein gelassen werden, wir wollen die Freiheit haben, unser schönes Land und die Früchte unserer alten Erfahrung zu genießen. Wenn wir euch bitten, wegzugehen, so weigert ihr euch und bedroht uns gar, wenn wir euch nicht unsere Häfen, unser Land, unsere Städte geben. Daher sind wir Mitglieder der Gesellschaft der sogenannten „Boxer“ nach reiflicher Überlegung zu der Erkenntnis gekommen, daß die einzige Möglichkeit euch los zu werden, darin liegt, daß wir euch töten. Wir sind von Natur nicht blutdürstig, aber wenn Zureden und Überzeugung und die Berufung an euren Verstand und euer Gerechtigkeitsgefühl versagen, so sehen wir uns der Thatsache gegenüber, daß nur unsere einzige Rettung ist, euer Dasein auszulöschen.
Nehmen Sie Ihre Missionäre! Sie kommen zu uns mit einer neuen Religion, über deren hauptsächlichste Grundsätze sie selbst unter einander bitterlich uneins sind; sie sagen uns, wenn wir ihre Lehre nicht annehmen, würden wir „ewige Strafe“ erdulden. Sie schrecken unsere Kinder und alten Leute und veranlassen alle möglichen Zwistigkeiten zwischen Familien und einzelnen Personen. Da ist es doch kein Wunder, daß wir sie nicht dulden wollen. Wenn wir eure Eisenbahnen und Maschinen haben wollten, so könnten wir sie ja kaufen; aber wir wollen sie nicht, sie sind uns nichts nutz, wir haben gelernt, ohne sie fertig zu werden. Trotzdem sagt ihr, Ihr würdet uns zwingen, sie zu kaufen, ob wir wollen oder nicht. Ist das gerecht? Ich sage, es ist eine Anmaßung, eine Beschimpfung.
Viel Wesens wird auch daraus gemacht, daß wir keine Soldaten sind. Wir aber haben aufgehört, Soldaten zu sein, weil wir zivilisiert geworden sind. Der Krieg ist barbarisch. Die Wirkung davon, daß wir auf unserer jetzigen Höhe der Zivilisation angelangt sind, ist, daß wir uns mehr als irgend eine andere Rasse auf der Erde vermehrt und vervielfacht haben. Trotz unserer grossen Sterblichkeit — an der Sie wieder Anstoß nehmen, obwohl wir glauben, daß sie eine weise Vorsehung der Natur ist — vermehrt sich die chinesische Rasse schneller als irgend ein anderes Volk der Welt. Wenn wir es darauf ablegten, könnten wir die übrige Menschheit überwältigen; daß wir dies nicht thun, ist nur der Vollendung unserer Zivilisation zuzuschreiben. Wir zählen 400 Millionen menschliche Wesen, und wer könnte uns Widerstand leisten, wenn wir unsere Macht zur Geltung bringen wollten? Glauben Sie, wir seien uns dessen nicht bewußt? Im Gegenteil, wir wissen es zu gut, und nun ist es Sache der weißen Rassen auf der Erde, zu erkennen, daß wir, nicht sie die Herren sind.
China ist von 20 sogenannten glücklichen Invasionen heimgesucht worden. Aber was hat sich ereignet? Haben die Eindringlinge die Chinesen beherrscht? Nein, die Besiegten haben die Besieger aufgesogen und alle sind Chinesen geworden. Selbst die Juden, die zu uns gekommen, sind von unserer Rasse absorbiert worden, ein Vorgang, der nirgends seinesgleichen hat.
Lassen Sie mich wiederholen, daß alle die Dinge, die im Westen die Menschen trennen, in China thatsächlich keinen Daseinsgrund haben. Politik, Religion, persönlichen Ehrgeiz, Ausdehnungsdrang, Landhunger, Goldhunger — alles das giebt es in China nicht. Ihr meint, der Chinese sei ein Kind, weil er sorglos und einfach ist. Das ist ein großer Irrtum. Er hat das Geheimnis gelernt, glücklich zu sein; sein Leben ist ruhig, und nichts stört ihn, solange sein Gewissen rein ist! In ein Sprichwort zusammengefaßt ist das Bild unseres Charakters: „Laßt uns in Ruhe und wir lassen euch in Ruhe!“ —
THE OTHER SIDE OF THE QUESTION
WHAT A BOXER HAS TO SAY ON THE CHINESE CRISIS.
There is living in London––in fact he holds a high position in a firm of Eastern merchants––a Chinese gentleman who has for many years belonged to the Boxer’s Secret Society in China and with whom a representative of the “Express” has had a most interesting interview.
It is astonishing how much this terrible Boxer had to say for himself and his associate.
“You English,” he observed, speaking our language with remarkable fluency,” only look at Chinese matters from your own point of view. Ah! If you could only look at them from ours!
