Selbststärkungsbewegung
Nach den Opiumkriegen und dem Taiping-Aufstand begannen einige der nun einflussreich gewordenen chinesischen Provinzbeamten, ihre Truppen mit ausländischen Waffen auszustatten. Von diesen Provinzbeamten und ihren Unterstützern am Kaiserhof in Beijing wurde ab 1861 in China erstmals in vielen Feldern ein Modernisierungsprogramm vorangetrieben – die sogenannte Selbststärkungsbewegung (Ziqiang Yundong 自強運動), auch als „Bewegung für westliche Angelegenheiten“ (Yangwu Yundong 洋務運動) bekannt. Dies war ein Versuch, China durch die Übernahme westlicher Technologien gegen äußere Bedrohungen zu schützen und gleichzeitig die chinesische Kultur zu bewahren. Später wurde dieser Ansatz unter dem Motto „Chinesisches Lernen als Substanz, westliches Lernen für die praktische Anwendung“ (Zhongxue wei ti, xiexue wei yong 中學為體,西學為用) bekannt.• Ein Fokus lag dabei auf der Stärkung des Militärs: In verschiedenen Provinzhauptstädten in ganz China wurden Waffenfabriken angelegt, Gewehre sowie Kanonen nach europäischen Mustern hergestellt und Soldaten nach europäischem Vorbild ausgebildet. Gleichzeitig wurden Kriegsschiffe aus Europa gekauft und Marinewerften in China (am bekanntesten die Jiangnan Schiffswerft in Shanghai, gegründet 1865) aufgebaut. So entstand in China eine Marine, die 1884 bereits mehr als 50 moderne Kriegsschiffe besaß.• Auch am Kaiserhof in Beijing konnten sich Reformer durchsetzen: 1861 wurde in Beijing als Folge des zweiten Opiumkriegs ein „Amt für auswärtige Angelegenheiten“ (Zongli Yamen 總理衙門) eingerichtet, das – ähnlich einem Außenministerium – die Beziehungen mit dem Ausland regeln sollte. Zur Ausbildung der chinesischen Diplomaten wurde 1862 in Beijing außerdem eine Fremdsprachenschule (Tongwenguan 同文館) gegründet.• Auf lokaler Ebene in den Provinzen wurden ebenfalls Fremdsprachenschulen gegründet – beispielsweise in den Handelshäfen Shanghai (1863) und Guangzhou (1864). In Zusammenarbeit mit den Fabriken vor Ort wurden hier mit Hilfe europäischer Lehrer wissenschaftliche Werke zum Beispiel zum Ingenieurwesen aus dem Ausland ins Chinesische übersetzt. Ab den 1870er-Jahren gingen chinesische Studenten dieser Schulen auch zum Studium ins Ausland.
• Parallel zur technischen Modernisierung des Militärs entstanden erste Aktiengesellschaften mit chinesischem Kapital – Bergwerke, Textilfabriken, Telegraphenlinien und Eisenbahnstrecken. Bereits 1873 gründete ein Provinzgouverneur beispielsweise auch eine chinesische Schifffahrtsgesellschaft, die den ausländischen Reedereien in der Binnenschiffahrt auf Chinas Flüssen Konkurrenz machen sollte.Trotz des nicht geringen Einflusses von Provinzbeamten auf den Kaiserhof und der anfänglichen Erfolge der militärischen Modernisierung (bis Anfang der 1880er-Jahre waren die größten chinesischen Schiffswerften fortschrittlicher als ihre Pendants in Japan) wird die Selbststärkungsbewegung rückblickend vor allem als Misserfolg gesehen. Während ältere westliche Erklärungsansätze die scheinbare Unvereinbarkeit der klassischen konfuzianischen chinesischen Kultur mit der Modernisierung betonten, sieht die Forschung mittlerweile eine Vielzahl von Gründen für das Scheitern der Selbststärkungsbewegung: Erstens waren die Bemühungen zur Modernisierung stark dezentralisiert – vorangetrieben wurde das Modernisierungsprogramm von Provinzbeamten, die dadurch ihre eigene Stellung stärken wollten, und nicht von der Zentralregierung in Beijing. Zweitens fehlte durch die Kriege (Kriegsreparationen) und Verträge mit ausländischen Staaten (und damit verbunden der Verlust der Möglichkeit, selbst Zölle zu erheben) auch das Kapital zur stetigen Fortentwicklung der Industrie. Drittens waren die Probleme allerdings auch hausgemacht: Die Verwaltung der Firmen und Werften durch Bürokraten war oft ineffizient und anfällig für Korruption.All diese Faktoren führten in den Kriegen gegen Frankreich (1884-1885) und Japan (1894-1895) zu Niederlagen der chinesischen Truppen: Die Flotten der verschiedenen Provinzgeneräle halfen sich nicht gegenseitig. Die immer noch schlechte Ausbildung der Soldaten tat ihr Übriges. Trotz einiger Erfolge war die Selbststärkungsbewegung spätestens durch die Niederlage gegen Japan 1895 politisch endgültig diskreditiert.In der Bildungselite wurden daher radikalere Stimmen laut, die nicht nur die Übernahme ausländischer Technologie, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft im Ausland forderten. Ganz anders als die Selbststärkungsbewegung mit ihrer Beibehaltung konfuzianischer Prinzipien wurde Anfang des 20. Jahrhunderts dann eine radikal neue Kultur für China gefordert. Das sich seit den 1860er-Jahren ebenfalls modernisierende Japan wurde nun zum neuen Vorbild, von dem es zu lernen und das es zu kopieren galt. Viele gebildete Chines*innen gingen nun zum Studium nach Japan.Die Selbststärkungsbewegung ist dennoch keine Geschichte des Scheiterns: Die Modernisierung der Armee, die Ausbildung von qualifizierten Arbeitskräften in China und im Ausland sowie die Übersetzung westlicher Texte legten alle wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung Chinas. Auch in der Volksrepublik China begann man seit den letzten vier Jahrzehnten wieder positiver auf diesen Abschnitt der chinesischen Vergangenheit zu blicken: Als Vorbild für die Öffnung und Reform der chinesischen Wirtschaft seit den 1980er-Jahren.
