„Boxer“ oder „in Rechtschaffenheit vereinte Fäuste“?
Ein chinesischer Christ blickt zurück auf den „Boxeraufstand“ (1903)
Jonas Schmid 11.03.2025
Einzelmaterial: Ein chinesischer Christ blickt zurück auf den „Boxeraufstand“ (1903)
Die Menschen in Shanxi 山西 sind von Natur aus ängstlich und sanftmütig, sie neigen nicht zu Unruhen und sind das friedfertigste Volk in China. Daher waren unsere Christen in Shanxi zuversichtlich, selbst als die Berichte von der Küste immer alarmierender wurden. Aber es gab eine Sache, die uns große Sorgen bereitete, nämlich die Tatsache, dass der böse, grausame Yuxian 毓賢, der Ausländerhasser, zum neuen Gouverneur von Shanxi ernannt worden war. Er hatte zuvor die Boxerbewegung in Shandong 山東 gefördert und die Kaiserinwitwe davon überzeugt, dass die Boxer übernatürliche Kräfte hätten und wahre Patrioten seien.
Anfang Juni kehrte mein Studienfreund Kong Xiangxi 孔祥熙 aus Tongzhou 通州 zurück und berichtete, dass sich die Lage in Tongzhou und in Peking verschlimmert habe, dass die örtlichen Beamten gegen die Boxer machtlos seien und dass die Boxer, mit Schwertern bewaffnet, ständig die im Lande verstreuten Christen bedrohten.
Von diesem Zeitpunkt an hatten wir keinen Kontakt mehr nach Tianjin 天津 oder Beijing 北京. Alle Reisenden wurden durchsucht, und wenn man sie mit ausländischen Briefen entdeckte, wurden sie getötet. Obwohl mehrmals Boten losgeschickt wurden, um unsere Briefe an die Küste zu bringen, wurden sie von den Boxern zurückgeschickt, bevor sie weit gekommen waren. Es dauerte nicht lange, und die Boxer hatten sich wie eine Seuche über ganz Shanxi ausgebreitet. [...]
Der böse Gouverneur, Yuxian, verbreitete Proklamationen. Darin hieß es, dass die fremden Religionen [die katholischen und protestantischen Missionare] die Moral umstürzten und die Menschen zum Bösen verleiteten, so dass sich nun Götter und Menschen gegen sie regen würden und der Himmel Kämpfer geschickt habe, um die fremden Teufel auszurotten. Die Boxer, die ihrem Herrscher und ihrem Land die Treue hielten, seien entschlossen, die fremde Religion mit vereinten Kräften zu vernichten. Er setzte auch eine Belohnung für alle aus, die Ausländer töteten, entweder einen Titel, ein Amt oder Geld. Was konnten untergeordnete Beamte tun, wenn der höchste Beamte der Provinz eine solche Position zugunsten der Boxer einnahm? Menschen und Beamte beugten sich seinem Willen, und alle, die sich als Boxer meldeten, standen in hoher Gunst. Es war eine Zeit der Willkür und Anarchie, in der nicht nur Christen getötet wurden, sondern auch Hunderte von anderen, gegen die einzelne Boxer einen Groll hegten.
Immer wieder kamen Menschenmassen an unserem Missionstor vorbei, um zu sehen, was los war, denn die Stadt war voll von Gerüchten. „Die Ausländer sind alle geflohen.“ „Viele Ausländer aus anderen Orten haben sich hier versammelt.“ [...] „Die Ausländer haben Männer angeheuert, um Brunnen zu vergiften und Tore mit Blut zu beschmieren.“ […]
Ende Juli wurde eine Proklamation des Gouverneurs in der Stadt ausgehängt, in der es hieß: „Tötet die Ausländer, tötet die Teufel.“ Einheimische Christen müssen aus der Kirche austreten oder mit ihrem Leben bezahlen. [...]
[...] Ich sah eine große Karawane auf mich zukommen, Planwagen, Maultiergespanne, Reiter, Fußvolk. Es waren die Beamten und Reichen von Peking, die mit ihren Familien vor den fremden Soldaten geflohen waren und von ihrem Besitz mitnahmen, was sie konnten. Tag für Tag traf ich sie, Hunderttausende von flüchtenden Soldaten und andere. Die Soldaten plünderten links und rechts und überzogen das Land wie eine Heuschreckenplage, und die verängstigten Einwohner flohen vor ihnen. Fast jeder Soldat hatte ein Pferd, ein Maultier, einen Esel oder ein Kamel gestohlen und mit der eigenen Beute beladen.
Obwohl die Alliierten [ausländischen Truppen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich, Russland und den USA] Beijing und die umliegende Region besetzten, trainierten die Boxer immer noch, und in der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Niumutun 牛牧屯 gab es ein Lager mit über tausend Mann. Mein Bruder drängte mich, so schnell wie möglich in Beijing Zuflucht zu suchen, denn in unserem Dorf drohten mir zwei Gefahren, nämlich von den Boxern getötet zu werden oder von den ausländischen Soldaten als Arbeiter rekrutiert zu werden. Später erzählte mir mein Bruder ausführlich, wie eines Tages einige Sikhs [indische Soldaten im Dienste Großbritanniens] in das Dorf gekommen waren und ihn sowie mehrere Nachbarn gepackt, ein Seil an ihre Zöpfe [verpflichtende Haatracht für Männer in der Qing-Dynastie] gebunden und sie dann wie Maultiere aneinandergereiht hatten. Männer führten sie an und trieben sie an, brachten sie zum Flussufer, um Boote zu ziehen. Mein Bruder hatte noch nie zuvor eine solche Arbeit verrichtet. Er watete durch Schlamm und Wasser, manchmal bis zur Hüfte, und wurde von der Peitsche angetrieben, bis es dunkel wurde. Da er nicht auf dem Boot schlafen durfte, legte er sich am nassen Flussufer hin. In Tongzhou gelang es ihm zu fliehen, aber die anderen wurden in ein Lager gebracht, und von einigen hat man nie wieder etwas gehört.
