Datengesteuertes Regieren – Druck
Thematische Einführung
Der Mythos Sozialkreditsystem auf dem Prüfstand
Ein Punktestand für jede Bürgerin und jeden Bürger, der bewerten soll, ob man sich aus Sicht der Regierung „gut“ oder „schlecht“ verhält, und „der größte Versuch digitaler Sozialkontrolle aller Zeiten“, von dem viele Details noch gar nicht bekannt sind – so beschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Benrath und Bartsch 2018) das chinesische Sozialkreditsystem (shehui xinyong tixi 社会信用体系; Social Credit System, kurz: SCS). In der medialen Berichterstattung werden oft „Was-sein-könnte“-Szenarien gezeichnet, die an die Dystopie von George Orwells Science-Fiction-Klassiker 1984 oder die britische Serie Black Mirror erinnern (genauer, die erste Episode der dritten Staffel mit dem Titel „Nosedive“, in der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben von einem „Score“ abhängt). Ist Black Mirror gar in China bereits Realität geworden, wie das Wirtschaftsmagazin Forbes im August 2021 suggeriert (Anastassopoulos 2021)?
Tatsächlich gibt es nicht das eine Sozialkreditsystem, im Sinne eines in sich geschlossenen Programms, das vom chinesischen Staat zentral gesteuert wird und alle Ebenen durchdringt. Ebenso wenig sei dieses System jemals als algorithmengesteuertes Super-Scoring-System – gemeint ist eine Bewertung auf Basis des Verhaltens in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Bonität, Gesundheits- oder Onlineverhalten – konzipiert gewesen (Brussee 2021). Vielmehr, so beschreibt es die Berliner Sinologin Mareike Ohlberg (2019, 61), hat der chinesische Staat einen institutionellen und regulatorischen Rahmen geschaffen, der von unterschiedlichen Programmen und Projekten gefüllt wird, die von verschiedenen Provinzen, Städten oder Behörden pilothaft und in Eigenregie umgesetzt werden.
Auch „Sozialkredit“ ist genau genommen keine korrekte Übersetzung des chinesischen Begriffs shehui xinyong 社会信用 denn dieser bedeutet wörtlich „soziale Vertrauenswürdigkeit“ (Heberer 2020, 57). Das „Sozialkreditsystem“ meint im Chinesischen folglich „Rahmen für soziale Vertrauenswürdigkeit“.
Ohlberg (2019, 61) beschreibt es wie folgt: „Allein auf zentraler Ebene sind über 40 einzelne Ministerien und Abteilungen involviert, die unterschiedliche Interessen verfolgen und an diversen Mechanismen und Maßnahmen arbeiten. Dies beinhaltet den Auf- und Ausbau von schwarzen Listen für Gesetzesverstöße, separate Bonitätssysteme für einzelne Branchen und Berufsgruppen, finanzielle Bonitätsauskunftsdienste von Drittanbietern, ähnlich der deutschen Schufa [Schutzgemeinschaft für Kreditsicherung], sowie tatsächliche Bürgerbewertungspiloten, die bisher jedoch nur lokal [also nur in wenigen Städten] an einem kleinen Teil der Bevölkerung getestet werden. Neben den Plänen und Piloten der Regierung beteiligen sich außerdem diverse privatwirtschaftliche Unternehmen, deren Rolle in den Plänen der Regierung nicht genau definiert ist.“
Rote und schwarze Listen: Staatliche Maßnahmen zur Disziplinierung der Bevölkerung und ihre Auswirkungen
Was sich tatsächlich hinter „dem Sozialkreditsystem“ verbirgt, ist eine Ansammlung von unterschiedlichen staatlichen und kommerziellen Ansätzen. Zu den Maßnahmen gehören auf staatlicher Seite sogenannte „rote Listen“ und schwarze Listen. Die „roten Listen“ bringen Erleichterungen wie Steuerermäßigungen oder schnellere Abwicklungen bei Behördengängen (z. B. Beantragung von Visa) mit sich (Kostka 2018, 1567; 1584). In der Beijinger U-Bahn können in einem Pilotversuch Passagier*innen, die sich für Gesichtserkennung registrieren, die ansonsten verpflichtende Sicherheitskontrolle der Taschen umgehen und so schneller zu ihren Zügen gelangen (Brown et al. 2021). Demgegenüber stehen schwarze Listen, auf denen diejenigen landen, die einen Gerichtsbescheid oder Zahlungsaufforderungen ignorieren. Wer auf so einer Liste steht, wird zum Beispiel keine Tickets für Flüge oder Hochgeschwindigkeitszüge buchen können. Auch über Unternehmen werden solche Listen geführt, damit sich diese stärker an die gesetzlichen Vorgaben beispielsweise zu Umweltschutz und Lebensmittelsicherheit halten. Denn Umweltverschmutzung und Lebensmittelskandale sind in China immer noch wiederkehrende Probleme (Brussee 2021). Laut einer im Jahr 2021 durchgeführten Studie des Mercator Institute for China Studies (MERICS) haben die staatlichen Sozialkreditsysteme hauptsächlich Unternehmen im Ziel (Drinhausen und Brussee 2021, 8). Landen Unternehmen auf schwarzen Listen, werden ihnen staatliche Kredite verwehrt und sie werden von staatlichen Projekten ausgeschlossen. Außerdem erhalten Unternehmen durch diese Listen Einsicht in die Vertrauenswürdigkeit anderer Unternehmen. Die MERICS-Studie zeigt ebenfalls, dass zwischen 2018 und 2020 relativ wenig Sanktionen verhängt wurden und entsprechend wenig Unternehmen, Behörden und Individuen auf schwarzen Listen standen (Drinhausen und Brussee 2021, 10).
Daneben gibt es Pilotprojekte einzelner Städte, die das Sozialkreditsystem zur „Disziplinierung“ (Heberer 2020, 60 ff.) der Bürger*innen einsetzen. Heberer beschreibt, dass in der südchinesischen Stadt Hangzhou 杭州 an Straßenkreuzungen Gesichtserkennungskameras installiert wurden: Hielten Autofahrer*innen an Zebrastreifen nicht an, resultierte dies in einem Punkteabzug. Auf diese Weise gelang es der Stadt, Autofahrer*innen zum Einhalten der Straßenverkehrsordnung zu bewegen – etwas, was zuvor über Jahre allein mit Geldstrafen nicht gelungen war.
So erklärt sich, dass die Einführung eines Sozialkreditsystems, wie die Berliner Sinologin Genia Kostka (2018) in ihrer überregionalen Studie beobachtet hat, in China selbst überwiegend positiv betrachtet wird. Ein Großteil der Personen, die sie befragte, befürwortete es, wobei sich die meiste Zustimmung bei dem männlichen städtischen Bevölkerungsteil mit hohem Bildungsgrad und Einkommen im Alter von 51 bis 56 Jahren zeigte (Kostka 2018, 1577).
Kommerzielle Bonitätssysteme belohnen vorbildliches Onlinekaufverhalten
Neben den staatlichen Maßnahmen gibt es kommerzielle Bonitätssysteme wie zum Beispiel die App Sesame Credit (Zhima Xinyong 芝麻信用) des Technologiekonzerns Alibaba 阿里巴巴, die ihre Nutzer*innen mit zwischen 350 und 950 Punkten basierend auf einer Reihe von Kriterien bewertet, darunter Onlinekäufe, demografische Angaben, die pünktliche Bezahlung von Rechnungen und Verhalten im sozialen Netzwerk (Ohlberg 2019, 64). Mit einem hohen Punktestand erhalten die Nutzer*innen Vergünstigungen und Vorteile, beispielsweise müssen sie beim Mieten eines Autos oder bei Hotelübernachtungen keine Kaution zahlen. Ähnlich funktioniert auch Tencent Credit (Tengxun Xinyong 腾讯信用) des Internetkonzerns Tencent 腾讯. Einsatz im chinesischen Alltag findet auch die App Honest Shanghai (Chengxin Shanghai 诚信上海), mithilfe derer Chines*innen unter anderem überprüfen können, können, wie ein Restaurant bei den Kontrollen der Shanghaier Stadtregierung abschnitt und es mit der Lebensmittelsicherheit auf sich hält. Die Daten werden von der Lokalregierung in Shanghai in die App eingespeist.
Derzeit dürften wohl wesentlich mehr Menschen in China die kommerziellen Sozialkreditsysteme nutzen als in staatlichen Bonitätssystemen registriert sein, wie die Verteilung der Teilnehmenden in Kostkas (2018, 1588) Studie vermuten lässt (80 % der Befragten nutzen kommerzielle Sozialkreditsysteme, wohingegen lediglich 7 % der Befragten in einem staatlichen erfasst sind). Im Gegensatz zu den staatlichen Maßnahmen ist die Nutzung kommerzieller Sozialkreditsysteme freiwillig.
Ursprünglich inspiriert wurde die Idee des „Sozialkredits“ unter anderem von Auskunftsdiensten wie der deutschen Schufa, der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung, die die Daten zur Kreditwürdigkeit von verschiedenen Akteur*innen des Wirtschaftslebens sammelt und diese dann gebündelt als Auskunft über die Bonität, also die Kreditwürdigkeit, ebendieser Akteur*innen verkauft. Wer in Deutschland einen Handy- oder einen Mietvertrag abschließt, braucht fast immer einen guten „Schufa-Bonitätspunktestand”, denn Vertragspartner*innen gehen davor aus, dass jemand, der oder die in der Vergangenheit seine Rechnungen pünktlich bezahlt hat, dies auch in Zukunft tun wird. In China ist der Grundgedanke ähnlich: „Es herrscht zu wenig Vertrauen auf dem chinesischen Markt, weil über die Kreditwürdigkeit von Marktteilnehmenden kaum etwas bekannt ist“ (Ohlberg 2019, 62). So liegen auch die Anfänge der Sozialkreditsysteme in Pilotprojekten der 2000er-Jahre, die sich auf die Landbevölkerung und Mikrounternehmen fokussierten, also genau die Gruppen, über die kaum Daten vorlagen.
Gemischte Reaktion der chinesischen Gesellschaft auf das datengesteuerte Regieren
Die höhere Zustimmung in der urbanen gebildeten und gutverdienenden Bevölkerung lässt sich laut Kostka (2018, 1584) dadurch erklären, dass diese Bevölkerungsgruppe stärker von den Vorteilen solcher Sozialkreditsysteme profitiere (z. B. Vergünstigungen bei Reisen, Carsharing, schnellere Beantragung von Visa) und tendenziell offener gegenüber technischen Neuerungen sei als die Landbevölkerung. Kostkas Studie legt nahe, dass chinesische Bürger*innen die Sozialkreditsysteme nicht als Instrument der Überwachung wahrnehmen, sondern im Kontext des technologischen Fortschritts. Sie verstehen sie als Mittel zur Verbesserung der Lebensqualität, zur Steigerung des Vertrauens und zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken (so war es bisher aufgrund des unterentwickelten Systems zur Bonitätsbewertung schwierig für chinesische Haushalte gewesen, Zugang zu Krediten zu erhalten), was ihrer Ansicht nach zu einem ehrlicheren und gesetzestreueren Verhalten in der Gesellschaft führe (Kostka 2018, 1585). Die überwiegend zustimmende Haltung unter den Befragten ist selbstredend auch auf die positive Berichterstattung chinesischer Medien zurückzuführen (Kostka 2018, 1586).
Gleichwohl gibt es in der chinesischen Bevölkerung inzwischen auch Widerstand gegen das hohe Maß an Datensammlung (siehe M2.3 und M2.4). Dieser richtet sich vor allem gegen die überbordende Nutzung von Gesichtserkennungstechnologie durch Privatunternehmen. Guo Bing, ein Juraprofessor aus Hangzhou verklagte 2019 einen Zoo dafür, dass dieser gegen seinen Willen Gesichtserkennungsdaten sammelte und von ihm zusätzlich zum Ticket einen Gesichtsscan für den Zooeintritt verlangte – er bekam Recht (M2.3). Das Gericht wies den Zoo an, die Gesichtsdaten von Guo Bing zu löschen, äußerte sich jedoch nicht dazu, ob die Datensammlung rechtens sei oder nicht (Yuan 2021). Auch gegen die Überwachung durch den chinesischen Staat gibt es kritische Stimmen: Eine Performance des Künstlers Deng Yufeng in Beijing 北京 sollte im Oktober 2020 auf die zunehmende Ausbreitung von Überwachungskameras in Chinas Städten aufmerksam machen (M2.4). Mit einer ausgeklügelten Taktik gelang es dem Künstler und seinen Mitstreiter*innen, eine 1,1 Kilometer lange Wegstrecke durch die Innenstadt zurückzulegen, ohne von der Gesichtserkennung erfasst zu werden (Ni und Wang 2020).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Chines*innen die Nutzung von Gesichtserkennung durch Privatunternehmen eher kritisch betrachten, da sie Datenmissbrauch durch diese befürchteten (Brown at al. 2021). Doch sie lehnen Gesichtserkennungstechnologie nicht an und für sich ab: Die Nutzung von Gesichtserkennung durch den Staat wird weitgehend akzeptiert, wenn sie mit der Wahrnehmung einhergeht, die „öffentliche Sicherheit“ zu erhöhen (Brown at al. 2021). Diese Sichtweise ist diametral entgegensetzt zu der Mehrheitsmeinung in Deutschland, wo Datensammlung durch den Staat sehr kritisch gesehen wird, während die Datensammlung durch Privatunternehmen wie Google oder Facebook akzeptiert beziehungsweise nicht hinterfragt wird.