“Western civilization is to us a mere mushroom. It is a thing of yesterday, Chinese civilization is unnumbered thousands of years old. We consider ourselves at least two thousand years ahead of you.
“There was a time when we had, like you, our ‘struggle for life,’ our race for wealth, our ambition for power, our haste and hurry and worry. We, too, had your clever inventions–gunpowder, printing, and the rest–but we have lived long enough to find out how essentially unnecessary all these things are.
“We have also had our periods of doubt, fanaticism, and dissension in matters of religion. We have had our martyrs, our Reformations, our Nonconformista, our intolerance, and finally, our toleration. Yes, thousands of years ago.
WISDOM FROM THE CENTURIES
“But as I say, we have outgrown it all. From the experience of past centuries we have learnt wisdom; from the mistakes and disasters of our ancestors we have learnt that none of the things for which we strove were really worth striving for.
“Our passions and ambitions have settled down into a calm desire for happiness in this world: our religion is reduced to a philosophy of life when the test of the last two thousand years has proved to be absolutely sound.
“We believe that the best thing to pursue in this life is happiness, and we teach our children that their happiness can only be secured by the performance of duty, by the observance of moral and business obligations, and by surrounding oneself with a circle of equally happy friends and relatives.
“If a Chinaman prospers beyond the lot which falls to his kindred, he finds his greatest happiness in sharing his good fortune with them. And in China we never cease to work. There is no such thing as ‘retiring from business.’ Work is part of our pleasure, because it is part of our duty.
A COMFORTABLE PHILOSOPHY.
“We believe in making the best of this life, which is the only one we know anything about for certain. That is the Be All and End All of Chinese philosophy.
“All through China you will find the same level, uniform spirit of content.
“You may think we live lives of ignorance and squalor and idleness, but I assure you it is not so. We are as well off as we want to be, and no man can improve on that.
“Now, these being our circumstances, you of the Western world come to us with what you call your new ideas. You bring us your religion, an infant of nineteen hundred years. You invite us to build railways so that we may fly from place to place at a speed which for us has neither necessity nor charm. You want to build mills and factories so as to debase our beautiful arts and crafts, and produce tawdry finery in place of the beautiful textures and hues which we have evolved after ages of experiment.
“Against all this we protest. We want to be let alone. We want to be free to enjoy our beautiful country and the fruits of our centuries of experience. When we ask you to go away you refuse, and you even threaten us if we do not give you our harbours, our land, our towns.
“And now, having carefully considered the matter, we of the so-called Boxers’ Society have decided that the only way to get rid of you is to kill you. We are not naturally bloodthirsty. We certainly are not thieves. But when persuasion, and argument, and appeals to your senses of justice, are of no avail, we find ourselves face to face with the fact that the only resource is to put you out of existence.
THE MISSIONARY QUESTION.
“Consider your missionaries. They come, as I have said, with a new religion, upon the main principles of which they are bitterly divided among themselves. They tell us that unless we accept their doctrines we shall suffer eternal punishment. They frighten our children and the more weakminded of our older people, and create all kinds of dissensions between families and individuals. No wonder that we will not tolerate them.
“If we waried [sic] your railways and machines, we could, of course, buy them, but we do not. We have no use for them. We have learned to do without them. Yet you say you will force us to buy them, whether we will or no. Is that just? I say it is an impertinence–an outrage.
“A good deal is made of the fact that we are not soldiers. Well, we have ceased to be soldiers, because we have become civilized. War is a barbarism. The effect of our having arrived at our present stage of civilization is that we have increased and multiplied beyond every other race on the face of the earth. In spite of our great mortality (which seems to be very shocking to you, although we recognize in it only a wise provision of naturel, the Chinese race is increasing at a greater rate than any other people in the world.
“We could if we chose overwhelm the rest of mankind. That we do not do so is due to the perfection of our civilization, our philosophy, and our morals. We number 400,000,000 human beings, and who could withstand us if we chose to assert our power? Do you think we are unconscious of it? On the contrary, we understand it only too well. Let the white races of the earth appreciate the fact that we and not they are its masters.
WHAT HAPPENS TO INVADERS.
“There have been twenty so-called successful invasions of China. But what has happened? Have invaders dominated the Chinese? No. The conquered have absorbed their conquerors. All have become Chinese. The very Jews who have come among us have been absorbed by our race––a thing which has never happened elsewhere.
“Let me repeat that all the forces which divide men in the West have practically no existence in China. Politics, religion, private ambitions, the necessity of expansion, land-hunger, gold-hunger––all these have no existence in China. You think that because the Chinaman is inert, careless, and simple, he is a child. There never was a greater mistake.
“He has learned the secret of being happy. His life is placid, and nothing troubles him so long as conscience is clear.
“There you have our character in a sentence. Let us alone, and we will let you alone.”
Daily Express. 13.06.1900. Seite 1.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/m-quellen-boxeraufstand]
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