Dies ist ein Eintrag aus dem
Modul Zeitleiste. (Jonas Schmid)
• Parallel zur technischen Modernisierung des Militärs entstanden erste Aktiengesellschaften mit chinesischem Kapital – Bergwerke, Textilfabriken, Telegraphenlinien und Eisenbahnstrecken. Bereits 1873 gründete ein Provinzgouverneur beispielsweise auch eine chinesische Schifffahrtsgesellschaft, die den ausländischen Reedereien in der Binnenschiffahrt auf Chinas Flüssen Konkurrenz machen sollte.Trotz des nicht geringen Einflusses von Provinzbeamten auf den Kaiserhof und der anfänglichen Erfolge der militärischen Modernisierung (bis Anfang der 1880er-Jahre waren die größten chinesischen Schiffswerften fortschrittlicher als ihre Pendants in Japan) wird die Selbststärkungsbewegung rückblickend vor allem als Misserfolg gesehen. Während ältere westliche Erklärungsansätze die scheinbare Unvereinbarkeit der klassischen konfuzianischen chinesischen Kultur mit der Modernisierung betonten, sieht die Forschung mittlerweile eine Vielzahl von Gründen für das Scheitern der Selbststärkungsbewegung: Erstens waren die Bemühungen zur Modernisierung stark dezentralisiert – vorangetrieben wurde das Modernisierungsprogramm von Provinzbeamten, die dadurch ihre eigene Stellung stärken wollten, und nicht von der Zentralregierung in Beijing. Zweitens fehlte durch die Kriege (Kriegsreparationen) und Verträge mit ausländischen Staaten (und damit verbunden der Verlust der Möglichkeit, selbst Zölle zu erheben) auch das Kapital zur stetigen Fortentwicklung der Industrie. Drittens waren die Probleme allerdings auch hausgemacht: Die Verwaltung der Firmen und Werften durch Bürokraten war oft ineffizient und anfällig für Korruption.All diese Faktoren führten in den Kriegen gegen Frankreich (1884-1885) und Japan (1894-1895) zu Niederlagen der chinesischen Truppen: Die Flotten der verschiedenen Provinzgeneräle halfen sich nicht gegenseitig. Die immer noch schlechte Ausbildung der Soldaten tat ihr Übriges. Trotz einiger Erfolge war die Selbststärkungsbewegung spätestens durch die Niederlage gegen Japan 1895 politisch endgültig diskreditiert.In der Bildungselite wurden daher radikalere Stimmen laut, die nicht nur die Übernahme ausländischer Technologie, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft im Ausland forderten. Ganz anders als die Selbststärkungsbewegung mit ihrer Beibehaltung konfuzianischer Prinzipien wurde Anfang des 20. Jahrhunderts dann eine radikal neue Kultur für China gefordert. Das sich seit den 1860er-Jahren ebenfalls modernisierende Japan wurde nun zum neuen Vorbild, von dem es zu lernen und das es zu kopieren galt. Viele gebildete Chines*innen gingen nun zum Studium nach Japan.Die Selbststärkungsbewegung ist dennoch keine Geschichte des Scheiterns: Die Modernisierung der Armee, die Ausbildung von qualifizierten Arbeitskräften in China und im Ausland sowie die Übersetzung westlicher Texte legten alle wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung Chinas. Auch in der Volksrepublik China begann man seit den letzten vier Jahrzehnten wieder positiver auf diesen Abschnitt der chinesischen Vergangenheit zu blicken: Als Vorbild für die Öffnung und Reform der chinesischen Wirtschaft seit den 1980er-Jahren.
Dies ist ein Eintrag aus dem
Modul Zeitleiste. (Jonas Schmid)
Weiterführende Informationen:
https://www.cambridge.org/core/journals/modern-asian-studies/article/abs/naval-warfare-and-the-refraction-of-chinas-selfstrengthening-reforms-into-scientific-and-technological-failure-18651895/2DA618E4320055E8EA2488B97A4A2DDD
Synonyme:
Self-Strengthening Movement, Ziqiang Yundong, 自強運動, Bewegung für westliche Angelegenheiten, Yangwu Yundong, 洋務運動)