Schaffen Sozialkreditsysteme nun für Chines*innen Sicherheit oder werfen sie eher Fragen nach Rechtssicherheit auf? Was akzeptieren oder gar begrüßen die chinesischen Bürger*innen und wo setzen sie sich – vor Gerichten oder durch Aktionen – zur Wehr? Mithilfe der Materialien in diesem Modul sollen die Schüler*innen zu einer eigenständigen Bewertung kommen.
Literaturempfehlungen
Verwendete Literatur
Ausführliche Informationen folgen in Zukunft. Bei Fragen wenden Sie sich gerne jederzeit an [email protected].
Ausführliche Informationen folgen in Zukunft. Bei Fragen wenden Sie sich gerne jederzeit an [email protected].
Lernziele/Kompetenzen
Anmerkung: Nicht bei jedem in den Materialien abgehandelten Aspekt ist inhaltlich unmittelbar ein Bezug zum Globalen Lernen/Bildung für nachhaltige Entwicklung sichtbar. Wir wollen dies in den Modulen in der Herangehensweise aber wo immer möglich verankern. Die Lernziel-/Kompetenzfestlegung ist daher entsprechend dem Dreiklang Erkennen-Bewerten-Handeln aufgebaut.Ausführliche Informationen folgen in Zukunft. Bei Fragen wenden Sie sich gerne jederzeit an [email protected].
Ausführliche Informationen folgen in Zukunft. Bei Fragen wenden Sie sich gerne jederzeit an [email protected].
Frederike Schneider-Vielsäcker
M1.1: Erklärvideo: Die Volksrepublik China
Der folgende Ausschnitt aus einem Video der Serie „Mit offenen Karten“ des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte gibt einen ersten Überblick über die Volksrepublik China.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m1-1]
Weiterführende Informationen
Aufgabe: Stichwort “China” oder “Chinesen”
Aufgabe: Fragestellung zur Recherche
M3.1: Rechercheleitfaden
Rechercheleitfaden
Nehmen wir an, Sie interessieren sich dafür, wie Chines*innen ihre Zeit (insbesondere Freizeit) verbringen und wollen diese Zahlen mit Deutschland vergleichen. An diesem Beispiel zeigen wir Ihnen im Folgenden, wie Sie im Internet Daten zu China recherchieren können. Eine Internetrecherche ist natürlich nur ein erster Schritt: Wenn Sie sich ausführlicher mit einer Fragestellung beschäftigen und beispielsweise eine Seminararbeit darüber schreiben, sollten Sie auch auf gedruckte Quellen in Bibliotheken zurückgreifen.
Wer ist eigentlich ein Chinese, eine Chinesin? Meinen wir damit die Bevölkerung in der Volksrepublik China? Oder beziehen wir auch Taiwan, Hong Kong und Überseechinesen in Singapur, den USA oder Europa mit ein? In einem ersten Schritt müssen Sie sich daher dafür entscheiden, welchen Umfang Ihre Suche haben soll – das heißt, welche Region Sie untersuchen wollen. In den meisten Fällen – wie auch in unserem Beispiel hier – wird das die Volksrepublik China sein.
Die Suchbegriffe sollten möglichst eindeutig sein. Vermeiden Sie vollständige Sätze, überprüfen Sie die Rechtschreibung und verwenden Sie gleichbedeutende oder ähnliche Wörter.
In unserem Beispiel wären mögliche Suchbegriffe „China Freizeit“ oder „China Freizeitbeschäftigung“.
Suchen Sie ausgehend von Ihren Suchbegriffen in einer Suchmaschine Ihrer Wahl.
Bevor Sie die einzelnen Ergebnisse im Detail anschauen, schauen Sie diese durch und bewerten deren Aktualität (Veröffentlichungsdatum soweit angegeben) und Seriosität (Herkunft der Quelle).
- Als Faustregel gilt: Nur Seiten, bei denen ein*e Autor*in genannt wird, sind vertrauenswürdig. Wenn Sie bei Medien nicht sicher sind, woher diese kommen (Deutschland oder Volksrepublik China) oder wer diese finanziert, schauen Sie ins Impressum oder in unserer Linkliste. In unserem Beispiel erschienen bei der Suche in einer Suchmaschine viele Seiten von Reiseanbietern oder Tourismusportalen wie chinatours, marcopolo, tripadvisor. Dies sind aber keine geeigneten Quellen. Merke: Die ersten Ergebnisse sind nicht immer die besten!
- Artikel von Medien (siehe dazu auch wiederum unserer Linkliste) können ein erster Schritt sein, da sie oftmals auf Studien oder Statistiken verweisen.
- Es ist nicht immer einfach, aktuelle Statistiken zu finden: Dies liegt auch daran, dass statistische Daten zum Jahr 2020 erst 2021 veröffentlicht werden. Es kann daher durchaus sinnvoll sein auch ältere Daten für Jahre wie 2018 oder 2019 einzubeziehen. Artikel die älter als fünf Jahre sind, sollten aber nicht mehr verwendet werden, da die darin enthaltenen statistischen Daten sehr wahrscheinlich nicht mehr aktuell sind.
Da die Internetsuche mit deutschen Suchbegriffen keine ausreichenden Ergebnisse gebracht hat, lohnt es sich auf Englisch zu suchen. In den meisten Fällen findet man so deutlich mehr Daten zu China. Wenn Sie sich nicht sicher sind, wie ein Begriff ins Englische zu übersetzen ist, können Sie Onlinewörterbücher oder Übersetzungstools wie deepl.com benutzen. In unserem Beispiel wäre „China leisure time“ ein sinnvoller Suchbegriff. Übersetzungstools wie DeepL oder Google Translate können auch dabei helfen, Kerninhalte der englischsprachigen Ergebnisse ins Deutsche zu übersetzen.
Auch die Ergebnisse der Suche auf Englisch sollten Sie wieder auf Aktualität und Seriosität bewerten und so sinnvolle Ergebnisse auswählen. Hilfreich zur Beantwortung Ihrer Fragestellung können Artikel in Medien, wissenschaftliche Aufsätze oder statistische Datenbanken sein. Es kann sich auch lohnen, die Bildersuche zu benutzen – so finden Sie oftmals grafisch aufbereitete Daten.
In unserem Beispiel hat die Suche nach „China leisure time“ uns zu folgenden hilfreichen Links geführt:
- Eine Befragung von mehr als 40.000 Chines*innen in Städten und auf dem Land, wie sie ihre Freizeit verbringen von 2018 (online unter: https://www.statista.com/statistics/972775/china-average-daily-time-spent-on-leisure-activities-by-gender/) und https://www.statista.com/statistics/972354/china-average-daily-time-spent-on-daily-activities-by-type/
- Einen Bericht der staatlichen Zeitung China Daily von 2018 über den Rückgang der Freizeit im Vergleich zu 2017 (online unter: http://www.chinadaily.com.cn/a/201807/13/WS5b4882dea310796df4df65d8.html). Bei Artikeln in Medien zu Statistiken kann es sich lohnen weiter nach den Quellen zu suchen. Im China Daily Artikel beispielsweise wird als Grundlage der Daten ein „Green Book of China’s Leisure“ erwähnt. Wenn man danach weitersucht finden sich auch weitere englischsprachige Artikel mit Daten für 2020 (http://www.chinadaily.com.cn/a/202012/09/WS5fd09012a31024ad0ba9adb2.html). Das Beispiel zeigt, wie wichtig aktuelle Daten sind: Während der Artikel von 2018 die durchschnittliche Freizeitdauer in China mit knapp zweieinhalb Stunden angibt, ist im Artikel von 2020 von beinahe fünf Stunden Freizeit die Rede. In den letzten Jahren scheint die durchschnittliche Dauer der Freizeit in China sich verdoppelt zu haben.
- Auf der Seite „Our World in Data“ gibt es außerdem eine Grafik dazu, wie Menschen weltweit ihre Zeit verbringen (https://ourworldindata.org/time-use-living-conditions). Diese bietet sich besonders an, um die Situation in Deutschland mit der in China zu vergleichen.
Statistiken sind immer ein – durch Auswahl der Daten und Methodologie – verzerrtes Abbild der Realität. Bevor Sie die während Ihrer Internetrecherche gefundenen Daten analysieren und Ihre Fragestellung beantworten, sollten Sie daher darüber nachdenken, ob und inwieweit die Daten aussagekräftig sind. Mögliche Fragen, die Ihnen dabei helfen können sind: Wer wurde befragt? Wie aktuell sind die Daten?
China ist sehr divers – so bestehen beispielsweise auch was die Freizeit angeht Unterschiede zwischen Chines*innen, die auf dem Land leben, und jenen, die in Städten leben: Chines*innen in Städten verbringen im Durchschnitt eine halbe Stunde pro Tag mehr mit Freizeitbeschäftigungen als die chinesische Landbevölkerung. (https://www.statista.com/statistics/972354/china-average-daily-time-spent-on-daily-activities-by-type/)
Bei der Arbeit mit chinesischen Daten ist dabei immer wichtig zu überprüfen, wer befragt wurde und wo die Befragten leben. Durch die großen Unterschiede zwischen den städtischen und den ländlichen Regionen Chinas sind nationale Durchschnittswerte sehr problematisch. Wenn Sie Daten aus China mit Daten aus Deutschland oder anderen Ländern vergleichen wollen, sollten Sie außerdem darauf achten, ob Sie mit absoluten oder relativen Zahlen vergleichen. Ein Beispiel: Aufgrund der Größe der chinesischen Bevölkerung, ist es nicht überraschend, dass es in China mehr Fitnessstudios gibt als in Deutschland. Doch wenn Sie ausrechnen, wie viele Fitnessstudios es pro Kopf in China und in Deutschland gibt, kann das Ergebnis ganz anders aussehen. Es ist daher oft sinnvoll relative Zahlen (pro Kopf) zu benutzen.
Die Daten auf „Our World in Data“ beispielsweise wurden zwischen 2009 und 2016 erhoben und gehen durchschnittlich von zweieinhalb Stunden Freizeit in China aus. Dies stimmt mit den in dem Artikel der China Daily von 2018 erwähnten Daten überein. Die im China Daily Artikel von 2020 erwähnte Zunahme der Freizeit bleibt aber unerwähnt.
Analysieren Sie die Daten und beantworten Sie Ihre Fragestellung. Falls Sie keine Daten zu einer abschließenden Beantwortung Ihrer Fragestellung finden, können Sie auch Trends oder Entwicklungen beschreiben.
In unserem Beispiel lassen die auf Deutsch und auf Englisch verfügbaren Daten keine abschließende Antwort zu. Ausgehend von den Daten auf der Plattform „Our World in Data“ und den Berichten chinesischer Medien scheint es, als sei die täglich durchschnittliche für Freizeitbeschäftigung aufgewendete Zeit in China deutlich geringer als in Deutschland. Allerdings verwenden Chines*innen im Durchschnitt mehr Zeit für Schlafen und Essen als der durchschnittliche Deutsche.
Bei den Daten von „Our World in Data“ wird leider nicht genau aufgeschlüsselt, wer befragt wurde und wann die Erhebung durchgeführt wurde. Doch die ungefähre Übereinstimmung mit den auf Statista präsentierten Daten einer Erhebung aus dem Jahr 2018 zeigt, dass diese Zahlen für die Lage um das Jahr 2018 aussagekräftig sind. Die auf Statista präsentierten Daten zeigen außerdem, dass die Bevölkerung im städtischen China mehr Zeit für Freizeitbeschäftigung zur Verfügung hat als auf dem Land. Auch chinesische Männer haben durchschnittlich mehr Freizeit als Frauen.
Fraglich bleibt aber, wie sich die Lage seit 2018 verändert hat. Laut einem Bericht der China Daily habe sich die durchschnittlich für Freizeitbeschäftigungen aufgewendete Zeit im Vergleich zu 2018 verdoppelt. Da das „Green Book of China’s Leisure“, auf dessen Daten sich der China Daily-Artikel stützt, nicht auf Englisch erschienen ist und nicht kostenlos im Internet eingesehen werden kann, bleibt diese Aussage aber nicht überprüfbar und fraglich. Trotzdem scheint dies ein logischer Trend zu sein: Mit steigendem Lebensstandard wird wahrscheinlich auch die Zeit für Freizeitbeschäftigung in China wachsen und der Unterschied zu Deutschland (sofern er denn überhaupt noch besteht) geringer werden.