Im August, als die chinesischen Soldaten vor den vorrückenden Alliierten flohen, hatten sie das Land auf ihrem Weg heimgesucht, und die verängstigten Bewohner waren vor ihnen geflohen. Dicht hinter ihnen folgten die gefürchteten ausländischen Soldaten, und wochenlang herrschte Terror. [...]
Den folgenden Tag verbrachten wir damit, durch die zerstörten Straßen von Tongzhou zu gehen. Es war keine Frau und kein Kind zu sehen, und auch kaum ein Mann. Leichen trieben auf dem Fluss, überall waren die Auswirkungen von Grausamkeit und Gier zu sehen. Die Russen waren am schlimmsten in ihren Gräueltaten, dann kamen die Franzosen und die Deutschen. Die Stadt war verwüstet. Das hatte ihr das Räuchern, die Anbetung der Götter und ihre Bemühungen, die Fremden auszurotten, eingebracht. Wir standen auch bei den Ruinen unserer eigenen Mission, wo es nichts zu sehen gab als zerbrochene Ziegel und Fliesen. Nicht einmal die Fundamente der Gebäude waren zu erkennen.
[p. 63] The people of Shansi [Shanxi 山西] are naturally timid and gentle, not given to making disturbances, being the most peaceable people in China. So our Shansi Christians were hopeful for themselves, even when the reports from the coast grew more alarming. But there was one thing which caused us deep apprehension, and that was the fact that the wicked, cruel Yü Hsien [Yuxian 毓賢], the hater of foreigners, was the newly appointed Governor of Shansi. He had previously promoted the Boxer movement in Shantung [Shandong 山東] and had persuaded the Empress Dowager that the Boxers had supernatural powers and were true patriots.
[p. 64] Early in June, my college friend K'ung Hsiang Hsi [Kong Xiangxi 孔祥熙] came back from T'ungchou [Tongzhou 通州], reporting that the state of affairs there and at Peking was growing worse, that the local officials were powerless against the Boxers, and that the Boxers, armed with swords, were constantly threatening Christians scattered in the country. From this time, we had no communication with Tientsin [Tianjin 天津] or Peking [Beijing 北京]. All travelers were searched, and if discovered bearing foreign letters, they were killed. [...]
[p. 66] The wicked Governor, Yü Hsien, scattered proclamations broadcast. These stated that the foreign religions overthrew morality and inflamed men to do evil, so now gods and men were stirred up against them, and Heaven’s legions had been sent to exterminate the foreign devils. Moreover there were the Boxers, faithful to their sovereign, loyal to their country, determined to unite in wiping out the foreign religion. He also offered a reward to all who killed foreigners, either titles or office or money. When the highest official in the province took such a stand in favor of the Boxers, what could inferior officials do? People and officials bowed to his will, and all who enlisted as Boxers were in high favor. It was a time of license and anarchy, when not only Christians were killed, but hundreds of others against whom individual Boxers had a grudge.
Crowds of people kept passing our mission gate to see what might be happening, for the city was full of rumors. "The foreigners have all fled." "Many foreigners from other places have gathered here." [...] "The foreigners have hired men to poison wells and to smear gates with blood." [...]
[p. 67] Late in July, a proclamation of the Governor was posted in the city in which occurred the words, "Exterminate foreigners, kill devils." Native Christians must leave the church or pay the penalty with their lives. [...]
[p. 141] […] I saw approaching me a great caravan, covered carts, mule litters, [p. 142] horsemen, footmen. It was the officials and rich men of Peking, who had fled with their families before the foreign soldiers, taking with them what they could of their possessions. Day after day I met them, hundreds of thousands of refugee soldiers and others. The soldiers were looting right and left as they went, sweeping the country like a scourge of locusts, and the frightened inhabitants fled before their coming. Nearly every soldier had stolen a horse, mule, donkey, or camel, loaded with his booty.
[p. 157] Although the Allies were occupying Peking and the surrounding region, the Boxers were still practising, and in the town of Niu Mu T’un, only a few miles away, there was a camp of over a thousand. My brother urged me to take refuge in Peking as speedily as possible, for in our village [p. 158] two dangers menaced me, that of being killed by the Boxers and that of being impressed as a laborer by the foreign soldiers. Later my brother told me in detail how some Sikhs had come to the village one day, and, seizing him and several neighbors, had tied a rope to their queues, then stringing them together like mules, with men leading in front and driving behind, had taken them to the river bank to drag boats. My brother had never done such work before. Wading in mud and water, sometimes up to his waist, with the whip lash to urge him on, he had dragged until nightfall, then, not being allowed to sleep on the boat, had lain down on the wet river bank. At T’ungchou he had succeeded in making his escape, but the others had been taken into the camp, and some had never yet been heard from.
In August, when the Chinese soldiers had fled before the advancing Allies, they had harried the country as they went, and the terrified inhabitants had scattered before them. Close behind came the dreaded foreign soldiers, and for weeks there was a reign of terror. [...]
[p. 171] We spent much of the following day walking through the ruined streets of T’ungchou. There was not a woman or child to be seen, and hardly a man. Corpses floated on the river, everywhere were seen the effects of cruelty and lust. The Russians had been worst in their atrocities, then came the French and the Germans. The city was desolate. To this had her incense-burning, her worship of the gods, her efforts to exterminate the foreigners, brought her. We stood also by the ruins of our own mission, where there was nothing to be seen but broken bricks and tile. Not even the foundations of the buildings could be distinguished.

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