Jahrhundert der Schande

Das „Jahrhundert der Schande“ (bainian guochi 百年国耻) bezeichnet im Sprachgebrauch der Volksrepublik China die Zeit zwischen 1840 und 1949. Zwischen Großbritanniens Sieg im Opiumkrieg 1842 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der japanischen Besatzung in China 1945 waren die Beziehungen zwischen China und der Welt stark asymmetrisch. Durch Waffengewalt sowie politischen und wirtschaftlichen Druck zwangen ausländische Staaten (darunter viele Staaten Westeuropas, Russland, die USA und später auch Japan) China zu Verträgen, die Chinas Souveränität in Wirtschaft und Politik stark einschränkten. Gleichzeitig errichteten sie in China Kolonien und Einflussgebiete. Auf kultureller Ebene entwickelten beziehungsweise verstärkten sich in dieser Zeit negative und rassistische Vorstellungen über China und die Chines*innen als rückständig oder minderwertig. Der Wunsch, Abhilfe zu schaffen für Chinas schwache Position gegenüber dem Ausland wurde entsprechend ein wichtiger Bestandteil des politischen Programmes verschiedener chinesischer Parteien im 20. Jahrhundert.
Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in der Volksrepublik China war und ist die Überwindung dieses Zustandes auch heute noch eine wesentliche Legitimationsquelle. Das „Jahrhundert der Schande“ bildet aus Sicht der Kommunistischen Partei Chinas den Gegenpol zum Aufstieg Chinas seit Gründung der VR China. Es war aus Sicht der Partei Mao Zedong, der mit der Gründung der Volksrepublik China, die Chinesen zum Aufstehen brachte; und daraufhin Deng Xiaoping, der China durch wirtschaftliche Reformen reich machte. Der aktuelle Staatschef Xi Jinping sieht es nun als seine Aufgabe an, China starkwerden zu lassen und es an seinen „rechtmäßigen“, einflussreichen Platz, den es vor dem 19. Jahrhundert inne hatte, zurückzuführen: die „Renaissance des chinesischen Volkes“.
Man könnte jedoch genauso gut argumentieren, dass das „Jahrhundert der Schande“ bereits 1943 endete (also noch unter der Nationalistischen Partei und Chiang Kai-shek) – als nämlich Großbritannien und die USA die im 19. Jahrhundert China aufgezwungenen sogenannten „ungleichen Verträge“ auflösten. Doch diese Interpretation ist in der Volksrepublik China tabu. Denn die Erinnerung an Chinas Leiden unter dem Kolonialismus dient seit den 1990er-Jahren als Haupttriebmittel eines von der Partei propagierten chinesischen Nationalismus.
Synonyme:
bainian guochi, 百年国耻, 百年國恥, century of humiliation, Jahrhundert der Demütigungen, Jahrhundert der Erniedrigung, Hundert Jahre der Demütigung