- https://www.statista.com Statista ist ein deutsches privatwirtschaftliches Nachrichtenportal, das amtliche Statistiken sowie Daten von Markt- und Meinungsforschungsinstituten zugänglich macht. Es eignet sich besonders gut für die Recherche, weil hier Daten bereits aufbereitet und ansprechend dargestellt sind. Die Quellenangaben sind leider nur für zahlende Nutzer zu sehen.
- https://ourworldindata.org Our World in Data ist eine Webseite, die über die historische Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschheit informiert. Sie betrachtet dazu unter anderem demographische, entwicklungsökonomische, geographische und kulturelle Aspekte und bereitet diese ausgehend von Daten visuell auf. Die Seite ist an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Oxford angesiedelt und wird unter anderem von der Bill und Melinda Gates Stiftung finanziert.
- http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2020/indexeh.htm China Statistical Yearbook 2020: Offizielle englische Ausgabe des statistischen Jahrbuchs der Volksrepublik China. Bedienung sehr umständlich. Eine kostenpflichtige Alternative, in der sich einfacher nach Daten suchen lässt, ist die China Statistical Yearbooks Database (CNKI).
- https://comtrade.un.org Datenbank der Abteilung für Statistik der Vereinten Nationen mit den offiziellen Daten zum internationalen Handel weltweit.
- https://www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html Webseite des deutschen statistischen Bundesamtes. Über die Suche nach dem Stichwort „China“ finden sich Nachrichten mit Statistiken zum Handel zwischen Deutschland und China.
- https://ec.europa.eu/eurostat/ Datenbank der Europäischen Union. Über die Suche nach dem Stichwort „China“ finden sich Nachrichten und statistische Daten zum Handel zwischen EU und China sowie weiteren Themen wie Tourismus, Umwelt und Wissenschaft.
- https://eng.stat.gov.tw/mp.asp?mp=5 Englische Webseite des Amtes für Statistik der Republik China (Taiwan).
- https://www.censtatd.gov.hk/home/ Englische Webseite des Amtes für Zensus und Statistik der Sonderverwaltungszone Hong Kong
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m3-1]
Weiterführende Informationen
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Aufgabe: China-Recherche
Einzelmaterial: Größenvergleich Deutschland und Volksrepublik China
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-1]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Die zehn bevölkerungsreichsten Städte der Volksrepublik China (2021)
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-3]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Bevölkerungsentwicklung EU-USA-China
Erklärvideo mit Daten zur Bevölkerungsanzahl und -entwicklung in den USA, der EU und der Volksrepublik China im Vergleich.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-4-2]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsentwicklung in der Volksrepublik China
Debatten über eine Begrenzung des chinesischen Bevölkerungswachstums lassen sich bis in die 1930er-Jahre zurückverfolgen, als chinesische Soziologen und Politiker beeinflusst von europäischen Denkern wie Thomas R. Malthus (1766-1834) Chinas große Bevölkerung erstmals als Hindernis für die zukünftige Entwicklung Chinas hin zu einem „modernen“ Staat sahen. [Scharping 2003: 30] Der erste Zensus in der Volksrepublik China 1953 rief bei Mao Zedong und der Parteiführung Bedenken angesichts der hohen Geburtenraten hervor: Konnten die vielen Kinder überhaupt alle in Schulen unterrichtet und ihre Mütter gesundheitlich versorgt werden? Und: Standen zukünftig überhaupt genügend Arbeitsplätze und Nahrungsmittel (wegen des wenigen für Landwirtschaft nutzbaren Landes) zur Verfügung? Ende der 1950er-Jahre rief Mao daher zu Maßnahmen der Geburtenkontrolle auf, die dann jedoch aufgrund der Massenkampagnen unter anderem des Großen Sprungs und der Kulturrevolution bis zum Beginn der 1970er-Jahre nur teilweise (z.B. größere Verbreitung von Verhütungsmitteln und kostenlose Abtreibungen) umgesetzt wurden. [Whyte/Feng/Cai 2015: 146-149; Scharping 2003: 31-32, 43-49]
Als nach dem Ende der ersten heißen Phase der Kulturrevolution 1969 wieder die wirtschaftliche Entwicklung stärker in den Mittelpunkt der chinesischen Politik rückte, wurden in den chinesischen Provinzen sogenannte „Leitungsgruppen Familienplanung“ (jihua shengyu lingdao xiaozu 计划生育领导小组) gegründet, die Vorgaben zur Beschränkung der Bevölkerungszahl und Geburtenraten festlegten. [Chen/Huang 2020] 1973 wurde zur Senkung der Geburtenrate eine landesweite Kampagne unter dem Slogan „spätere [Geburten], seltenere [Schwangerschaften], weniger [Kinder]“ (wan, xi, shao 晚稀少) ausgerufen: Erlaubt waren zwei Kinder für Paare in den Städten (auf dem Land: drei). Schwangerschaften waren insgesamt erst ab einem Alter von 25 Jahren (auf dem Land: 23) erlaubt und zwischen den zwei Schwangerschaften musste vier Jahre gewartet werden. Die Umsetzung der Vorgaben wurde vor Ort durch Parteimitglieder überwacht, die oftmals detaillierte Aufzeichnungen über den Verbrauch von Verhütungsmitteln und Menstruationszyklen einzelner Individuen erstellten (sowie öffentlich aufhängten) und zu Abtreibungen drängten bzw. zwangen. Außerdem gab es Geldstrafen oder Arbeitsplatzverlust bei überzähligen Schwangerschaften. [Whyte/Feng/Cai 2015: 149- 152; Scharping 2003: 49-52; Greenhalgh 2008: 65-67] Nach dem Tod Mao Zedongs Ende der 1970er-Jahre verschärfte sich innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas die Debatte über die Kontrolle des Bevölkerungswachstums weiter. Verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern versuchten dabei, den Entscheidungsfindungsprozess in Beijing zu beeinflussen. Schlussendlich setzte sich eine Gruppe von ehemaligen Raketenwissenschaftlern durch, die sich, beeinflusst von westlichen Theorien der Bevölkerungsproblematik in Entwicklungsländern, der Bevölkerungswissenschaft zugewandt hatten und eine harte Begrenzung der Geburtenrate auf ein Kind pro Frau forderten. Kritische Stimmen wie die von Liang Zhongtang 梁中堂 (1947-), die vor den demographischen Risiken einer Politik der Geburtenbeschränkung (u.a. Überalterung) gewarnt hatten, unterlagen. [Greenhalgh 2008: 81-307; Scharping 2003: 50-58] Doch trotz der Umsetzung der Ein-Kind-Politik ab 1979 verstummten die kritischen Stimmen nie ganz und auch innerhalb der Partei kam es wiederholt (1986-1989, 1998, seit 2000) zu Diskussionen über den Sinn der Ein-Kind-Politik. [Scharping 2003: 58-73; Scharping 2019: 328-337]
Die Ein-Kind-Politik sollte durch ein System von Sanktionen und Anreizen umgesetzt werden. Zu den Anreizen zählten beispielsweise eine Ein-Kind-Prämie, längerer und bezahlter Schwangerschaftsurlaub und auf dem Land auch zusätzliches Ackerland und eine bessere Altersversorgung. Da jedoch nicht genügend Geld für eine komplette Umsetzung dieser Anreize zur Verfügung stand, wurde vor allem auf Sanktionen wie Geldstrafen oder Gehaltsabzüge zurückgegriffen. [Scharping 2014: 76-77; Scharping 2003: 125-149] Bei unerlaubten Schwangerschaften wurden Frauen durch diese Sanktionen zur Abtreibung gedrängt oder auch zur Sterilisierung (durch eine Operation wird sichergestellt, dass Fortpflanzung nicht weiter möglich ist) gezwungen. [Scharping 2003: 105-125] Zwangsmaßnahmen wie Abtreibungen und Sterilisierungen waren besonders in den 1980er- und 1990er-Jahren weit verbreitet: Der Höhepunkt von Sterilisierungen (Unfrachtbarmachung) lag mit mehr als 20 Millionen im Jahr 1983 zu Beginn der Ein-Kind-Politik. Die Höhe der Sterilisierung nahm seit dem Ende der 1990er-Jahre deutlich ab und lag dann im einstelligen Millionenbereich pro Jahr. [Scharping 2003: 105-125; Whyte/Feng/Cai 2015: 151] Obgleich der Zwangscharakter der Ein-Kind-Politik immer erhalten blieb, kamen nach 1998 weichere Ansätze wie verbesserte Beratungsleistungen und medizinische Betreuung für Frauen hinzu. [Scharping 2014: 74-75] Außerdem sank in urbanen Gegenden die Bereitschaft, mehr als ein Kind zu bekommen, stark. [Mittler 2013: 202-203]
Doch die Ein-Kind-Politik blieb umstritten: Seit der Jahrtausendwende nahmen die Kritik aus der chinesischen Gesellschaft und auch die Diskussionen innerhalb der Partei weiter zu. Die Stimmung unter Expert*innen schlug dabei im Vergleich mit den 1980er-Jahren ins Gegenteil um: Gegner der Ein-Kind-Politik betonten beispielsweise, dass die unter geringem Konsum und in Zukunft mangelnden Arbeitskräften leidende chinesische Wirtschaft durch eine höhere Bevölkerungsanzahl angekurbelt werden könnte und zeigten sich optimistisch, dass die Probleme einer großen Bevölkerung durch politische und technologische Mittel gelöst werden könnten. Ein bekanntes Beispiel ist der in Amerika lebende chinesische Gynäkologe Yi Fuxian 易富贤: Dessen bekanntes Buch chinesisches Buch „Großes Land, leeres Nest“ (daguo kongchao 大国空巢), in dem er die Folgen der Bevölkerungspolitik anprangert, konnte noch 2007 nur in Hong Kong erscheinen, wurde 2013 dann aber von einem staatlichen Verlag in Beijing herausgegeben. [Tatlow 2015] Auch dass weiterhin Frauen zu Abtreibungen gezwungen wurden, löste in der chinesischen Gesellschaft Unmut aus: Beispielhaft ist die erzwungene Abtreibung des sieben Monate alten Kindes von Feng Jianmei 冯建梅, deren Familie nicht die Geldstrafe für ein zweites Kind bezahlen konnte. Im Internet geteilte Bilder von ihr und ihrem toten Kind riefen einen Sturm der Entrüstung in China hervor, bei dem selbst staatliche Medien wie die Global Times ein Ende der Zwangsmaßnahmen forderten. [Global Times 2012] Befürworter der Ein-Kind-Politik hingegen argumentierten nach 2000 verstärkt mit dem Argument, dass hohe Geburtenraten negativen Einfluss auf die Umwelt und Ressourcen Chinas haben. 2015 wurde die Ein-Kind-Politik beendet, pro Ehepaar sind nun zwei Kinder erlaubt. [Scharping 2019: 341-345]
Ein Grund für den Niedergang der Ein-Kind-Politik ist die Erkenntnis, dass China die Armut – in den 1980er-Jahren ein wesentliches Argument für die Ein-Kind-Politik – in weiten Teilen hinter sich gelassen hat. Das Ende der Ein-Kind-Politik ist jedoch auch auf ihre schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen zurückzuführen, die seit den 2000er-Jahren auch von der chinesischen Politik zunehmend als Problem gesehen wurden – allen voran die drohende Überalterung. [Scharping 2019: 328] Die im Video oben erwähnte Schätzung der Vereinten Nationen geht davon aus, dass der Anteil der über 65-jährigen an der chinesischen Gesamtbevölkerung im Jahr 2060 mit mehr als 30% sogar die EU und die USA übertreffen wird. Für die Volksrepublik China ist dies vor allem problematisch, da es bis jetzt kein lückenloses Sozialversicherungssystem gibt. Da auch ein staatliches System der Altenpflege noch in den Kinderschuhen steckt, müssen die Familien selbst einspringen: Ein Einzelkind ist dabei für die Unterstützung von bis zu sechs Personen (zwei Eltern und vier Großeltern) verantwortlich. [Fong 2004: 127-153] Außerdem hat die Ein-Kind-Politik in Kombination mit der seit langem und bis heute vor allem auf dem Land fortbestehenden Vorliebe für Söhne in China dazu geführt, dass das Geschlechterverhältnis zwischen Frauen und Männern extrem ungleich ist: 2019 kamen im Durchschnitt auf 100 Frauengeburten 114 Männergeburten (in Deutschland sind es 105 männliche Kinder auf 100 weibliche Kinder). [Statista 2020a; Statista 2020b] Das heißt, dass es in China zurzeit 30 Millionen mehr Männer als Frauen gibt. Für diese oftmals auf dem Land lebenden Männer ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu heiraten und eine Familie zu gründen – sie werden daher auch als „leere Stöcke“ (guanggun 光棍) bezeichnet. Dieser Überschuss von Männern wird historisch oft mit sozialer Instabilität und Konflikten in Verbindung gebracht – eine Gefahr, der sich auch die KPCh bewusst ist. [Crow 2010] Vorschläge von chinesischen Wissenschaftlern, diesen Männerüberschuss auszugleichen, indem beispielsweise Frauen mehrere Männer heiraten können oder Single-Männer aus ländlichen Regionen gefördert werden Single-Frauen in den Städten zu heiraten, führen im chinesischen Internet immer wieder zu kontorversen Diskussionen. [Feng 2020, Feng 2021]
Der Trend zu Einzelkindfamilien hat aus der Perspektive der Mädchen jedoch auch positive Seiten: Diese stehen nicht mehr in Konkurrenz zu Brüdern, sondern in ihre Bildung und Zukunft wird genau so viel investiert wie in die eines männlichen Nachfahren. [Fong 2004; Jiang 2020; Mittler 2013: 202-203]
Blickt man zurück auf den Effekt und die Folgen der staatlichen Familienplanung, gibt es sowohl in der Volksrepublik China als auch im Ausland mehrere Missverständnisse über die Ein-Kind-Politik.
1) Laut der Kommunistischen Partei Chinas war die Ein-Kind-Politik ein Erfolg, durch den 400 Mio. Geburten verhindert werden konnten. Nur so konnten aus ihrer Sicht das chinesische Wirtschaftswachstum und die erfolgreiche Bekämpfung der Armut erreicht werden. [Xinhua 2006] Außerdem habe die chinesische Geburtenpolitik wesentlich dazu beigetragen, den Klimawandel abzumildern. [Xinhhua 2009] Auch im Ausland wird vor allem die Ein-Kind-Politik verantwortlich für den Rückgang der Geburtenraten in China gemacht. Es war jedoch nicht zuallererst die Ein-Kind-Politik, die zu einem enormen Rückgang der Geburtenrate in der Volksrepublik China geführt hat: Lag die nationale Geburtenrate 1970 noch bei knapp 6, war sie bis zur Einführung der Ein-Kind-Politik 1979 bereits auf 2,7 Kinder pro Frau zurückgegangen. 70% des Rückgangs der Geburtenrate sind also nicht auf die Ein-Kind-Politik, sondern auf deren Vorläuferkampagne zur Geburtenkontrolle in den 1970er-Jahren zurückzuführen. [Whyte/Feng/Cai 2015: 152-153] Auch die offizielle Verlautbarung der chinesischen Regierung, die Ein-Kind-Politik habe 400 Mio. Geburten verhindert, ist nicht haltbar: Denn die Erfahrung aus anderen Ländern hat gezeigt, dass wirtschaftliche Entwicklung und eine Erhöhung des Lebensstandards automatisch zu einem Rückgang der Geburtenrate führen – Chinas Geburtenrate wäre also wahrscheinlich auch ohne Ein-Kind-Politik zurückgegangen. [Whyte/Feng/Cai 2015: 155-159; Scharping 2014: 89] Dies zeigt sich auch daran, dass trotz der seit 2015 eingeführten Zwei-Kind-Politik wenige Chines*innen (von denen die Mehrheit mittlerweile in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt) Interesse daran haben, zwei Kinder zu haben. [Scharping 2019: 336] Dieser Trend war bereits in den 2000er-Jahren im urbanen China anzutreffen. Ein junger Mann aus Shanghai beschrieb 2005 seine Gedanken zur Ein-Kind-Politik wie folgt: „[F]ür mich war das schon immer so. Die Leute respektieren die Politik und niemand braucht sie in Frage zu stellen, weil wir sowieso nicht viele Kinder wollen. Ein Kind ist gut für Paare. Ein Einzelkind ist nicht schwer zu erziehen und macht den Eltern nicht allzu viel Mühe. Ich möchte nicht mehr als eins. Ich kenne auch eine ganze Menge Leute, die gar keine Kinder wollen.“ [Nie/Wyman 2005: 325] Insbesondere die hohen Kosten für die Ausbildung eines Kindes und die Schwierigkeiten für Frauen bei der Rückkehr in ihren Job nach zwei Geburten, machen die Zwei-Kind-Familie in China unattraktiv. [Zhou 2018]
Auch die Bezeichnung „Ein-Kind-Politik“ selbst ist ungenau. Sie stützt sich auf einen bekannten chinesischen Propagandaslogan der 1980er-Jahre „Nur ein [Kind] gebären ist gut“ (zhi sheng yi ge hao 只生一个好). Von politischer Seite wird in der VR China die neutralere Bezeichnung Geburtenplanungspolitik oder Familienplanungspolitik (jihua shengyu zhengce 计划生育政策) verwendet. [Mittler 2013: 199] Der Anspruch des Propagandaslogans, die Geburtenrate auf ein Kind pro Familie zu senken, konnte nicht erreicht werden. Von den 1980er-Jahren bis in die 2000er-Jahre hinein lag die durchschnittliche chinesische Geburtenrate immer bei zirka zwei Kindern pro Frau. [Scharping 2003: 157; Mittler 2013: 199-202] Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass es keine einheitliche Ein-Kind-Politik gab, die landesweit durchgesetzt wurde. Zwischen der Umsetzung der Politik auf dem Land und in den Städten zeigten sich große Unterschiede: In den Städten lag die Geburtenrate niedriger als auf dem Land, wo mehr Geburten mehr der benötigten Arbeitskraft bedeuteten. Viele Provinzregierungen erlaubten daher der Landbevölkerung eine zweite Geburt, manchmal auch dritte Geburt, wenn das erste Kind ein Mädchen war – 2010 lebte in solchen Gebieten mehr als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung. Und auch die nationalen Minderheiten wurden seit der Mitte der 1980er-Jahre der staatlichen Familienplanung unterstellt, ihnen wurden jedoch mehr Kinder als den Han-Chinesen gestattet. [Scharping 2014: 73-75]
Eine Fixierung auf die Ein-Kind-Politik verdeckt ferner, dass auch nach ihrem Ende 2015 die chinesische Regierung keineswegs ihren Anspruch auf eine staatlich gelenkte Familienplanung aufgegeben hat: Auch in Zukunft wird die Zentralregierung und Parteiführung in Beijing Vorgaben der Familienplanung machen, die von den lokalen Parteikadern verpflichtend umzusetzen sind. [Alpermann/Zhan 2018: 15]
(Jonas Schmid 24.02.2021)
Verwendete Literatur
Argumentiert, dass die chinesische Zentralregierung bzw. Parteizentrale auch nach dem Ende der Ein-Kind-Politik 2015 weiterhin versucht, durch Vorgaben aus Beijing die Entwicklung der Bevölkerung zu lenken, nun vor allem aber die Qualität der Bevölkerung erhöhen will.
Untersucht wie stark die nach 1969 gegründeten sogenannten „Leitungsgruppen Familienplanung“ (jihua shengyu lingdao xiaozu 计划生育领导小组) mit ihren Vorgaben zur Beschränkung der Geburtenraten vor der Einführung der Ein-Kind-Politik beitrugen.
In diesem wissenschaftlichen Artikel argumentiert die Autorin, dass das Phänomen der „leeren Stöcke“ (Junggesellen) in China historisch gesehen ein großes Potential für Aufstände bot.
Jörg Endriss (Nachrichtenredakteur beim NDR) und Sonja Maaß (Sinologin, die für den Spiegel arbeitet) präsentieren mit ihrem Buch „CHINAKINDER – Moderne Rebellen in einer alten Welt“ ein buntes Panorama von Jugendkultur auf dem Festland, in Taiwan und Hongkong. Über Zufallsbegegnungen wie auch durch Recherche wählten die beiden Autor*innen ein breites Spektrum an 30 Interviewpartner aus und zeigen mit den Portraits, wie groß der Spielraum für sehr individuelle Lebenswege im chinesischen Kulturraum ist, obwohl das politische System auf dem Festland und die kulturelle Spezifika weiterhin den Rahmen vorgeben. Um sich selbst zu schützen, bestehen einige der Interviewten auf Anonymität, während andere trotz Namensnennung sehr deutlich auf politische und gesellschaftliche Missstände hinweisen. Zu Wort kommen z.B. der Gründer einer Online-Gedichtplattform, zwei Homosexuelle aus Shanghai, die Gründerin einer Ökofarm und eine alleinerziehende Mutter. Ein Vor- und ein Nachwort, individuelle Einleitungen vor jedem Portrait sowie ein Glossar helfen dem Leser, sich in die diskutierten Themen einzufinden. Kapitel zum Reinlesen: https://www.conbook-verlag.de/buecher/chinakinder/
Bericht der US-amerikanischen Webseite SupChina über die Idee eines chinesischen Wissenschaftlers, um das Problem des Junggesellenüberschuss in der Volksrepublik China zu lösen: Frauen aus den Städten sollen Junggesellen aus den ländlichen Regionen heiraten. Der Bericht geht auch auf die lautstarke Kritik im chinesischen Internet (insbesondere von Frauen) ein.
Bericht der US-amerikanischen Webseite SupChina über die Idee eines Wirtschaftswissenschaftlers aus Malaysia, um das Problem des Junggesellenüberschuss in der Volksrepublik China zu lösen: Frauen sollen legal mehrere Männer heiraten können. Der Bericht geht auch auf die lautstarke Kritik im chinesischen Internet ein.
Anthropologische Untersuchung, welche Folgen die Ein-Kind-Politik auf chinesische Heranwachsende hat. Die Autorin hat während ihrer Arbeit als Englischlehrerin in der nordostchinesischen Stadt Dalian zwischen 1999 und 2002 mehrere chinesische Schulkinder in Unterricht und Alltag begleitet und befragt. In ihren Erzählungen und Analysen wird allen voran der Leistungsdruck und die Erwartungen der Familie deutlich, da die Jugendlichen als Einzelkinder für ihre Eltern und bis zu vier Großeltern Sorge tragen müssen.
Artikel der Global Times, einer staatlichen chinesischen Tageszeitung unter der direkten Kontrolle der Kommunistischen Partei, die in Folge des Skandals um die erzwungene Abtreibung des Kindes von Feng Jianmei 2012 zu einem Ende von erzwungenen Abtreibungen in späten Stadien der Schwangerschaft forderte.
Diese Studie legt den Fokus vor allem auf den Entstehungsprozess der Ein-Kind-Politik in den Jahren 1979-1980 und zeigt, wie verschiedene Gruppen chinesischer Wissenschaftler versuchten bei der Parteiführung in Beijing ihre Sichtweise umzusetzen.
Dieser wissenschaftliche Aufsatz argumentiert, dass der Rückgang der Geburtenraten (der hier allein auf die Ein-Kind-Politik zurückgeführt wird) zu einer Besserstellung von Frauen im Bereich der Bildung führte: Dadurch dass sie keine oder wenige Geschwister hatten, konnten deutlich mehr der zwischen 1960 und 1980 geborenen Frauen an den Schulen ausgebildet werden. Der Aufsatz geht allerdings nicht auf weitere mögliche Faktoren, die zu diesem Ergebnis geführt haben könnten, ein.
Diese knappe Studie setzt die verkürzte Darstellung der negativen Folgen der Ein-Kind-Politik in einen breiteren Kontext. Einige weit verbreitete Vorstellungen über die Ein-Kind-Politik werden dabei widerlegt.
Roman des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, in dem auch Abtreibungen während der Ein-Kind-Politik eine Rolle spielen.
Untersucht die Einstellungen in der Volksrepublik China zu Abtreibungen und argumentiert, dass - obwohl Abtreibungen in China gang und gäbe waren und sind - es auch Sichtweisen gibt, die Abtreibung als ethisch problematisch zu sehen. Kapitel 5 und 6 schildern die Erlebnisse von chinesischen Frauen und Ärzten bei der Durchführung von Abtreibungen und zeigen, welche tiefen emotionalen Wunden die Ein-Kind-Politik auf individueller Ebene hinterlassen hat.
Wissenschaftlicher Aufsatz, der ausgehend von Interviews mit Chines*innen in Shanghai die unterschiedlichen Einstellungen zur Ein-Kind-Politik in den 1980er- und den 2000er-Jahren aufzeigt.
Umfangreichstes Werk zur Thematik der Bevölkerungspolitik in China von 1949 bis 2009. Fokus ist auch hier die Ein-Kind-Politik seit den 1980er-Jahren, die jedoch in den größeren Kontext der chinesischen Bevölkerungspolitik eingebettet wird.
Guter Überblick zur Bevölkerungspolitik (insbesondere Ein-Kind-Politik) in der Volksrepublik China von einem Experten zu diesem Thema.
Gibt einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Kritiken an der Ein-Kind-Politik seit deren Einführung und erklärt, wie es zur Abschaffung der Ein-Kind-Politik 2015 kam.
Aktuelle Daten zum Geschlechterungleichgewicht (Männerüberschuss) in China in verschiedenen Altersstufen. Statista ist ein deutsches privatwirtschaftliches Nachrichtenportal, das amtliche Statistiken sowie Daten von Markt- und Meinungsforschungsinstituten zugänglich macht. Statista bereitet Daten aus verschiedenen Quellen auf, erhebt allerdings nicht selber Daten.
Die Statistik zeigt die Anzahl der Geburten in Deutschland nach Geschlecht in den Jahren von 1991 bis 2019. Statista ist ein deutsches privatwirtschaftliches Nachrichtenportal, das amtliche Statistiken sowie Daten von Markt- und Meinungsforschungsinstituten zugänglich macht. Statista bereitet Daten aus verschiedenen Quellen auf, erhebt allerdings nicht selber Daten.
Zeitungsbericht über das Schicksal des chinesischen Buches "Großes Land, leeres Nest" verfasst von Yi Fuxian, einem der lautesten Kritiker der Ein-Kind-Politik.
Kommentierte Literaturliste zur Bevölkerungspolitik in China.
Ein kritischer Blick auf geläufige Interpretationen der Ein-Kind-Politik wie beispielsweise, dass es die Ein-Kind-Politik war, welche zum starken Rückgang der Geburtenraten führte. Tatsächlich ging die Geburtenrate bereits während den 1970er-Jahren durch eine Kampagne der Geburtenkontrolle enorm zurück.
Offizielle Sicht der Volksrepublik China auf die "Erfolge" der Ein-Kind-Politik. Xinhua ("Neues China") ist die Nachrichtenagentur der VR China, die direkt von der chinesischen Regierung und der Kommunistischen Partei kontrolliert wird.
Pressemeldung der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua ("Neues China"), dass die Ein-Kind-Politik zum Kampf gegen den Klimawandel beigetragen habe.
Von Netflix produzierte Dokumentation zur Ein-Kind-Politik in China, welche vor allem die Folgen der Ein-Kind-Politik in den Blick nimmt. Einige geläufige Interpretationen wie beispielsweise, dass es die Ein-Kind-Politik war, welche zum starken Rückgang der Geburtenraten führte, werden genannt. Tatsächlich ging die Geburtenrate bereits während den 1970er-Jahren durch eine Kampagne der Geburtenkontrolle enorm zurück.
Analysiert basierend auf hundert Interviews mit jungen Chines*innen die Gründe, warum die meisten jungen Chines*innen kein zweites Kind haben wollen. Genannt werden vor allem der Mangel an Zeit und Geld und aus Sicht der Frauen vor allem Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-4]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Hochgeschwindigkeits-Schienennetz
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-5]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Infrastrukturinvestitionen in der Volksrepublik China
Ende September 2019: In Beijing eröffnet nach vier Jahren Bauzeit der – nach Gebäudefläche – größte Flughafen der Welt. In deutschen Medien wird die pünktliche Flughafeneröffnung in Beijing positiv dem jahrelangen Hin und Her um den neuen Hauptstadtflughafen in Berlin (BER) gegenübergestellt. Dieses Beispiel steht symptomatisch für den neidischen Blick vieler in Deutschland auf die Effizienz und Schnelligkeit von Infrastrukturbauten in der Volksrepublik China. Differenzierte Einschätzungen der chinesischen Infrastrukturinvestitionen und deren Wirksamkeit kommen dabei oft zu kurz: So lagen die Baukosten des Flughafens in Beijing mit umgerechnet 57 Milliarden Euro beispielsweise deutlich höher als die des BER mit 7 Milliarden Euro – und das, obwohl die Fläche des Beijinger Flughafens nur dreimal so groß ist wie der BER (Deutsche Welle 2019). Solche Vergleiche sind jedoch immer auch problematisch, da sie Aspekte wie Personalkosten, Ausstattung oder unterschiedliche rechtliche Vorgaben nicht berücksichtigen.
Ausbau der Infrastrukturinvestitionen seit den 1980er-Jahren
Die Investitionen in die chinesische Infrastruktur sind seit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik in den 1980er-Jahren enorm angestiegen. Bedeutsam waren auch die asiatische Finanzkrise 1998 und die Weltfinanzkrise 2008, nach denen die chinesische Regierung stark in Infrastruktur investierte, um die chinesische Wirtschaft anzukurbeln. So wurde beispielsweise das chinesische Autobahnnetz seit 1997 (weniger als 5.000 Kilometer Länge) enorm ausgebaut (2014: 112.000 Kilometer). Auch die Häfen entlang der chinesischen Küste nahmen zu und wurden größer: Während zu Beginn der 2000er-Jahre noch die Hälfte der chinesischen Exporte über Hong Kong abgewickelt wurde, sind neben Hong Kong nun heute auch fünf weitere chinesische Häfen unter den zehn weltweit größten Häfen nach Containerumschlag zu finden. Ähnlich rasante Entwicklungen sind auch – nicht nur in absoluten, sondern auch in relativen Zahlen – in Bereichen wie Stromerzeugung (in den 2000er-Jahren gingen in China jährlich so viele Stromkraftwerke neu ans Netz wie die Gesamtanzahl aller Stromwerke in Großbritannien) und Telefon- und Internetnetzwerke vorzufinden (Kroeber 2016: 83-84).
Hochgeschwindigkeitsschiennetz
Auch die regionalen und überregionalen Transportnetzwerke in der Volksrepublik China sind enorm gewachsen: So sind die zwei weltgrößten U-Bahnnetze in Shanghai und Beijing zu finden und in nur zehn Jahren wurden seit 2008 in China doppelt so viel Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut wie im Rest der Welt zusammengenommen existieren (Lawrence/Bullock/Liu 2019: 7-19). Bis 2035 soll die Länge der chinesischen Hochgeschwindigkeitsstrecken außerdem von den bestehenden 35.000 Kilometern nochmals mehr als verdoppelt werden, sodass alle chinesischen Städte mit mehr als 500.000 Einwohner*innen an das Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen sind (Reuters 2020).
Zwischen 2005 und 2015 wurden 2,5 Trillionen Renminbi 人民币 (umgerechnet mehr als 320 Milliarden Euro) in den Ausbau des chinesischen Hochgeschwindigkeitsnetzes investiert. Diese Kosten wurden nicht nur von der Zentralregierung, sondern auch von den Lokalregierungen getragen (Lawrence/Bullock/Liu 2019: 65).
Durch die Standardisierung und Massenproduktion wichtiger Bestandteile der Hochgeschwindigkeitsstrecken liegen die Baukosten (durchschnittlich zirka 20 Mio. pro Kilometer) ungefähr 30 Prozent niedriger als für Hochgeschwindigkeitsstrecken in Europa. Es sind also nicht vor allem die billigeren Personalkosten in China, sondern die effizientere Planung und Baufortschritt, der die Kosten im Vergleich zu Europa senkt. Finanzielle Anreize sorgen außerdem dafür, dass die Hochgeschwindigkeitsstrecken im Vergleich wesentlich pünktlicher fertiggestellt werden (Lawrence/Bullock/Liu 2019: 39-49). Die chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge haben durchschnittlich eine hohe Pünktlichkeit von 95 Prozent, was auch darauf zurückzuführen ist, dass sie meistens (anders als beispielsweise die ICEs in Deutschland, aber ähnlich wie in Japan) auf einem eigenen Schienennetz ohne langsamere Züge fahren. Ein Nachteil ist, dass die Bahnhöfe daher zumeist außerhalb der Stadtzentren liegen. Da die Bahnhöfe jedoch durch den öffentlichen Nahverkehr gut an die Stadtzentren angebunden sind, sind die Hochgeschwindigkeitszüge in China – insbesondere für Entfernungen zwischen drei und vier Stunden Reisezeit (150-800 km) – durchaus beliebt (Lawrence/Bullock/Liu 2019: 81-83; Yang u.a. 2018: 237).
Die enormen Investitionen in das Hochgeschwindigkeits-Schienennetz und andere Infrastrukturbereiche haben verschiedene Gründe. Zum einen hat die Zentralregierung erkannt, dass eine verbesserte Infrastruktur zum chinesischen Wirtschaftswachstum beitragen kann. Gleichzeitig haben die niedrigen Zinsen für Darlehen und große Einnahmen der Lokalregierungen durch Landverkäufe auch dazu geführt, dass die Errichtung von Infrastruktur auf der Lokalebene vergleichsweise billig finanziert werden konnte. Hinzukommt, dass chinesische Beamte entsprechend ihrer Leistung befördert werden. Beamte in einer chinesischen Stadtverwaltung bzw. Lokalregierung haben daher ein Interesse, durch Infrastrukturbauten den Status ihrer Stadt, das örtliche Wirtschaftswachstum und somit ihre Chancen auf Beförderung zu erhöhen. Dies führt auch dazu, dass in manche Infrastrukturprojekte investiert wurde, ohne zuerst eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen (Kroeber 2016: 84; Ma 2022). Lokale Beamte setzten sich auch immer wieder bei der Zentralregierung dafür ein, dass ihre Städte an das Hochgeschwindigkeitsschienennetz angeschlossen werden – einer der Gründe dafür, dass der ursprüngliche Plan der Zentralregierung von 2004, 12.000 Kilometer Hochgeschwindgkeitsschienenstrecken zu bauen, innerhalb von zehn Jahren bereits weit übertroffen wurde (Ma 2022).
Kosten und Nutzen des Hochgeschwindigkeitsschienennetzes
In Wissenschaft und Gesellschaft ist beispielsweise umstritten, wie effektiv und wirtschaftsfördernd die chinesischen Infrastrukturprojekte tatsächlich sind. In einer Studie von 2016 argumentierten Wirtschaftswissenschaftler*innen der Universität Oxford, dass Effektivität und Wirtschaftsförderung chinesischer Infrastrukturprojekte nicht durchweg zutreffend seien (Ansar u.a. 2016). Mehr als die Hälfte der Infrastrukturinvestitionen in China seit 1986 habe mehr gekostet als Nutzen gebracht. Außerdem seien auch chinesische Infrastrukturprojekte nicht immer kosteneffizienter als die im Rest der Welt. Knapp ein Drittel der von den Wissenschaftler*innen untersuchten Projekte wurden teurer als geplant.
Ein großes Problem bei Infrastrukturinvestitionen ins chinesische Transportwesen ist auch, dass oftmals weniger Nutzer als erwartet auftreten. Auf die chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge bezogen tritt dies vor allem in Gegenden auf, in denen die Bevölkerung zu gering oder der Lebensstandard zu niedrig ist, um die Hochgeschwindigkeitszüge wirtschaftlich rentabel werden zu lassen. So deckt im Durchschnitt nur eine von sechs chinesischen Hochgeschwindigkeitslinien ihre Kosten – und wird also nicht indirekt vom Staat subventioniert. Diese profitablen Hochgeschwindigkeitsstrecken liegen vor allem entlang der dicht besiedelten und wirtschaftlich starken Ostküste Chinas (Yang u.a. 2018). Die Einkünfte der Hochgeschwindigkeitsstrecke hingegen, die nach Xinjiang ganz im Westen Chinas führt, sind so gering, dass damit noch nicht einmal die Elektrizitätskosten für den Betrieb der Züge gedeckt werden können (Wen 2019; Zhao 2019b). Die geplante Ausweitung des Hochgeschwindigkeitsschienennetzes bis 2035 wird dieses Problem noch weiter verschärfen, weil hauptsächlich Strecken in Gebiete mit niedrigen Bevölkerungszahlen gebaut werden.
Hinzukommt, dass ein Großteil der Strecken und des Betriebs durch Schuldenaufnahme finanziert sind. Die staatliche chinesische Eisenbahngesellschaft hat Schulden in Höhe von mehr als 5 Trillionen Renminbi (umgerechnet mehr als 640 Milliarden Euro) – eine Schuldensumme höher als das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz (Wen 2019; Fickling 2020). Die Sorgen über die Gefahr, welche die großen Schulden des staatlichen Eisenbahnbetreibers für die Wirtschaft der Volksrepublik China darstellen, werden auch teilweise in der Volksrepublik China geteilt, wo der Wissenschaftler Zhao Jian (赵坚, geb. 1960) wiederholt vor den Schulden und einem weiteren Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes ohne Kosten-Nutzen-Analysen gewarnt hat (Zhao 2019a; Zhao 2019b). Es gibt jedoch auch andere Stimmen, die die Wirkung des Hochgeschwindigkeitsnetzes für die chinesische Wirtschaft positiver einschätzen: So rechnet der amerikanische Thinktank Macro Polo, dass Vorteile des chinesischen Hochgeschwindigkeitsnetzes wie Zeitersparnis im Vergleich zu anderen Möglichkeiten des Transports, geringere Betriebskosten, geringere Kosten im Vergleich zum Flugzeug sowie Verkehrsvorteile addiert zu den Kosten bis 2050 einen Nettonutzen von umgerechnet mehr als 300 Milliarden Euro bringen werden (Macro Polo 2021).
Warum wird das chinesische Hochgeschwindigkeitsnetzes trotz der oben dargestellten Probleme weiter ausgebaut werden? Neben den wirtschaftlichen Vorteilen, die eine verbesserte Infrastruktur mit sich bringt (Macro Polo 2021), spielt auch der Umweltschutz eine Rolle. Denn Hochgeschwindigkeitszüge sind im Vergleich zu Flugzeugen deutlich klimafreundlicher (Fickling 2020). Auch aus politischen Gründen werden wirtschaftlich unrentable Strecken gebaut – beispielsweise um Randgebiete ethnischer Minderheiten wie Xinjiang 新疆 oder Tibet (Xizang 西藏) enger anzubinden. So soll bis 2030 Lhasa, die Hauptstadt Tibets, durch eine zweite Bahnstrecke in die Provinz Sichuan an das landesweite Schienennetz angeschlossen werden. Allein ein erster 2021 eröffneter 435 Kilometer langer Abschnitt hat über fünf Milliarden Euro gekostet (The Economist 2021). Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt sind daneben auch technologiepolitische Überlegungen.
Technologiepolitik und Legitimität
Die Technologien der ersten chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge beruhten auf Zugmodellen aus Deutschland (Siemens) und Japan. Doch bereits ganz zu Beginn des Ausbaus des Hochgeschwindigkeitsnetzes 2008 entschied die chinesische Regierung, dass die Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen langfristig in China selbst stattfinden sollte. So wurde ein Programm aufgesetzt, bei dem chinesische Firmen und Universitäten selbst einen chinesischen Hochgeschwindigkeitszug herstellen sollten (Lawrence/Bullock/Liu 2019: 10). 2016 wurden erstmals Züge der Baureihe Fuxing 复兴 in den Dienst genommen, die nicht mehr von deutsch-chinesischen oder japanisch-chinesischen Joint Ventures, sondern eigenständig in China entwickelt und produziert wurden. Diese Züge sind nicht einfach Kopien des deutschen ICEs oder des japanischen Shinkansen, sondern übertreffen diese in manchen Bereichen. Der chinesische Hersteller versucht diese nun – im Rahmen der Neuen-Seidenstraßen-Initiative – ins Ausland zu exportieren (Lee 2019; Domke Seidel 2023). Denn China investiert nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland in den Ausbau des Schienennetzes (China Power Team 2020).
Nicht zuletzt sind die Hochgeschwindigkeitszüge und das Hochgeschwindigkeits-Schienennetz auch Symbol des wirtschaftlichen und technologischen Aufstiegs der Volksrepublik China, der die Legitimität der Kommunistischen Partei und den Stolz auf das eigene Land speist. Das Hochgeschwindigkeitsnetz spielt daher auch eine prominente Rolle in der vom staatlichen Fernsehsender CCTV (China Central Television, Zhongguo zhongyang dianshitai 中国中央电视台) produzierten Dokumentation „Amazing China“ (Tie 2018). Aus Sicht der KPCh ist die Eisenbahn auch aus historischer Perspektive ein gutes Beispiel: Anfang des 20. Jahrhunderts waren es vor allem ausländische Firmen im Auftrag der Kolonialmächte, die in China Eisenbahnen errichteten. Die Eisenbahn war also Symbol der kolonialen Unterdrückung, unter der China – so das offizielle Geschichtsbild (siehe dazu auch unseren Hintergrundtext zu Geschichte und Nationalismus in der Volksrepublik China)– vor der Gründung der Kommunistischen Partei zu leiden hatte (Köll 2019, 19-52; Li 2016). Dass Chinas Hochgeschwindigkeitsschiennetz heutzutage weltweit unangefochten ist und dass China selbst eigene Züge entwickelt ist daher ein sehr passendes Symbol für den Aufstieg Chinas und die Rolle, welche die KPCh sich dabei selbst zuschreibt.
Jonas Schmid, 22.02.2021, überarbeitet am 02.08.2022
Verwendete Literatur
In dieser Studie untersuchten Wirtschaftswissenschaftler*innen der Universität Oxford 2016, ob chinesische Infrastrukturinvestitionen effektiv und wirtschaftsfördernd sind. Laut ihren Forschungen habe mehr als die Hälfte der Infrastrukturinvestitionen in China seit 1986 mehr gekostet als wirtschaftlichen Nutzen gebracht. Knapp ein Drittel der von den Wissenschaftler*innen untersuchten chinesischen Infrastrukturprojekte wurden teurer als geplant.
Der Artikel gibt einen Überblick über Investitionen in Zugstrecken im Ausland durch die Volksrepublik China. China Power ist eine Webseite des amerikanischen Thinktanks Center for Strategic and International Studies, einem parteiunabhängigen und gemeinnützigen US-amerikanischen Thinktank mit einem Fokus auf die amerikanische Außenpolitik.
Kurzer Bericht über die Eröffnung des neuen Flughafens in Beijing 2019 und den Vergleich mit dem Hauptstadtflughafen in Berlin.
Kommentar eines Journalisten des US-amerikanischen Medienunternehmens Bloomberg, der argumentiert, dass ein weitere Ausbau des chinesischen Hochgeschwindigkeitsnetzes nicht sinnvoll sei.
Diese wissenschaftliche Monografie einer Professorin für chinesische Wirtschaftsgeschichte untersucht die Geschichte der Eisenbahnen in China vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1980er-Jahre und wie diese Chinas wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung beeinflusste und von dieser beeinflusst wurde.
Kroebers Buch gibt einen gundlegenden Überblick über die chinesische Wirtschaft und richtet sich auch an interessierte Laien. Behandelte Themen sind die ländliche Wirtschaft, Industrie und Exportwirtschaft, Konsumwirtschaft, Urbanisierung und Infrastruktur, Unternehmen, das Banken- und Finanzsystem, die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Lokalregierungen, Energie und Umwelt, den Arbeitsmarkt und demographische Faktoren sowie Ungleichheit und Korruption. Arthur Kroeber ist ein renommierter Experte im Bereich der chinesischen Wirtschaft – lange Jahre war er Wirtschaftsjournalist in China und ist derzeit Herausgeber einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift zur chinesischen Wirtschaft.
Diese von der Weltbank herausgegebene, kostenlos zugängliche Studie von 2018 gibt einen Überblick über Errichtung, Kosten und Nutzen der chinesischen Hochgeschwindigkeitszugstrecken. Die Studie hebt vor allem die positiven Seiten hervor (z.B. Effizienz und im internationalen Vergleich geringe Kosten bei der Errichtung) und sieht das chinesische Modell des Ausbaus von Hochgeschwindigskeitsstrecken als Vorbild auch für andere Entwicklungsländer. 2018 erschienen ist dies jedoch weiterhin die umfassendste Studie mit den meisten Daten zu Chinas Hochgeschwindigkeitszugnetz.
Zeitungsartikel des China-Korrespondenten Felix Lee zur Entwicklung der Hochgeschwindigkeitszüge in der Volksrepublik China, der auch knapp auf die Rolle deutscher Technologie und den Technologietransfer eingeht.
Graphic Novel eines chinesischen Künstlers zur Geschichte der unter französischer Kolonialherrschaft gebauten Eisenbahn in der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas.
Macro Polo ist ein US-amerikanischer Thinktank, der zu Chinas Wirtschaft, Technologie und Politik forscht (weitere Informationen finden Sie in unserer Linkliste). In dieser interaktiv aufbereitenden Studie argumentieren die Autor*innen, dass der Ausbau der Hochgeschwindigkeitszugstrecken in China der chinesischen Wirtschaft unterm Strich mehr Nutzen als Kosten bringt.
Englische Agenturmeldung zur Ankündigung der chinesischen Regierung die chinesischen Eisenbahnstrecken, darunter auch die Hochgeschwindigkeitsstrecken, bis 2035 weiter enorm auszubauen.
Vom staatlichen chinesischen Fernsehen produzierte Dokumentation, die den wirtschaftlich und technologischen Fortschritt Chinas sehr positiv als Leistung der Kommunistischen Partei Chinas darstellt. Trailer unter: https://www.youtube.com/watch?v=PungN5s0Zgs
Forschungsbasierter Blogartikel, der sich kritisch mit in Europa gängigen Ideen über Chinas Bruttoinlandsprodukt auseinandersetzt und auch auf die Probleme der chinesischen Wirtschaft eingeht. Weitere Informationen zum Forschungsblog Echo Wall sind in unserer Linkliste zu finden.
Wissenschaftlicher Aufsatz, der Chinas Hochgeschwindigkeitszugnetz und Flugverkehr miteinander vergleicht. Ausgehend von Daten aus dem Jahr 2013 zeigen die Autor*innen, dass die Hochgeschwindigkeitslinien vor allem im dichtbesiedelten und wirtschaftlich starken Osten Chinas beliebt sind.
Im chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin erschienener Artikel des chinesischen Wissenschaftlers Zhao Jian, Direktor des Zentrums für Urbanisierungsforschung an der Beijinger Universität für Transport. Zhao sieht den weiteren Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken durch Schulden als wirtschaftlich unrentabel und daher kritisch.
Chinesischer Artikel des Wissenschaftlers Zhao Jian, Direktor des Zentrums für Urbanisierungsforschung an der Beijinger Universität für Transport. Zhao sieht den weiteren Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken durch Schulden als wirtschaftlich unrentabel und daher kritisch.
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-5-2]
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Einzelmaterial: Anteil der Studierenden unter 18-22 Jährigen in Deutschland und der Volksrepublik China
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Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Das Schulsystem in der Volksrepublik China
Einordnung: Historische Entwicklung im 20. Jahrhundert
Im spätkaiserzeitlichen China (16. bis 19. Jahrhundert) wurde die Ausbildung von Kindern auf lokaler Ebene und nicht vom Staat organisiert. Privatlehrer brachten Jungen zuhause oder in privaten (von Familien oder Gemeinden finanzierten) Schulen grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten bei und unterrichteten die klassischen Werke, um sie auf die Teilnahme an den Beamtenprüfungen (weitere Informationen zu den Beamtenprüfungen finden Sie im Modul Meritokratie) vorzubereiten. Diese Schulausbildung erreichte jedoch weniger als die Hälfte aller Jungen und Forscher*innen sind uneins darüber, wie hoch die Alphabetisierungsraten im spätkaiserzeitlichen China anzusetzen sind. 1904 reformierte die Qing-Regierung dieses Bildungssystem und führte ein neues Schulwesen nach japanisch-westlichem Vorbild ein: Neben den klassischen Werken wurden neue Fächer wie Mathematik, Sport und Naturwissenschaften eingeführt und ab 1907 wurden diese Schulen auch für Mädchen geöffnet. (Thøgersen/Henze 2003, 654-655)
Nach dem Sturz der Qing-Dynastie 1911 führte die Republik China eine Schulpflicht ein und erlaubte den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen. Doch die Ausbildung von Mädchen in den Grundschulen steig nur langsam an: 1922 besuchten nur knapp sechs Prozent der Mädchen eine Grundschule. (Pepper 1996, 76-78) Die Einführung einer Schulpflicht bedeutete für beide Geschlechter nicht, dass tatsächlich auch alle Kinder eine Schule besuchen konnten. Die Anzahl der Jugendlichen, die in China eine Grundschule besuchen konnten, nahm während der Republikzeit ab 1911 zu: 1933 besuchten im Durchschnitt 13 Prozent aller chinesischen Kinder (Mädchen eingeschlossen) eine Grundschule – zehnmal so viele wie noch 1907. Doch der Zugang zu grundlegender Bildung blieb ungerecht verteilt. Die (Grund)schulen wurden immer noch hauptsächlich auf lokaler Ebene finanziert und gute Schulen hingen daher stark vom Engagement lokaler Eliten ab. (Frölich 2017) Die Bildungschancen waren in städtischen und wirtschaftlich stärkeren Regionen daher deutlich besser. Während die wirtschaftlichen Eliten ihre Kinder auf nach westlichem Vorbild gestaltete Schulen schickten, blieb der Großteil der chinesischen Bevölkerung von diesen Entwicklungen abgehängt. (Pepper 1996, 79) Die Schulen auf dem Land blieben oftmals der kaiserzeitlichen Tradition verhaftet und unterrichteten weiterhin die alten Klassiker. Auch die rechtlichen Vorgaben und Rahmenbedingungen befanden sich in einem stetigen Wandel. (Thøgersen/Henze 2003, 654-655; Pepper 1996, 37-85)
Nach der Gründung der Volksrepublik China setzte sich dieser Trend auch unter Mao Zedong fort: Unter Mao stiegen die Alphabetisierungsraten. Zum Zeitpunkt seines Todes 1976 erhielten beinahe alle Chines*innen eines Jahrgangs eine Grundschulbildung. Diese hohen Zahlen wurden auch durch sogenannte Gemeindeschulen (minban xuexiao 民办学校 ) in ländlichen Regionen erreicht, deren Lehrkräfte nicht immer so gut ausgebildet und schlechter bezahlt als ihre Kolleg*innen in den Städten waren. Ohne sie hätte jedoch die Ausbreitung der Grundschulbildung in die Breite kaum erreicht werden können. (Thøgersen/Henze 2003, 655-656; Gao 2019; Pepper 1996, 278-287, 416-465)
Das aktuelle Bildungssystem der Volksrepublik China
Heutzutage ähnelt das chinesische Bildungssystem dem amerikanischen – denn dieses stand 1922 Pate für die Reform des chinesischen Bildungssystems. (Pepper 1996, 61f) Im Alter von sechs Jahren beginnen chinesische Kinder die Grundschule (xiaoxue 小学) zu besuchen. Nach sechs Jahren folgen an einer anderen Schule drei Jahre der „Unteren Mittelschule“ (chuzhong 初中). Nach dem erfolgreichen Bestehen einer Prüfung folgen drei Jahre „Obere Mittelschule“ (gaozhong 高中), die mit der Hochschulzugangsprüfung Gaokao 高考 enden. Das erfolgreiche Bestehen der Gaokao ermöglicht an einer Universität oder Hochschule zu studieren. Die meisten Chines*innen beginnen ihr Studium direkt nach der Gaokao mit 18 Jahren. Die Bachelorstudien (benke 本科) dauern meist vier Jahre. Wer danach einen ebenfalls vier Jahre dauernden Master (shuoshi 硕士 oder yanjiusheng 研究生) studieren will, muss ebenfalls meistens nochmals eine Prüfung ablegen. Neben diesem Hauptstrang des chinesischen Bildungssystems gibt es auch berufliche Schulen, die jedoch im Vergleich weniger nachgefragt werden. (Schulte 2014, 501-503)
Seit den 1980er-Jahren ist der Anteil der chinesischen Jugendlichen, die eine Schule des sekundären (Mittelschulen) oder tertiären Bildungsbereichs (Universitäten und Hochschulen) besuchen, enorm angestiegen. Während 1978, im Jahr nach der Wiederaufnahme der während der Kulturrevolution ausgesetzten Gaokao-Prüfungen, weniger als ein Prozent der chinesischen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 22 Jahren an eine Universität ging, taten dies vierzig Jahre später bereits knapp die Hälfte. Während unter Mao vor allem der familiäre Klassenhintergrund über den Zugang zu einer Universität entschied, setzte sich seit den 1980er-Jahren das Abschneiden in der Gaokao als entscheidender Faktor für ein Universitätsstudium durch.
Die Hochschulzugangsprüfung „Gaokao“
Die Sinologin Barbara Schulte, die zum chinesischen Bildungssystem forscht, beschreibt die Gaokao wie folgt: „Die gaokao 高考 prüft die Bereiche Sprache (Chinesisch), Mathematik, wahlweise Geistes- oder Naturwissenschaften und Fremdsprachen (zumeist Englisch, möglich sind aber auch Japanisch, Russisch, Französisch, Deutsch und Spanisch). Nach einem Punktesystem – in den meisten Provinzen können maximal 750 Punkte erlangt werden – entscheidet sich dann, ob und an welcher Universität das Studium aufgenommen werden darf. Einheimische Kandidaten müssen dabei für die gleiche Platzierung weniger Punkte erzielen, sodass beispielsweise Prüfungsteilnehmer mit Beijinger Wohnsitz eine größere Chance haben, an einer der großen Beijinger Universitäten aufgenommen zu werden.
Neben diesem Grundmodell existieren noch einige regionale Varianten der gaokao, etwa mit zusätzlichen Prüfungsbestandteilen oder weniger Wahlfreiheit. Auch beziehen einige Provinzen frühere Schulnoten mit in die Bewertung ein und kommen daher einer oft erhobenen Forderung von Kritikern nach, dass nicht auf Grundlage einer einzigen Prüfung über die Zukunft von Millionen von Heranwachsenden entschieden werden sollte.
Es gibt Möglichkeiten, das Prüfungssystem zumindest teilweise zu umgehen. 1984 wurde an zehn ausgewählten Universitäten das System der sogenannten delegierten Studenten (baosongsheng 保送生) eingeführt und anschließend auf weitere Universitäten ausgeweitet. Danach können Studienbewerber aufgrund bestimmter außerordentlicher Leistungen (zum Beispiel in Sport oder Mathematik) die Aufnahmeprüfung umgehen und direkt an einer Hochschule aufgenommen werden. In absoluten Zahlen machen diese Studenten zwar nur einen kleinen Anteil aus: 2012 waren es knapp 8600 Studenten bei insgesamt 6,8 Millionen neuen Studienplätzen. Jedoch ist dieser Typus Student überproportional an den Eliteuniversitäten vertreten: So stellen die delegierten Studenten über 15 Prozent der Studierenden an der Tsinghua Universität [und] 19 Prozent an der Peking Universität [den beiden besten Universitäten der Volksrepublik China].“ (Schulte 2014, 513-514) Auch der Besuch von - erst seit den 1990er-Jahren erlaubten - privaten Bildungseinrichtungen wie Mittelschulen, die auf einen internationalen Abschluss vorbereiten, oder privaten Hochschulen sind (teure) Möglichkeiten, die Gaokao zu umgehen. (Schulte 2014, 515)
In den deutschen Medien werden das chinesische Bildungssystem und die Gaokao vor allem mit hohem Leistungsdruck bereits in jungen Jahren und mit strenger Disziplin in Verbindung gebracht. (Deutsche Welle 2019) Auch chinesische Stimmen betonen diesen Erfolgsdruck, der vor allem daher rührt, dass das Abschneiden in der Gaokao als entscheidender Faktor für den Zugang zu einer guten Universität, damit später einem guten Beruf und somit insgesamt einer guten Zukunft gilt. (Lu 2019; Wang 2021) Darüber hinaus zeigen auch chinesische Filme wie die Coming of Age-Komödie „Young Style“ (qingchun pai 青春派) von 2013, wie chinesische Abiturientinnen von ihren Eltern und ihren Lehrer*innen für ein gutes Abschneiden in der Gaokao getriezt werden – besonders im letzten Jahr vor der Prüfung selbst, das nur zum Wiederholen und zur Prüfungsvorbereitung genutzt wird. (Liu 2013) In einer Umfrage 2016 gaben mehr als 87,5% der Befragten Schüler*innen an, dass sie während der Vorbereitung auf die Gaokao im Durchschnitt pro Tag weniger als sieben Stunden geschlafen haben. (Tengxun xinwen 2016) Während die Mehrzahl der Schüler*innen sich an diesen hohen Druck angepasst hat, führt er bei manchen auch zu psychologischen Problemen bis hin zu Selbstmorden. (Fu 2019; Heger 2018)
Chinesische Umfragen zeigen jedoch, dass immer weniger chinesische Schüler*innen der sprichwörtlich gewordenen Aussage „eine Prüfung entscheidet über das ganze Leben“ (yi kao ding zhongshen 一考定终身) zustimmen: Bei einer Umfrage des chinesischen Onlinenachrichtenportals Sina gaben 2018 mehr als die Hälfte der 20.000 Befragten Schüler*innen an, dass sie nicht daran glaubten, dass die Gaokao ihre einzige Chance auf eine gute Zukunft sei. Als Alternativen nennen die Befragten extra Prüfungen bekannter Universitäten, durch die man auch ohne Gaokao-Prüfung dort studieren kann, spezielle Prüfungen für Kunsthochschulen oder Sportler*innen sowie die Möglichkeit im Ausland zu studieren. (Zhuang 2018; Edu.sina 2018) Bereits in einer anderen Befragung durch die Internetfirma Tencent (Tengxun 腾讯) 2016 hatte sich gezeigt, dass die nach 1990 geborene Generation der Gaokao weniger Bedeutung beimisst als die Generation ihrer Eltern oder Großeltern. (Tengxun xinwen 2016)
In der selben Umfrage 2016 antworte mehr als die Hälfte der 43.000 Befragten auf die Frage, was der größte Sinn der Gaokao sei, dass sie allen Chines*innen eine „relativ gerechte Chance [auf Bildung]“ (xiangdui gongping de jihui 相对公平的机会) gibt. (Tengxun xinwen 2016) Dieses Argument wird auch von staatlichen chinesischen Medien, die sich an ausländische Leser*innen richten, gerne gemacht. [China Daily 2020] Je geringer das Einkommen der Befragten, desto größer ist die Zustimmung zur Aussage, die Gaokao sei gerecht und biete Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs durch Bildung. (Tengxun xinwen 2016) Tatsächlich machen es Sicherheitsmaßnahmen wie Metaldetektoren, Fingerabdruck- und Gesichtsscanner sowie Geräte, die Handysignale blockieren, schwierig bis unmöglich in der Gaokao-Prüfung selbst zu schummeln. (Huang 2017) Gleichzeitig findet mehr als die Hälfte der in der Tencent-Umfrage 2016 Befragten, dass die Gaokao-Prüfung in ihrer Provinz ungerecht sei: Als besonders ungerecht empfinden sie, dass die benötigte Punkteanzahl, um eine gute Universität zu besuchen, in jeder Provinz unterschiedlich hoch liegt und die Prüfungsaufgaben von Provinz zu Provinz unterschiedlich schwierig sind. (Tengxun xinwen 2016) Neben der Frage der unterschiedlichen Punktezahlanforderungen in verschiedenen Provinzen wird auch das System der delegierten Studenten (baosongsheng 保送生) in China immer wieder kritisch diskutiert. Fälle von Kindern einflussreicher Personen, die durch dieses System als delegierte Studenten ohne Gaokao an bekannte Universitäten gelangen konnten, haben in den 2000er-Jahren Entrüstung hervorgerufen. Daher wurde diese Praxis nach 2014 etwas eingeschränkt. (Schulte 2014, 515)
Ungleichheiten im Bildungssystem der Volksrepublik China
Tatsächlich kann das chinesische Bildungssystem, den in der Gaokao symbolisierten meritokratischen Anspruch, dass nur Leistung zähle, nicht einlösen. (Liu 2013) Denn Erfolg in der Gaokao hängt statistisch gesehen vor allem mit soziodemographischen Faktoren wie dem Bildungsstand der Eltern, dem Wohnort und der finanziellen Situation der Familie zusammen.
- Erstens liegen die guten Schulen in China - wie in vielen anderen Ländern auch – in den teuren Wohngegenden. Oftmals ist der Zugang zu einer guten Mittelschule daher nur durch den Umzug in eine teurere Wohnung oder anderweitige Zahlungen an die Schule möglich.
- Zweitens ist der Besuch von privaten Nachhilfeschulen notwendig, um in der Gaokao und anderen Prüfungen gute Noten zu erreichen. (Schulte 2014, 520f) Chinas Nachhilfemarkt hat daher mittlerweile ein enormes Volumen erreicht – Schätzungen gehen für das Jahr 2018 von Einnahmen des Nachhilfesektors zwischen umgerechnet 203 Milliarden Euro (mehr als das BIP von Griechenland) und 340 Milliarden Euro (knapp unter dem BIP von Irland). (Chan 2019) Im Juli 2021 griff die Zentralregierung in Beijing hart durch und schränkte gewinnorientierten Nachhilfeunterricht weitestgehend ein. Aus offizieller Sicht soll so der Druck auf Kinder, Jugendliche und deren Eltern verringert werden. (Chang 2021; Ni 2021; Wang 2021)
- Drittens spielt in China (wie auch in Deutschland) das kulturelle Kapital der Eltern eine wichtige Rolle: Museumsbesichtigungen, Theaterbesuche oder eine große Anzahl von Büchern daheim können sich vor allem Familien der städtischen Mittelschicht leisten. (Li 2017)
Auf dem Land hingegen sieht der Zugang zu Bildung ungleich schlechter aus. Für einen Umzug in die größten und wichtigsten chinesischen Städte braucht es einen städtischen Wohnsitz (hukou 户口). Viele Kinder sogenannter Wanderarbeiter (nongmingong 农民工), die in den Städten arbeiten jedoch dort keinen Wohnsitz haben, haben daher kaum Möglichkeiten in Städten eine Schule zu besuchen. Eine Vielzahl dieser Kinder bleibt daher bei Verwandten auf dem Land zurück und besucht oftmals dort auch nicht die örtlichen Schulen. (Schulte 2014, 522-525) Während im Durchschnitt alle Kinder mit einem städtischen Wohnsitz eine weiterführende Schule besuchen, schaffen dies 13-20% der Kinder zwischen 15 und 17 Jahren mit ländlichem Wohnsitz nicht. (Bai 2019, 889f) Studien fanden ebenfalls heraus, dass mehr als die Hälfte der Schüler*innen auf dem Land einen IQ von unter 90 hat. (Normile 2017)
Diese Schere zwischen Stadt und Land ist auch darauf zurückzuführen, dass die Gesundheit ländlicher Kinder bereits seit den Jahren kurz nach der Geburt leidet: Die Mehrheit der Kinder auf dem Land leidet unter kognitiven, sozialen oder sprachlichen Entwicklungsverzögerungen. Die oft schlechte finanzielle Lage auf dem Land führt zu Mangelernährung, die wiederum zu Blutarmut führen und dadurch indirekt den Lernprozess beeinträchtigen kann. Auch für Krankheiten wie Darmwürmer sind diese Kinder extrem anfällig. Ein weiteres großes Problem ist Kurzsichtigkeit: Viele kurzsichtigen Schüler*innen können sich keine Brille leisten. (Bai 2019, 891-895; Normile 2017)
Nachrichten über das gute Abschneiden chinesischer Schüler*innen in den PISA-Studien und damit einhergehende Ängste vor uneinholbaren Wettbewerbsvorteilen des chinesischen Bildungssystem blenden diese Ungleichheit zwischen Stadt und Land in China jedoch aus. Denn die chinesischen PISA-Ergebnisse sind keineswegs auf ganz China übertragbar: Durchgeführt wurden die Tests nur in den „Bildungsmetropolen“ Shanghai 上海und Beijing 北京 sowie den wirtschaftlich starken Provinzen Zhejiang 浙江und Jiangsu 江苏. (Schulte 2014, 499) Offiziell gilt seit 1986 in der Volksrepublik China eine neun-jährige Schulpflicht: Während in den wirtschaftlich starken, urbanisierten Regionen des Landes auch fast alle Kinder eines Jahrgangs eine weiterführende Schule besuchen, sieht die Realität für einen Großteil der Kinder auf dem Land anders aus, denn viele schaffen dort keinen Abschluss. Es ist daher unmöglich, statistische Gesamtaussagen für das chinesische Bildungssystem zu machen. Die Daten oben zum Anteil der 18-22 Jährigen in China, die an einer Universität oder Hochschule studieren, sind Durchschnittsdaten. In den großen Metropolen und wirtschaftlich starken Provinzen im Osten Chinas dürfte der Anteil noch deutlich höher liegen. Gleichzeitig dürfte der Anteil im „unsichtbaren China“ (Rozelle/Hell 2020) – also den ländlichen Regionen – deutlich niedriger liegen.
Jonas Schmid, 24.02.2021, überarbeitet am 14.11.2021
Verwendete Literatur
Dieser wissenschaftliche Artikel erklärt die Ursachen eines großen Problems im chinesischen Bildungssystem: Im Vergleich mit anderen OECD-Ländern haben die chinesischen Arbeitskräfte ein geringes Niveau. Trotz enormer Investitionen in das Bildungssystem bleibt das Bildungsniveau vor allem unter der ländlichen Bevölkerung schlecht. Die Autor*innen nennen drei wesentliche Probleme: Die niedrige Anzahl von Schulabschlüssen im ländlichen China, die schlechte Qualität des Unterrichts von Schulen in ländlichen Gegenden und der Einfluss von Krankheiten während der frühen Kindheit auf die spätere Lernfähigkeit (u.a. Sehvermögen, Mangelernährung und durch hygienische Missstände herbeigeführte Krankheiten).
Wissenschaftliche Studie, die auf Befragungen von chinesischen Studierende an den zwei berühmtesten Elite-Universitäten der Volksrepublik China zwischen 2005 und 2007 basiert. Die Studie untersucht die Identität chinesischer Studierender und arbeitet insbesondere den Konflikt zwischen Erwartungen von Elternseite und staatlicher Seite und den Wünschen nach Selbstverwirklichung nach.
Zeitungsartikel der Hong Konger South China Morning Post von 2019 über den Boom von Nachhilfeschulen in der Volksrepublik China.
Wie bewerten chinesischer Schüler*innen die Hochschulzugangsprüfung (Gaokao)? Diese von der unter Kontrolle der Kommunistischen Partei stehenden englischsprachigen Tageszeitung China Daily zusammengetragenen Antworten geben vor allem ein positives Bild: Die Gaokao als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.
Kurze Videoreportage der Deutschen Welle, die den Stress unter dem chinesische Schulkinder wegen des Leistungsdruck stehen betont.
Der US-Amerikaner Zak Dychtwald hat mehrere Jahre in der Volksrepublik China verbracht und einen Think Tank, die Young China Group, gegründet. Ausgehend von persönlichen Begegnungen gibt er lebhaft geschriebene Einblicke in den Alltag von jungen Erwachsenen in der Volksrepublik China. Er geht dabei auf Themen wie das Bildungssystem, Familien, den Wohnungs- und Heiratsmarkt, Sexualität, Homosexualität, Konsum, Reisen und die Kommunistische Partei ein.
Ergebnisse einer Umfrage unter 20.000 chinesischen Schüler*innen zu deren Sichtweisen auf die Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) und ihre Bedeutung. Durchgeführt wurde die Umfrage von der Plattform Sina, einem der größten privaten chinesischen Internetunternehmen, das neben einem Microbloggingdienst (Weibo) auch Medienseiten umfasst.
Ausgehend von Archivalien und Primärquellen untersucht der Autor wie im letzten Jahrzehnt der Qing-Dynastie (1900-1911) in drei Städten in Südchina Bildungsreformen durchgeführt wurden. Der Autor untersucht vor allem, wie und ob die Vorgaben der Zentralregierung auf lokaler Ebene umgesetzt wurden und zeigt, dass dies aufgrund des Geldmangels immer auch von der Mitarbeit der lokalen Eliten abhing.
Bericht über chinesische Vereine, die Schüler*innen, die mit dem Druck der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) mental nicht zurechtkommen, helfen wollen. Der Artikel geht auch auf die Suizidgefahr ein. Sixth Tone ist ein englisch-sprachiges Online-Magazin, das von der Shanghaier Lokalregierung kontrolliert wird und sich an Leser*innen im Ausland richtet.
Kurzer auf einer Dissertation basierender Aufsatz, der die Entwicklung des chinesischen Bildungssystems im 20. Jahrhundert nachzeichnet und auch untersucht, wer in der chinesischen Bevölkerung tatsächlich Zugang zu Bildung hatte.
Journalistisches Werk einer Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die 2005 Schulklassen in der Volksrepublik China besuchte. Im Buch selbst vermischen sich Beobachtungen über das chinesische Bildungssystem mit autobiographischen Episoden.
Untersucht ausgehend von 19 Interviews mit chinesischen Studierenden an einer Universität in Shanghai, wie chinesische Jugendliche mit dem Leistungsdruck der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) umgehen. Die Autorin argumentiert, dass die Studierenden die Situation nicht hinterfragen und zu verändern suchen, sondern Strategien (u.a. auf der Ebene der Emotionen) entwickeln und ihre Situation dadurch ins Positive zu wenden versuchen. Fraglich ist, wie repräsentativ diese These bei einer Befragung von 19 Personen sein kann.
Journalistischer Artikel, der einen Überblick über die technischen Maßnahmen in der Volksrepublik China gibt, um Betrug bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) zu verhindern.
Dissertation an der Universität Hong Kong, die Ungerechtigkeiten für Schüler*innen aus ländlichen Regionen bei der Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) in den Blick nimmt. Die Autorin hat zwischen 2013 und 2014 neun Schüler*innen aus der chinesischen Provinz Henan begleitet. Sie argumentiert, dass Schüler*innen aus ländlichen Regionen in der Gaokao diskriminiert werden, da ihre Eltern wenig soziales und kulturelles Kapitel (z.B. Bücher daheim oder Museumsbesuche) besitzen, dass in der Prüfung einen Vorteil verschafft.
Wissenschaftlicher Aufsatz, der die Frage untersucht, inwiefern die Hochschulzugangsprüfung (Gaokao) in der Volksrepublik China meritokratisch (Auswahl der Besten unabhängig von der sozialen Herkunft) ist. Die Autorin argumentiert ausgehend von einer Umfrage unter 960 Bachelorstudierenden in den Provinzen Anhui und Zhejiang 2007, dass Erfolg in der Gaokao wenig mit dem Beruf der Eltern, aber stark mit dem Bildungsstand der Eltern und dem Wohnort zusammenhängt: Für Schüler*innen aus ländlichen Gegenden ist die Wahrscheinlichkeit in der Gaokao erfolgreich zu sein, deutlich geringer als für städtische Schüler*innen.
Chinesische Coming-of-Age Komödie. Hauptfigur ist ein Schüler, der aus Liebeskummer in der Hochschulzugangsprüfung durchfällt und das letzte Schuljahr nochmals wiederholen muss. Online kostenlos anzuschauen unter: https://www.youtube.com/watch?v=Mh5-ZAAezUQ
Zeitungsartikel einer Chinesin zum Leistungsdruck auf chinesische Schüler*innen.
Interview mit Amber Jiang über ihren chinesischen Bestseller "Getting Ashore" (shang an 上岸), in dem sie ihre eigenen Erfahrungen als Mutter beschreibt, die versucht ihren Sohn an eine renommierte chinesische Mittelschule zu bringen. Das Interview macht den Druck auf die Schüler*innen, aber gleichzeitig auch auf die Eltern deutlich – viele Mütter wie Amber Jiang kündigen sogar ihren Job, um ihr Kind besser auf die Schulprüfungen vorzubereiten. Sixth Tone ist ein englisch-sprachiges Online-Magazin, das zu einem von der Shanghaier Lokalregierung kontrollierten Medienkonzern gehört und sich an ausländische Leser*innen richtet.
Journalistischer Bericht über die Forschungen des renommierten amerikanischen Sinologen und Bildungsforschers Scott Rozelle, der sich vor allem mit den Problemen von Schüler*innen in ländlichen Regionen Chinas beschäftigt.
Standardwerk zum chinesischen Schulsystem und der chinesischen Bildungspolitik im 20. Jahrhundert. Die Autorin zeichnet darin sehr genau die Entwicklungen von den letzten Jahren der Qing-Dynastie bis in die Zeit nach dem Tode Mao Zedongs nach.
Wissenschaftlicher Aufsatz zum Quotensystem in der Volksrepublik China, das den Zugang zu Universitäten regelt. Die Forscher*innen stellen fest, dass durch die Quotenregelung Gaokao-Absolvent*innen aus den Städten Beijing, Shanghai und Tianjin deutlich größere Chancen haben, an einer bekannten Universität angenommen zu werden, als die Schüler*innen in anderen Teilen Chinas.
Wirft den Blick auf die ländlichen Regionen Chinas ("das unsichtbare China"), in dem es im Vergleich mit den wirtschaftlich entwickelten Regionen Chinas hohe Ungleichheiten und eine Großzahl ungelöster sozialer Probleme gibt. Gut lesbares Werk eines renommierten Wissenschaftlers und China-Experten in Zusammenarbeit mit einer Journalistin, das Chinas aktuelle Probleme insbesondere im Bildungsbereich erläutert.
Guter und knapper Überblick über das Bildungssystem in der Volksrepublik China, die historische Entwicklung, aktuelle Debatten und Entwicklungen (z.B. Ungerechtigkeiten im Bildungssystem und neue Lerninhalte).
Der knappe Artikel ist eine gute Ergänzung zum ausführlicheren Artikel von Schulte 2014, der einen Einblick in die aktuellen Entwicklungen bis Anfang 2022 gibt. Die Autorin, Professorin an der Universität Wien, forscht zu Schule in China.
Lexikoneintrag, der einen sehr knappen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens in China im 20. Jahrhundert gibt.
Zeitungsbericht der Hong Konger South China Morning Post zur 2019 von Sina Edu durchgeführten Umfrage unter chinesischen Schüler*innen zu deren Meinung über die Hochschulzugangsprüfung (Gaokao).
Chinesischer Report aus dem Jahr 2020 mit statistischen Daten zur Entwicklung des Bildungswesens in der Volksrepublik China.
2016 von der bekannten chinesischen Internetplattform Tencent durchgeführte Umfrage unter 43.000 Schüler*innen und Eltern zu deren Einstellungen zur Hochschulzugangsprüfung (Gaokao).
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-6-2]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Lage von Beijing und Madrid
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-7]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: EU – USA – China: Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/mlupe-m2-8]
Weiterführende Informationen
Einzelmaterial: Geschlechterverteilung in Parlamenten
Zur Einsicht detaillierter Quellenangaben sowie weiterführender Informationen und Literaturhinweise zum Material besuchen Sie bitte die Plattform ChinaPerspektiven. [https://www.china-schul-akademie.de/materialien/frauenanteil]